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Kein Zweifel, keine Reue. „Ich bin froh, dass er tot ist“, sagte der Angeklagte Gregor S. im Prozess.

© dpa/Carsten Koall

„Ich habe die Tat aus ganzem Herzen gemacht“: Weizsäcker-Mörder Gregor S. erwartet am Mittwoch sein Urteil

Die Staatsanwältin sitzt beim Friseur, als ihr Diensthandy den Mord an Fritz von Weizsäcker meldet. Der Fall ist der außergewöhnlichste ihrer Karriere.

Es ist das Klingeln eines Nokia 216, ein schwarzes, flaches Gerät und von der Technik längst überholt, das ertönt, wenn in Berlin ein Mensch ermordet worden ist. Mit der „Tatort“-Melodie als Klingelton und der berüchtigten Eigenschaft, in unpassenden Momenten anzuschlagen.

Staatsanwältin Silke van Sweringen sitzt am 19. November 2019 beim Friseur, als ihr Diensthandy gegen 20 Uhr den aufsehenerregendsten Fall ihrer Karriere ankündigt: den Anschlag auf Fritz von Weizsäcker, den jüngsten Sohn des verstorbenen Bundespräsidenten.

Es wird ein Fall, der im ganzen Land verfolgt wird, der in jeder seiner Schattierungen außergewöhnlich ist und am Ende auch die Frage berührt, wo bei Attentätern der Fanatismus aufhört – und der Wahnsinn anfängt.

Auf hohen Absätzen betritt Silke van Sweringen Saal 700 des Moabiter Kriminalgerichts, wie üblich auf den letzten Drücker, aber gerade noch pünktlich. Für das anstehende Urteil ist dieser, der vergangene Freitag entscheidend. Ein Sachverständiger soll Auskunft darüber geben, ob der Angeklagte Gregor S. schuldfähig war und weiterhin gefährlich ist. Gefängnis oder Maßregelvollzug?

Das Nokia-Handy – der Staffelstab der Ermittler

Auch van Sweringen wird nach dem psychiatrischen Gutachten ihr Plädoyer am Mittwoch ausrichten. Muss ja, sagt die Anklägerin ein paar Tage vorher an ihrem Schreibtisch. „Für die Frage der Steuerungsfähigkeit fehlt uns Juristen die Sachkenntnis.“

Es ist nur eine halbe Treppe, um von den großen Schwurgerichtssälen des Berliner Landgerichts ins Dienstzimmer von van Sweringen zu gelangen: ein schmaler Schlauch, in dem die Anklägerin jeden freien Platz nutzt, um rote und beigefarbene Aktenkladden zu stapeln. Seit 2014 arbeitet die 54-Jährige für die „Kap“, die Abteilung für Kapitaldelikte, zuständig für Mord, Totschlag, verdächtige Vermisstenfälle, Geiselnahme und erpresserischen Menschenraub.

So lange es das „Tatort“-Nokia 216 noch tut, geben es die neun Kap-Ermittler der Berliner Staatsanwaltschaft nicht her. Es ist gewissermaßen ihr Staffelstab, den sie jede Woche für die Mordbereitschaft untereinander weitergeben. Als es an jenem Dienstagabend im November bei van Sweringen klingelt, haben die K 1-Ermittler, das Referat Kriminalitätsbekämpfung der örtlichen Direktion, schon mit der Tatortarbeit begonnen.

Das „Tatort“-Nokia 216 der neun Kap-Ermittler der Berliner Staatsanwaltschaft.
Das „Tatort“-Nokia 216 der neun Kap-Ermittler der Berliner Staatsanwaltschaft.

© Katja Füchsel

Van Sweringen trifft gegen 21 Uhr etwa zeitgleich mit der 8. Mordkommission in der Charlottenburger Schlosspark-Klinik ein. Die Spurensicherung hat den Tagungssaal in Haus H abgesperrt, der Festgenommene ist auf dem Weg zur Gefangenensammelstelle, der Leichnam in die Gerichtsmedizin. Fest steht bereits: Der Attentäter heißt Gregor S., ist am 27. Dezember 1962 geboren, stammt aus Andernach, Rheinland-Pfalz.

Enttäuschter Patient? Politischer Attentäter? Wahnsinniger?

