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Politischen Stürmen trotzen: Fahnen vor dem Berlaymont-Gebäude in Brüssel, dem Sitz der Europäischen Kommission.

© picture alliance / Winfried Roth

Interview mit Christian Calliess: Die Europäische Union in der Polykrise

Christian Calliess, Professor für Europarecht an der Freien Universität, über den Brexit und den Zustand der EU.

Finanzkrise, ungeregelte Zuwanderung, Sicherheitskrise, Erosion gemeinsamer Werte, Brexit – das Erfolgsmodell Europa wurde in den vergangen Jahren und wird immer wieder vor schwere Prüfungen gestellt. Wie steht es kurz vor der Europawahl um den europäischen Staatenbund? Der Europarechtler Christian Calliess, von 2015 bis 2018 Rechtsberater des Strategieteams des Kommissionspräsidenten, plädiert für eine flexiblere Gestaltung der Union, für „Pioniergruppen“, die Entwicklungen vorantreiben, sowie für eine neue Arbeitsmethode der EU nach dem Motto „weniger, aber effizienter“.

Herr Professor Calliess, war es richtig, den Briten für den EU-Austritt einen Aufschub bis maximal 31. Oktober zu gewähren?

Was wäre die Alternative gewesen? Es wäre sonst zu einem Austritt ohne Vertrag gekommen. Die Folgen eines sogenannten harten Brexit wären möglicherweise mit derartigen Schwierigkeiten für beide Seiten verbunden, dass dieser Schritt sinnvoll erscheint.

Die Lage scheint heillos verworren. Welche Szenarien sind jetzt denkbar?

Es bleibt die Frage, wie man eine Schließung der Grenze zwischen dem britischen Nordirland und der Republik Irland verhindern will. Da sehe ich eigentlich nur zwei Möglichkeiten. Naheliegend wäre, die Briten ratifizierten das Austrittsabkommen, das einen zeitweiligen Verbleib Nordirlands in der europäischen Zollunion vorsieht, den Backstop. Ich denke, das Austrittsabkommen ist für beide Seiten fair. Eine weitere Möglichkeit wäre – und die halte ich für die bessere –, dass die Briten sich neu besinnen und auch für sich einen dauerhaften Verbleib in der Zollunion akzeptieren. Denn das ist die einzige Option für die Lösung der Nordirland-Frage.

Der Brexit ist nicht das einzige Thema, mit dem die Europäische Union in den vergangenen Jahren zu kämpfen hatte.

Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat schon vor mehreren Jahren festgestellt, dass sich die EU in einer Polykrise befindet. Erstens ist die Krise im Euroraum noch nicht gänzlich überwunden. Zweitens erleben wir eine Krise im Schengenraum, die zum einen eine Migrationskrise ist, zum anderen eine durch die Terroranschläge von Paris, Brüssel und Berlin offenbar gewordene Sicherheitskrise. Schließlich beobachten wir eine zunehmende Erosion des gemeinsamen Wertefundaments. Einige Mitgliedsstaaten kümmern sich hierbei nicht einmal mehr um die Einhaltung selbst elementarer Grundregeln. In den vergangenen Jahren hat sich gezeigt, dass die mit dem Vertrag von Maastricht im Jahr 1992 angestoßenen Integrationsschritte zu Schönwetterräumen geführt haben, die auf stürmische Zeiten nicht hinreichend vorbereitet waren. Man hat einfach darauf vertraut, dass alles nach Plan läuft.

Und nun, da es anders kommt, ist man in Brüssel nicht handlungsfähig?

Die Europäische Kommission hat mit dem sogenannten Weißbuch zur Zukunft Europas Optionen und Reformvorschläge auf den Tisch gelegt. Entscheidend sind aber die Mitgliedsstaaten, und die haben darüber keinen Konsens gefunden. Die europäischen Institutionen haben nicht die Kompetenzen, die sie brauchen, um die Krisen zu bewältigen. Es besteht eine Kluft zwischen gesetzgeberischer Tätigkeit und – wenn überhaupt – schwachen Möglichkeiten, die Regeln durchzusetzen. Wenn Mitgliedstaaten nicht in der Lage sind oder aus politischen Gründen nicht willens, das Unionsrecht um- oder durchzusetzen, dann fehlt den europäischen Institutionen die Handhabe. So werden immer wieder die hohen Erwartungen enttäuscht, die die europäische Idee weckt.

Welche Schritte sind aus Ihrer Sicht nötig?

Die Europäische Union braucht Glaubwürdigkeit durch Funktionsfähigkeit. Dafür muss sie in großen Dingen groß und in kleinen Dingen klein sein. Man spricht immer wieder von einer „Eurokratie“ – dabei arbeiten in den europäischen Institutionen nur rund 50 000 Beamte, die für 510 Millionen Unionsbürger zuständig sind. Man muss sich also genau überlegen, wofür man die Leute einsetzt. Zuständigkeiten in weniger wichtigen Politikfeldern müssen reduziert oder ganz aufgegeben werden. Im Gegenzug brauchen die europäischen Institutionen mehr Kompetenzen gerade da, wo es um die großen Themen geht, die die Staaten nicht alleine lösen können. Priorität müssen meiner Meinung nach die Gestaltung des digitalen Binnenmarktes samt Klima- und Handelspolitik haben. Hinzu kommen die Sicherung der Stabilität des Euro durch eine enger mit der Geldpolitik verzahnte Wirtschafts- und Fiskalpolitik sowie ein nachhaltiges Grenzmanagement. Wichtig ist auch die Entwicklung einer echten europäischen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik.

Was, wenn nicht alle Mitgliedsstaaten hier an einem Strang ziehen?

Wenn aus der Heterogenität der Mitgliedstaaten so unterschiedliche Interessen resultieren, dass kein Konsens über notwendige Reformschritte mehr zu erreichen ist, dann müssen wir die Architektur der Europäischen Union flexibler und dynamischer gestalten. Nur so lassen sich Stagnation und Desintegration verhindern. Einzelne Staaten könnten sich in „Koalitionen der Willigen“ zusammenschließen. Das wären Pioniergruppen, die Initiative ergreifen und mit gutem Beispiel vorangehen. So könnten sie zeigen, dass vertiefte Integration attraktiv ist, und dadurch nach und nach weitere Mitgliedsstaaten motivieren, sich anzuschließen.

Gleichzeitig muss die Europäische Union die Einhaltung elementarer Grundregeln überwachen können. Wie sollte man mit Staaten verfahren, deren Regierungen rechtsstaatliche Prinzipien zunehmend offen in Frage stellen?

Die Europäische Union kann im sogenannten Artikel-7-Verfahren Mitgliedsstaaten sanktionieren, die die freiheitlichen Werte der Union verletzen; mögliche Schritte reichen von finanziellen Sanktionen bis hin zum Stimmrechtsentzug. Dafür bedarf es aber eines politischen Konsenses. Das heißt, ein Staat, der beispielsweise von Sanktionen bedroht ist, braucht nur einen einzigen Verbündeten – schon ist das Verfahren blockiert. Deswegen wäre parallel auch die Möglichkeit für ein rechtliches Verfahren am Europäischen Gerichtshof in Luxemburg erforderlich. Die Einhaltung von Verfassungsprinzipien wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit kann man gerichtlich prüfen, und diese Möglichkeit sollte genutzt werden.

Dennis Yücel

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