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„Ich vergrub meine Pistole“/„Frau Leit hat sich erhängt“: Zeugnisse aus den letzten Stunden des Zweiten Weltkriegs

Tagebücher erzählen von dem, was Geschichtsbücher oft vernachlässigen: dem Denken, Fühlen und Leiden der betroffenen Menschen. Fünf Zeitdokumente.

Am 28. 10. 1944 schreibt der Luftwaffenhelfer Dieter Rossow in seinem Tagebuch von einem „recht ordentlichen“ Knall. „Ein wirklich herrlich anzusehender Bombenpilz stand etwa 500 Meter vor unserer Stellung.“ Ein in den Augen des Berliner Soldaten sensationelles Erlebnis, für das er sich in jugendlicher Abenteuerlust begeistern konnte.

Dagegen überwiegt laut Tagebuch in der Treptower Flakstellung der Stumpfsinn des Kommiss-Alltags, bestimmt durch Ausbildung und Einsatz am Funkmessgerät, Wacheschieben, Stubenreinigung, mit „Anschissen“ durch die Vorgesetzten, nicht zu vergessen die ebenso regelmäßigen Bemühungen, „Urlaub“ zu ergattern.

Aber Rossow ist kein altgedienter Landser, sondern ein 16-jähriger Schüler des heutigen Friedrich-Ebert-Gymnasiums in Wilmersdorf, der nebenbei Klassenarbeiten schreiben muss. Im Herbst 1944 eingezogen und eingesetzt im Bereich Baumschulenweg in Treptow. Den es immer wieder nach Hause, aber ebenso schnell wieder wegzieht, der mit seinen (Schul-)Kameraden in der dienstfreien Zeit gerne mal „hottet“, von „flotten Weisen“ sowie „50 neuen englischen Platten“ schwärmt und den Arbeitsdienst fürs Kino sausen lässt. Vergeblich, wenn der Film als nicht jugendfrei gilt.

Aufzeichnungen wie diese, in denen Menschen in den letzten Monaten und Wochen des „Dritten Reichs“ Trost, Vergewisserung ihrer selbst, vielleicht auch Ermutigung suchten, geben einen besonderen, oft intimen Einblick in ihr Innerstes. Rossows Tagebuch reicht vom 13. Oktober bis 24. November 1944, bricht mitten im Satz ab – möglicherweise wegen einer überhasteten Verlegung der Einheit.

[Kriegsende in Berlin 1945: Erinnerungen aus den Berliner Bezirken finden Sie in unseren Leute-Newslettern, die Sie hier kostenlos bestellen können: leute.tagesspiegel.de]

Der erste Fliegeralarm

Seinen ersten Fliegeralarm erlebte er am 23. Oktober 1944 gegen 24 Uhr. Er verlief nicht allzu dramatisch: „Alles macht sich langsam, ganz langsam fertig. Nur nicht die Ruhe verlieren. Alarmstufe 1! Immerhin wurde es Zeit, dass sich alles am Gerät einfand.“ Doch dann – „oh Schreck“ – war dessen Stromzufuhr defekt, und als das Funkmessgerät der Flakbatterie nach 20 Minuten endlich repariert war, flog der Bomberverband bereits über der Stadt, außerhalb der Reichweite. „Nach einer Stunde kam Entwarnung. Wir verließen ,aufatmend‘ unseren Gefechtsstand“, notierte Rossow im Tagebuch.

Dieter Rossow wurde 17 Jahre alt.
Dieter Rossow wurde 17 Jahre alt.

© privat

Rossow sollte den Krieg nicht überleben: Am 29. April 1945 wurde er am Fehrbelliner Platz getötet, wenige Hundert Meter von der Wohnung seiner Eltern entfernt – drei Tage nach dem 17. Geburtstag, drei Tage vor Ende der Kämpfe in Berlin.

Sein Tagebuch war mit weiteren Erinnerungsstücken vom Zwillingsbruder aufbewahrt worden und gelangte nach dessen Tod Anfang 2019 in den Besitz seines Neffen Michael Kennert. Die Gedanken und Gefühle seines Onkels, den er selbst, 1946 geboren, nicht mehr kennengelernt hatte, berührten den ehemaligen Pfarrer tief – bei der Lektüre der 109 Seiten ist das leicht nachzuvollziehen.

