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„Weaving In“ von Svea Schneider-Sierra.

© Svea Schneider-Sierra

Hochschulübergreifendes Zentrum Tanz Berlin: Barfuß auf dem Beton

Tanz im Stadtraum: Drei Semester lang fand das Studium am Hochschulübergreifenden Zentrum Tanz Berlin in Vereinzelung statt. Jetzt geht es wieder nach draußen.

Endlich wieder raus, hieß es im Sommersemester! Nach drei Semestern konnten die Studierenden des HZT Berlin die digitalen Kacheln verlassen. Nach Online-Trainings, Seminaren und Break Out Rooms erkundeten sie die Stadt und Naturreservate mit Site-Specific-Choreographien und -Performances.

Im Juni brannte die Sonne unerbittlich auf das Kopfsteinpflaster vor der Bibliothek am Luisenbad. Sie liegt versteckt hinter der lauten Badstraße in Wedding an der Panke. Am Rand zur Zufahrtsstraße, gegenüber der denkmalgeschützten Bibliotheksfassade aus dem 19. Jahrhundert, stehen drei Personen barfuß auf weißen Betonblöcken.

Sie führen synchron einen fingierten Startsprung mit anschließenden Kraulbewegungen des Oberkörpers aus. Ihre freischwingenden Schwimmbewegungen wecken Erinnerungen an die ehemalige Heilquelle und Badeanstalt an diesem Ort, an Wannenbäder und Schwimmbassins.

Eine junge Frau schmiegt sich in einen gemauerten Türrahmen, vermisst ihn mit Armen und Beinen. Führt ein Selbstgespräch. Ein junger Mann presst seinen Oberkörper in die rotgelbe Klinkersteinfassade, erkundet Vorsprünge, klettert daran hoch und schwingt mit den Beinen.

Wannenbäder und Schwimmbassins

Vor diesem dynamischen gemeinsamen Site-Specific Parcours von der Badbrücke bis zum Vorplatz der Bibliothek haben sich Nuria Carrillo Erra, Hana Stojakovic, Sophia Obermeyer. Safete Muchave, Lucas Godoi Sene, Altınay Kapsız. Mahshad Rezai, Studierende im zweiten Semester des Bachelorstudiengangs „Tanz, Kontext, Choreografie“ am HZT Berlin in Videomeetings getroffen.

Dort saßen sie pandemiebedingt vereinzelt in Quadraten. Seit Beginn ihres Studiums konnten sie noch nicht einmal gemeinsam künstlerisch arbeiten. Doch vor der Eroberung des Stadtraums stand die Analyse.

Studierende des Bachelorstudiengangs „Tanz, Kontext, Choreographie“ an der Panke in Wedding.
Studierende des Bachelorstudiengangs „Tanz, Kontext, Choreographie“ an der Panke in Wedding.

© Judith Sánchez Ruiz

Zusammen mit den Dozent*innen Judith Sánchez Ruíz und Gregory Livingston wurden verschiedene ortsspezifische Arbeiten online angeschaut und besprochen: Choreografien und Performances von Trisha Brown, Willi Dorner und Noémie Lafrance auf Parkdecks und auf Dächern, in Treppenhäusern und Fußgängerzonen, in Museen und Parks, an Häuserfassaden, am helllichten Tag, in der Nacht, als flüchtige Intervention oder als Long-Durational-Happening.

Tanzen im öffentlichen Raum

Am Anfang sei es nicht leicht gewesen, das Site-Specific-Seminar als Online-Version zu planen, sagt denn auch Judith Sánchez Ruíz. Sie war erleichtert, dass sich die Pandemiesituation Ende Mai dank fallender Inzidenzwerte entspannte und ein Arbeiten im öffentlichen Raum möglich gewesen sei.

Zwar weiterhin mit negativen Tests und Maske, aber immerhin als Gruppe und in Präsenz. Für die kubanische Tänzerin, die seit 15 Jahren an öffentlichen Orten choreographiert, hat das Tanzen in der Natur und im öffentlichen Raum etwas Rohes und zugleich Magisches.

Die Kunst, die dabei entstehe, sagt Sánchez Ruíz, erreiche die Zuschauer unmittelbarer. Es sei für die Studierenden herausfordernd, so nah am Publikum zu tanzen, da sie mit überraschenden und nicht planbaren Vorkommnissen, Blickwinkeln, Wetterbedingungen, Bodenbelägen und Publikumsgruppen konfrontiert seien.

Besonders sei außerdem der tänzerische Dialog mit öffentlichen Lebensräumen, er multipliziere die beobachtende Interaktion und Vermischung mit der Welt auf unmittelbare Art und Weise – als Gesellschaft, Gemeinschaft und Kunst.

Dynamik durch das Publikum 

Sophia Obermeyer hat sich dem Ort um die Bibliothek am Luisenbad über seine Materialität und Texturen genähert und einen körperlichen und nicht-narrativen Zugang gewählt.