Der Mann war, bekleidet mit einer schwarzen Jogginghose und Daunenjacke, nach dem Vortrag „Fettleber – (K)ein Grund zur Sorge“ zu Fritz von Weizsäcker nach vorne getreten und hatte dem 59-jährigen Chefarzt ein Messer in den Hals gerammt.

Ein Polizist, der privat im Publikum saß, hatte vergeblich versucht, den Professor zu retten. Der Beamte, 34 Jahre alt und Vater von vier Kindern, überlebte den Kampf schwer verletzt.

Der Weizsäcker-Mordprozess – eine Chronik:

Ungeklärt ist: Haben sie es hier mit einem enttäuschten Patienten zu tun? Einem politischen Attentäter? Oder einem Wahnsinnigen? Die Ermittler funktionieren ein verlassenes Ärztezimmer zur Kommandozentrale um, sammeln erste Informationen, hören, was die Polizisten, die zuerst am Tatort waren, berichten. Gregor S. hatte sich widerstandlos festnehmen lassen, schien dabei von einer Art Bekenntniszwang getrieben zu sein.

„Das Umbringen war mir peinlich“

Die Beamten verstehen nur die Hälfte und kommen beim Protokollieren kaum hinterher:

„Ich habe die Tat aus ganzem Herzen gemacht.“

„Richard von Weizsäcker hat Agent Orange nach Vietnam geliefert.“

„Ich war in Thailand, den Kindern geht es dort durch ihn sehr schlecht.“

„Ich hatte es 30 Jahre vor, hätte ich es heute nicht gemacht, wäre ich ein Leben lang unglücklich gewesen.“

„Ich finde es eklig, jemand zu töten, aber ein Kratzer bringt nichts.“

„Es ist ein Wunder, dass ich es heute hinbekommen habe.“

„Das Umbringen war mir peinlich.“

Es ist 23 Uhr, als Silke van Sweringen den Ermittlungsrichter anruft, um die Durchsuchung der Wohnung in Andernach zu beantragen. Sie brauchen jetzt schnell Hinweise über den Menschen Gregor S. und es ist Gefahr im Verzug. „Wir wussten ja nicht, ob er mit jemand zusammenwohnt, der noch Beweismittel vernichten konnte“, sagt van Sweringen.

Nach zwei Stunden alles gestanden

Noch in der Nacht rückt die Polizei Koblenz zu der 50er-Jahre-Wohnanlage am Kirchberg aus, wo Gregor S. seit Mai 2002 in einer Einzimmerwohnung lebt: 30 Quadratmeter, eine elektrische Kochplatte steht auf einem Stuhl neben dem Bett. In der Küche gibt es kein Besteck, kein Geschirr, der Kühlschrank ist leer. Auf die Beamten macht die Wohnung einen verwahrlosten, verschmutzten Eindruck.

Um 3.18 Uhr beginnt die 8. Mordkommission mit der Vernehmung. Gregor S. verzichtet auf einen Anwalt, hat nach zwei Stunden alles gestanden. Er habe Richard von Weizsäcker seit mehr als 30 Jahren gehasst, weil dieser in den 60er Jahren für das Unternehmen Boehringer Ingelheim gearbeitet hatte.

Silke van Sweringen, Staatsanwältin für Kapitalverbrechen am Landgericht Berlin.
Silke van Sweringen, Staatsanwältin für Kapitalverbrechen am Landgericht Berlin.

© Sven Darmer

Über die Firma berichtete der „Spiegel“ in den 90er-Jahren, sie habe Vorprodukte des Entlaubungsmittels Agent Orange hergestellt, das von der US Army im Vietnamkrieg eingesetzt wurde – was die Firma unter Verweis auf einen Untersuchungsausschuss bis heute bestreitet. Aufgrund der damaligen Berichte macht Gregor S. die Familie Weizsäcker für die Folgeschäden, für Todesfälle, schwere Krankheiten, Fehlgeburten und Missbildungen, verantwortlich.

„Er hat unheimlich viel geredet, auch seine Zwangsneurose erwähnt“, sagt van Sweringen. Sie fordert einen Psychiater an, um zu klären, ob Gregor S. bis zum Prozess in der U-Haft oder der Psychiatrie untergebracht werden soll.