[Niemals vergessen! Wo Berlin der Opfer des Nationalsozialismus gedenkt, mit Stolpersteinen und kleineren Gedenkorten in Kiezen und Ortsteilen, können Sie hier auf einer interaktiven Karte sehen: tagesspiegel.de]

Viele Flakhelfer waren schweren Bombenangriffen ausgesetzt, wurden verwundet oder getötet. Doch viel ist von diesem Schrecken in Rossows kurzem Tagebuch nicht zu lesen. Für Rossows Generation bedeutete „lässig“ das höchste Lob. „Zigaretten, drei Mädchen, Musik. Was wollte ich mehr?“

"... und du bist nicht hier"

Eine spielte eine besondere Rolle: Edith, der auch das Tagebuch gewidmet ist. Die erste große Liebe, mit allem Überschwang, aller Unsicherheit, allen Zweifeln, von denen sie geprägt ist. „Zum ersten Mal im Leben habe ich Verlangen nach einem Mädel und Du bist nicht hier“, schrieb er ihr am 2. April 1945. „Wer weiß, ob ich in ein paar Monaten überhaupt noch sein werde!“

Sicher beeinflusst das Wissen um das traurige Ende eines sich gerade erst seiner Individualität bewusst werdenden Tagebuchschreibers die Wirkung der Lektüre auf uns Nachgeborene. Manchmal sind es lapidar bilanzierende Eintragungen im Kalender eines anonym gebliebenen Menschen, die berühren. „Wini von V. J. erschossen“ oder „Frau Leit hat sich erhängt“ – welche Schicksale verbergen sich wohl hinter diesen kurzen Notizen?

Ein Tagebuch ist auf Papier überlieferte "Oral History"

Über den Ablauf des mörderischen Krieges, das Taktieren der Befehlshaber, das Vor und Zurück des Frontverlaufs geben solche Aufzeichnungen in der Regel kaum Auskunft, wohl aber über das Denken, Fühlen, Leiden der davon Betroffenen. So vermögen sie die Schrecken des Krieges vielleicht eindringlicher zu schildern und, soweit das nachträglich überhaupt möglich ist, erfahrbarer zu machen als ein wissenschaftlich fundiertes Geschichtswerk.

Ein Tagebuch, das ist auf Papier überlieferte „Oral History“, mit aller Begrenztheit und Weitsicht, die den Menschen, die das Geschehen miterlebt haben, möglich war. Mit ihm wird ein winziges, nicht identifizierbares Element in einer Statistik, etwa der im Kampf um Berlin zu Tode Gekommenen, wieder zu einem Menschen, der gelebt, geliebt, gelitten hat.

„Alle zehn Jahre ein großer Mann. Wer bezahlte die Spesen?“, schrieb Bertolt Brecht in seinen die klassische Geschichtsschreibung kritisierenden „Fragen eines lesenden Arbeiters“. In Tagebüchern kommen auch jene zu Wort, die die Spesen bezahlt haben.

"Daran darf ich gar nicht denken"

Am 23. 10. um 3 Uhr nachts

Man sieht erst den vollen Wert des Zusammenseins, wenn man nicht mehr zusammen sein kann! Und so ist es gut für mich, daß ich zur Flak gegangen bin. Ich werde Edith alle 1 – 2 Wochen für höchstens 1 Stunde sehen und werde mich jedes einzige Mal rasend auf diese kurze Zeit freuen.

Bald kommen wir nun auch weg. Was dann? Na dann geht das Geschreibe wieder los. Wenn sie nur alle Woche mal für mich ein paar nette Worte hat, kann gar nichts passieren. Was aber, wenn sie mich aus irgendwelchen Gründen vernachlässigen sollte?! Daran darf ich gar nicht denken! ---- Aber was soll denn das? Wie komme ich denn darauf, an Edith zu zweifeln? Hat sie mir jemals wieder Anlaß dazu gegeben?! Nein. Ich stelle leider fest: Ich bin über Buddha noch nicht weg – werde ich es jemals sein?