Sie betont auch die wichtige Rolle der Passanten, die an der Performance vorbeigehen, sie kreuzen und ihr damit Dynamik geben: „Ich fühle mich auch vom Eisverkäufer und Ladenbesitzer unterstützt, denn sie gaben Feedback zu dem, was sie während des Schaffensprozesses sahen. Ich mochte es, neben engen Freunden, auch sie explizit zur Vorstellung einzuladen.“

Und tatsächlich bleiben kleine Kinder neugierig stehen, folgen der Tänzergruppe vom Eisladen über mehrere Stationen bis zum Platz, Vater und Sohn verweilen: „Das ist spannend“. Familien auf dem Weg von der Kita oder dem Spielplatz nach Hause und Radfahrerende blicken nur kurz auf das Geschehen, schauen betont uninteressiert oder leicht verlegen und setzen Ihren Weg fort.

Interesse, Neugierde, Gleichgültigkeit, Amüsiertheit – es gibt viele Reaktionen – keine ist aggressiv oder fragt kartoffelig, was das denn sei und soll. Über die Proben wird die quirlige Gruppe zur temporären Mitbewohnerin des Ortes.

Elf Wochen im Tegeler Fließ

Auch Susanne Vincenz, Gastprofessorin im Masterstudiengang Choreographie am HZT betont, wie wichtig eine intensive Auseinandersetzung mit dem Ort sei: Dort immer wieder einzutauchen, zu beobachten, sich Zeit zu nehmen für das, was schon da ist oder da war.

Und es sei wichtig zu fragen: „Was möchte ich mitbringen und wie verändert das den Ort oder das Umfeld? Was wird eventuell gebraucht an diesem Ort? In welchen Kontakt möchte ich Passanten oder Zuschauer bringen und warum?“

Für ihre Abschlussarbeit „Weaving In“ im Masterstudiengang Choreographie hat Svea Schneider-Sierra zusammen mit fünf Tänzer*innen und dem Team elf Wochen im Tegeler Fließ verbracht.

In dem Naturreservat nördlich von Berlin haben sie nach Verbindungen zwischen Naturraum und Körperraum gesucht und diese in Bewegung und Choreographie übersetzt. Sie fragten „wie die Natur in den Körper eindringen kann und was das tiefe Eintauchen in die pflanzliche Natur mit dem menschlichen Körper und dessen Bewegung macht.“

Entstanden ist ein feingewebter, zweistündiger, sensorischer Performance-Walk, dem an drei aufeinanderfolgenden Tagen bei 36 Grad eine illustre Gruppe von zehn Personen folgen konnte.

Körperliches Eintauchen in den Raum

Svea Schneider-Sierra hat im letzten Jahr einen einjährigen Zertifikatskurs in Wildpflanzenpädagogik und Nahrungssuche im Tegeler Fließ abgeschlossen. Sie war fasziniert von der vielseitigen und vielschichtigen Landschaft und entschied sich, dort für ihre Abschlussarbeit zu forschen.

Zusammen mit ihrem Team tauchte sie in den Wald ein und probte dort wöchentlich vier bis sechs Tage: „Es war eine unglaubliche, aber auch harte Erfahrung, so lange im Wald zu sein“. Sie hätten gemeinsam einen tiefgreifenden Veränderungsprozess durchlaufen: vom Gefühl der Fremdheit bis zum Gefühl, zu Hause zu sein. Parallel dazu hat die Choreographin viele Bücher über Pflanzen und Wälder gelesen.

Die umfassendste Forschung sei jedoch das körperliche Eintauchen in den Raum gewesen und das Kennenlernen des Waldes mit allen Sinnen: sehen, schmecken, riechen, hören und berühren und von ihm berührt werden. Aus diesem Prozess der zunehmenden Vertrautheit mit dem speziellen Ort entwickelte sich dann die Arbeit: über Textur, Rhythmus, Charakter und Struktur sowie immaterielle und metaphysische Aspekte.

Teilhabe als wichtiges Element

Susanne Vincenz sagt, man sei bei ortsspezifischen Arbeiten häufig mit Unwägbarkeiten und Überraschungen konfrontiert und sollte offen sein, sie einzubeziehen. Denn die Stadt oder die Landschaft sei kein Bühnenraum, der sehr kontrolliert gestaltet werden sollte. Diese Unterschiede zu verstehen und als Teil der Arbeit zu begreifen, sei wichtig. Häufig würde die Stadt einfach als Bühne behauptet, das sei in den meisten Fällen eher langweilig und auch eine Geste der Vereinnahmung.

Sich wirklich auf einen Ort einzulassen, mit und für einen Ort etwas zu entwickeln, setze hingegen eine andere Arbeitsweise voraus. Es sei ein Lernprozess, der über Teilhabe funktioniere und den Alltag auch als soziale Choreographie lesbar mache. Nicht das Schlechteste nach 18 Monaten pandemischer Vereinzelung.

Eine Miniaturdokumentation von „Weaving In“ ist auf dem HZT Instagram-Account zu sehen. Die Site-Specific-Arbeit der BA-Studierenden „I want you to look at _____! war beim „Ausufern“-Festival Anfang Juli zu sehen.

Die Autorin hat das BA-Seminar als Gastdozentin begleitet.

Judith Brückmann

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