Der Schaft hinterlässt einen Abdruck am Hals

Es wird eine kurze Nacht. Am Vormittag trifft sich die Staatsanwältin mit zwei Mordermittlern in Moabit zur Obduktion. Michael Tsokos, Chef des Instituts für Rechtsmedizin der Charité, erwartet sie mit zwei Kollegen im blauen OP-Anzug, durchsichtiger Plastikschürze und Gummistiefeln.

Um den Tisch versammeln sich Dutzende Jahre Berufserfahrung, aber so etwas hat selbst Tsokos fast nie erlebt: Dass ein einzelner Stich tödlich ist, mit einer solchen Wucht geführt, dass jede Rettung aussichtslos ist. Mitten in einer Klinik, umgeben von Ärzten, ertrank Fritz von Weizsäcker an seinem eigenen Blut. Zehn Zentimeter misst die Klinge des Messers, 14 Zentimeter der Stichkanal. Der Schaft hinterlässt einen Abdruck am Hals.

Sektionssaal des Instituts für Rechtsmedizin der Berliner Charité.
Sektionssaal des Instituts für Rechtsmedizin der Berliner Charité.

© Katja Füchsel

Während van Sweringen im Leuchtstoffröhrenlicht des Sektionssaals steht, befragen zwei Psychiater den Attentäter aus Andernach. S. gibt an, seit sieben Jahren bei Amazon als Lagerist zu arbeiten, knapp 1600 Euro netto.

Er sei durch das Unrecht, das Richard von Weizsäcker zu verantworten habe, traumatisiert worden und habe sich als Deutscher schuldig und zum Handeln verdammt gefühlt. „Wäre er Präsident von Frankreich oder England gewesen, wäre ich aus dem Schneider gewesen.“

Er kauft ein Messer, geht zum Friseur

Als der Bundespräsident 2015 starb, habe er dessen Kinder ins Visier genommen. Im Internet stößt er auf den Vortrag. Zwei Tage vor dem Attentat kauft sich Gregor S. ein Messer für 19,50 Euro, geht zum Friseur, in den Waschsalon, er leistet sich anständiges Rasierzeug, um bei der Festnahme „einen halbwegs passablen Eindruck“ zu machen. „Eine fast feierliche Vorbereitung“, nennt das der psychiatrische Sachverständige Alexander Böhle am vergangenen Freitag.

Dass Gregor S. seinen Plan tatsächlich umsetzt, scheint ihn am Ende selbst am meisten zu überraschen. Seit seiner Jugend sei er ein Zauderer gewesen. Am Bahnhof in Koblenz löst er ein Hin- und Rückfahrticket für dieselbe Nacht, Superspartarif, 181,80 Euro. Ein Abbruch wäre für ihn „Schande hoch drei“ gewesen, er hätte sich wie „ein Versager“ gefühlt, „ein Verräter“.

Am späten Nachmittag des 20. November 2019 verkündet der Haftrichter, dass Gregor S. vorerst in der Maßregel untergebracht wird. Der Beschuldigte schimpft und protestiert. Er sei ein politischer Attentäter, nicht geisteskrank. In der Psychiatrie tritt der ohnehin hagere Mann in den Hungerstreik, bringt vorm Prozess keine 50 Kilogramm mehr auf die Waage.

Schon als junge Staatsanwältin, als sie 1995 von Hamburg nach Berlin kommt, weiß van Sweringen, dass sie zur Kap will. Nach sechs Jahren hat sie eine Reihe spektakulärer Prozesse hinter sich, vertrat beispielsweise die Anklage im Sterbehilfe-Prozess gegen einen Arzt, der seiner Patientin beim Suizid geholfen hatte.

„Das belastet mich psychisch nicht“

„Ich musste auf schuldig plädieren“, sagt sie. Van Sweringen beantragte Revision, „wir wollten vom Bundesgerichtshof die Frage geklärt haben“, ob ein Arzt bei einem Selbstmord versuchen muss, den Tod noch zu verhindern. Der im Prozess erfolgte Freispruch des Arztes sei richtig gewesen und durch den BGH auch bestätigt worden.

Gerade arbeitet van Sweringen an der Anklage zu einem Doppelmord in Marzahn, dem eine 38-jährige Mutter und ihre neunjährige Tochter zum Opfer fielen.