Angefangen am 28. 10., 13 Uhr, zu Ende geschrieben am 29. 10. um 22 Uhr

Dann stand für Minuten der ganze Himmel voller Leuchtkaskaden, sogenannten Tannenbäumen. Plötzlich aber, wir hatten am Gebrumm schon gehört, daß sie direkt über uns sein mußten, fing es leise an zu pfeifen, wurde immer lauter und lauter und --- wir steckten die Köpfe recht tief hinter den Wall.

Ein recht ordentlicher Knall beendete das unangenehme Gepfeife. Und da waren wir auch schon aus unserer Deckung raus. Ein wirklich herrlich anzusehender Bombenpilz stand etwa 500 mtr. vor unserer Stellung. Nach 2 Minuten war alles wieder vorbei. --- Um ½ 2 Uhr kam Entwarnung. Alles stürzte sich mit affenartiger Geschwindigkeit in die Fallen und der nächtliche Spuk hatte ein jähes Ende. Um ½ 7 Uhr mußte ich blöderweise aufstehen, denn ich sollte um 8 Uhr auf der BB sein. Dort erledigte ich unsere Ausweisangelegenheit. Und dann kam die große freudige Überraschung. Wir dürfen doch Sonnabend – Sonntag auf Urlaub! Meine Stimmung war unheimlich.

- Aus dem Tagebuch von Dieter Rossow

"Die Aussichten sind großartig"

5. 5. Heute habe ich Fr St nicht zum Chirurgen begleiten können, habe im Bett bleiben müssen.

6. 5. Sonntag. Habe heute festgestellt, daß auch Fr Gössel vollständig ausgebrannt ist. Der Tag ist ruhig bei vieler Arbeit dahingegangen.

7. 5. Es sieht bei uns wirklich ganz trostlos aus: Fr St und Liesl wirklich sehr krank, Bärbel auch nicht ganz auf der Höhe, ich bin auch noch nicht soweit, daß ich Fr St zum Arzt begleiten kann: Jetzt sind wir völlig auf unsere Mitmenschen im Hause angewiesen, und die sind wirklich einzigartig in ihrer Teilnahme und Hilfeleistung.

8. 5. Fensterschäden repariert. Fr Gössel ist heute zu uns gezogen. Lebensmittel werden immer knapper. Fett gibt es für die Erwachsenen überhaupt nicht und für Bärbel keine Milch. Die Aussichten sind großartig.

9. 5. Heute haben wir festgestellt, daß unsere Sachen, die im Keller gelagert waren, auch gehörig bestohlen worden sind, mir fehlt mindestens ein Anzug. Ich nehme an, daß Deutsche ihre Hände im Spiel hatten. Auf einem Wege nach u von der Mühlenstr haben wir ganze Wagenreihen von Rußen gesehen, beladen mit Schlafeinrichtungen, Bettgestellen, Matratzen usw. Um ½ 9 abends plötzliches heftiges Flakschießen, aber bald wieder Ruhe. Eine halbe Stunde später setzte das Feuer wieder ein und es hat dann sehr lange angehalten, es hat sich aber kein Mensch dadurch stören laßen.

- Ernst Bohn (1871–1945) war Lehrer und erlebte die letzten Monate des Zweiten Weltkrieges in Kreuzberg.

"Frau Leit hat sich erhängt"

Merkbuch einer anonymen Arzthelferin aus Berlin. Nach dem 26. März 1945 häufen sich Eintragungen wie „Alarm“, „Keller“.
Merkbuch einer anonymen Arzthelferin aus Berlin. Nach dem 26. März 1945 häufen sich Eintragungen wie „Alarm“, „Keller“.

© Deutsche Tagebucharchiv Emmendingen

13. 5. Wini von V. J. erschossen 14. 5. Nur noch im Keller 15. 5. Jagd auf Nazis 16. 5. Auch ich wurde kontrolliert 17. 5. Joseph von den Russen mitg. 18. 5. Frau Leit hat sich erhängt 24.5. Wohnung total verwüstet 25. 5. Mir tut alles sehr leid

Das winzige Merkbuch stammt von einer anonymen Arzthelferin aus Berlin. Bis zum 26. März 1945 behandeln ihre Notizen vor allem Alltägliches: „Markt“, „Schuhe repariert“, „Wohnung aufgeräumt“ … Danach häufen sich Eintragungen wie: „Alarm“, „Keller“, „Der Russe steht vor Berlin“.