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Weil ihr alle Laien immer diese eine Frage stellten, zweifele sie manchmal schon an sich selbst, sagt van Sweringen, aber: „Das belastet mich psychisch nicht.“

Am 19. Mai 2020, genau sechs Monate nach dem Anschlag, erhebt sich Silke van Sweringen im Saal 700 des Berliner Landgerichts, um ihre Anklage zu verlesen. Sie wirft Gregor S. Mord an Fritz von Weizsäcker und Mordversuch an dem – zu dieser Zeit immer noch dienstunfähigen – Polizisten Ferrid B. vor. Er gehört zu den Nebenklägern im Prozess, ebenso wie Beatrice von Weizsäcker, die 61-jährige Schwester des Verstorbenen; dessen zwei minderjährige Kinder werden im Saal von ihrem Anwalt Roland Weber vertreten.

Eine Box hinter Panzerglas

Im Weizsäcker-Prozess stehen die spärlich besetzten Zuschauerbänke in merkwürdigem Gegensatz zu dem Aufsehen, den der Prozess im Land erregt. Um den Corona-Abstandsgebot zu entsprechen, lässt die 32. Strafkammer zu jeder Sitzung nur zehn Journalisten und eine Handvoll Zuschauer zu. Unter ihnen sitzt meist auch Daniela K., die langjährige Lebensgefährtin Weizsäckers.

Weil das Paar nicht verheiratet ist, darf die Ernährungsmedizinerin nicht als Nebenklägerin auftreten. Der Vorsitzende Richter Matthias Schertz hat dafür gesorgt, dass ihr zumindest hinten ein Platz sicher ist.

Als vor Verhandlungsbeginn die Fotografen und Kamerateams kurz in den Saal gelassen werden, erwartet sie Gregor S. in seiner Box hinter Panzerglas. Er dreht ihnen den Kopf zu, reckt das Kinn, sieht durch runde Brillengläser auf die Betrachter herab. Ein leicht spöttisches Lächeln liegt auf seinen Lippen.

Gregor S. besteht auf sein Frage- und Rederecht, er ruft ständig dazwischen, fuchtelt mit einem Kugelschreiber, wenn er Zeugen der Lüge zu überführen sucht. Kein Zweifel, keine Reue, „ich bin froh, dass er tot ist.“ Als ihn van Sweringen fragt, ob er jemals in Vietnam gewesen sei, schüttelt Gregor S. den Kopf und belehrt sie dann, dass es ja auch Dokumentarfilme gebe. Er habe jedes Jahr drei Monate Urlaub in Thailand verbracht, das sei alles ein Menschenschlag.

„Oft aggressiv und manchmal auch gewalttätig“

Die Staatsanwälte sind die Leiter der Ermittlungen. Es gehört zu ihrem Job, anderen Fragen zu stellen, den Polizisten, Obduzenten, Sachverständigen, Angeklagten, Zeugen. Wird van Sweringen selbst befragt, lächelt sie, legt den Kopf schräg, die Stirn in Falten und schweigt, als müsse man diese Frage nun wirklich präzisieren.

Dann erzählt sie doch, was sie im Prozess am bemerkenswertesten gefunden habe. „Wie der Angeklagte im Brustton der Überzeugung von seinem Motiv geredet hat. Als ob es das Natürlichste der Welt wäre und es doch eigentlich jeder verstehen müsste.“ Dabei habe Gregor S. immer gewusst, dass er Schlimmes tut, die Tat akribisch geplant, über Jahre vor seinen Kollegen geheim gehalten, um dann rücksichtslos und brutal zuzuschlagen.

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Was aber unterscheidet Gregor S. dann von islamistischen und rechtsextremen Fanatikern, die Unbeteiligte im Namen ihr Ideen ermorden?

Es ist die Aufgabe des Gutachters Alexander Böhle, herauszufinden, ob Gregor S. sich in eine irrwitzige Theorie hereingesteigert hat oder ob er wahnkrank ist. Da sich S. aber weigert, mit ihm zu reden, lässt der Psychiater den Angeklagten während des Prozesses nicht aus den Augen, studiert die Akten, spricht mit dem Hausarzt – und kommt am Freitag zum Schluss: „Vermutlich ist Herr S. seit seiner Adoleszenz immer auffällig gewesen, oft aggressiv und manchmal auch gewalttätig.“ Er sei in seiner Steuerungsfähigkeit erheblich eingeschränkt.

Ein Mietstreit, Sexabenteuer

Böhle beruft sich auf das, was Kollegen, Nachbarn und Hausverwalter über Gregor S. berichtet haben: In seiner Wohnanlage gilt Gregor S. als Sonderling, ein Einzelgänger, der im Hof Schattenboxen übt und erst aufbricht, nachdem er ein Dutzend Mal an seiner verschlossenen Tür gerüttelt hat. Seinen Amazon-Kollegen erzählt Gregor S., dass er Zwangsneurotiker sei, deshalb jeden Handschlag meide. Für Klinken benutzt er ein Taschentuch, Lichtschalter tritt er mit dem Schuh an. Bei seinen Chefs gilt er als zuverlässig, extrem fleißig, fast übermotiviert.

Sieben Mal hat ihn das Amtsgericht wegen Beleidigung und Körperverletzung zu einer Geldstrafe verurteilt, weil Konflikte in seinem Umfeld eskalierten. Seit zwei Jahren streitet er sich mit seinem Hausverwalter um den Zustand seiner Wohnung. Dem Eigentümer hatte er, mit einer Papiertüte über dem Kopf getarnt, das Auto zerkratzt und die Hauswand mit Öl beschmiert. Gregor S. sagt, der drohende Wohnungsverlust sei für ihn der Auslöser gewesen, seinen Plan nun endlich in die Tat umzusetzen.

Trauer vorm Kondolenzbuch für den ermordeten Chefarzt Fritz von Weizsäcker.
Trauer vorm Kondolenzbuch für den ermordeten Chefarzt Fritz von Weizsäcker.

© Paul Zinken/picture alliance/dpa

In den Pausen und im Auto seiner Fahrgemeinschaft redet Gregor S. viel: über seinen Mietstreit, seine Sexabenteuer in Thailand, seine Geringschätzung für deutsche Politiker. Niemand will ihn aber jemals über die Weizsäckers sprechen gehört haben.

Seit dem Moment, als der Chefarzt vor ihm in seinem Blut lag, versucht Gregor S. die Menschen davon zu überzeugen, dass er im Namen der Gerechtigkeit getötet habe. „Mein Anliegen“, nennt er das, „meinen Lebensinhalt“.

Am Ende des Prozesses bleibt davon nur eines übrig, der Psychiater formuliert es so: eine Zwangsstörung, eine zwanghafte Persönlichkeitsstörung auf Borderline-Niveau und Wahnerkrankung. Eine komplette Aufhebung der Schuldfähigkeit schließt Böhle aber aus.

„Das ist doch kein Wahn, Mann!“

Und die Prognose? „Nicht sehr günstig“, sagt der Sachverständige. In die Gefühlswelt von Gregor S. sei nach dem Anschlag zwar Ruhe eingekehrt, der lange – und auch vor Gericht ausgetragene – Konflikt mit seinem Hausverwalter habe aber bewiesen, „wie obsessiv“ Gregor S. sei.

Als Böhle seine Diagnose ausspricht, hält es ihn kaum noch auf dem Stuhl. „Das ist doch kein Wahn, Mann!“, ruft der Angeklagte durch den Saal. „Da wurde Krieg geführt, Mann!“ Seine Stimme bricht, er scheint den Tränen nah. Gregor S. zeigt auf die Richter, Nebenkläger, Journalisten und Zuschauer, „alle hier Anwesenden“, die aus Feigheit die Schuld der Weizsäckers verleugneten.

Wie alle anderen verfolgt Nebenklageanwalt Weber den Ausbruch mit ausdrucksloser Miene. Für ihn ist die Sache entschieden: „Ich erwarte, dass das Gericht die zeitlich unbefristete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus anordnet.“ Der Prozess habe bewiesen, dass Gregor S. weiterhin hochgefährlich sei. „Die Zwangsgedanken treiben ihn zu Handlungen, die schlicht unvorhersehbar sind.“ Das Urteil könnte noch am Mittwoch nach den Plädoyers gesprochen werden.

Das letzte Wort gebührt dem Angeklagten. Es wird der letzte große Moment im Leben von Gregor S. sein, bevor sich wahrscheinlich hinter ihm die Tore der Psychiatrie schließen. Vielleicht sogar für immer.

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