"Ich hatte nur ein Bedürfnis"

3. 5. 45

In der Nacht zum 3. 5. marschierten wir weiter in Richtung Etzin. Es hatte sich wieder eine unabsehbare Wagenkolonne angesammelt. Alle nur mit einem Ziel – raus aus dem Kessel. Aber überall wo wir hinkamen, dasselbe Lied. Der Feind uns immer auf den Fersen. Glücklicherweise hatten wir in diesen zwei Marschtagen fast keine Verluste.

Als die Sonne des 3. Mai 1945 aufging, da ahnte wohl noch keiner der Truppe, daß es unser letzter Matschtag als deutscher Soldat werden sollte. Strahlend schien die Sonne, als wir in ein Gefecht vor dem Dorf Etzin gegen 10 Uhr verwickelt wurden. Der Russe hatte eine Anhöhe besetzt und ließ uns auf 100 Meter rankommen. Dann feuerte er mit seiner Arie dazwischen, dass die Fetzen flogen. Ich lag ziemliche nahe mit einem Offizier an der Anhöhe. Dieser rief befehlend: „alles nach vorn“, aber es rührte sich keiner. Im Gegenteil: Alles versuchte, so schnell wie möglich in geschützte Positionen zu kommen.

Nach kurzer Zeit robbte sich der Offizier ebenfalls zurück. Ich lag verlassen in meiner Ackerfurche und die Granaten heulten über dem Kopf. So krabbelte ich dann auch auf allen vieren zirka 600 Meter zurück. Auf einem Feldweg traf ich dann mehrere Hundert Soldaten, die nun alle in alle möglichen Himmelsrichtungen auseinanderliefen. Es ging und lief jeder, wo er hinwollte. Der Krieg schien auch hier zu Ende zu sein.

Durch russische Tiefflieger wurde die Verwirrung noch größer. Lautsprecher forderten in deutscher Sprache die Soldaten auf, sich zu ergeben. Ich zog mich in ein nahe gelegenes Waldstück zurück und überlegte nun, was ich machen soll. Hier vergrub ich auch meine Pistole und sämtliche Ausweise, die ich noch hatte. Ich hatte jetzt nur ein Bedürfnis – schlafen, schlafen.

- Otto Kramer, 1900–1976, war Polizeibeamter. Ab 1936 arbeitete er bei der Kripo, 1937 dann für die Gestapo (Erkennungsdienst im Polizeipräsidium Berlin).

Kurt Rasenberger (1896–1972) war 1945 Pfarrer der Christuskirche in Oberschöneweide. Für seine Frau und seinen Sohn, die in Osternberg im heutigen Polen evakuiert waren, schrieb er Tagebuch in Briefform.

Am 29.11.1944 etwa: „Und ich bin so froh, daß Ihr da doch hoffen könnt, in eine einigermaßen ordentliche Wohnung zu kommen!“ Seine Zeilen versah der Hobbyfotograf mit Familienfotos und Zeichnungen. Zum Beispiel vom aktuellen Frontverlauf – so, wie ihn das englische Radio meldete. Nach dem Krieg wurden die Briefe als Buch gebunden.

Diese Zusammenstellung von Zeitdokumenten zum Ende des Zweiten Weltkriegs in Berlin geschah in Zusammenarbeit mit mehreren Partnern: Das Tagebuch von Dieter Rossow sowie sein Porträtbild stammen aus dem Privatbesitz seines Neffen Michael Kennert. Die gesammelten und gebundenen Briefe des Pfarrers Kurt Rasenberger liegen im Berliner Tagebuch- und Erinnerungsarchiv in Johannisthal. Die Aufzeichnungen von Ernst Bohn, Otto Kramer sowie der anonyme Kalender stammen aus dem Deutschen Tagebucharchiv in Emmendingen.

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