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Studenten an der Uni Hamburg, 1967.

© picture alliance / DB/dpa

1968 - 50 Jahre Studentenrevolte: "Ich wurde sofort bestreikt"

1968 war eine Zäsur in der deutschen Hochschulgeschichte - inhaltlich wie personell. Professoren erinnern sich.

Volker Mertens wusste, worauf er sich einließ. Als der Altgermanist 1977 seine erste Professur in Berlin antrat, galt die Freie Universität als "Härtetest" – so erinnert sich der emeritierte Wissenschaftler. Hier hatte sich der Geist von 1968 besonders hartnäckig eingenistet, hier war an einen geordneten Lehrbetrieb auch knapp zehn Jahre nach den Studentenunruhen kaum zu denken. "Ich wurde sofort bestreikt", erzählt der 80-Jährige. Er hatte sich geweigert, in der ersten Seminarsitzung die Scheine zu verteilen, also alle Studenten direkt und ohne Leistung bestehen zu lassen. "Daraufhin belagerten einige Krawallmacher sogar meine Wohnung, damit ich dort kein Seminar veranstalten konnte." Mertens behalf sich mit einem Trick: Mit den Studenten, die trotzdem teilnehmen wollten, traf er sich heimlich in deren WGs – "bei Tee und selbstgebackenen Plätzchen".

1968 markiert eine Zäsur in der deutschen Hochschulgeschichte. Die ehrwürdige Institution, bis dato wenigen Abiturienten eines Jahrgangs vorbehalten, verändert sich radikal. Massen drängen Ende der 1960er Jahre ins Studium, eine gewaltige Bildungsexpansion hat die Gesellschaft erfasst. Die Universitäten verjüngen und demokratisieren sich. Denn überall werden junge Dozentinnen und Dozenten eingestellt, und die wollen nun ebenfalls mitreden. Auch die Studenten haben den Muff unter den Talaren – elitäre und autoritäre Strukturen, nicht aufgearbeitete NS-Vergangenheit – gründlich satt.

Doch es sind nicht nur strukturelle Reformen, die den Hochschulbetrieb in den späten Sechzigern und frühen Siebzigern umkrempeln. Auch Lehre und Forschung wandeln sich rapide. Kaum ein Fach, das keine grundlegende inhaltliche und methodische Neuausrichtung erfährt. Das gilt vor allem für die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften. Zum Beispiel die Altgermanistik: Üblicherweise beschäftigt man sich hier mit der höfischen Literatur des Mittelalters: Minnesang, Nibelungenlied, Hartmann von Aue, Walther von der Vogelweide, Tristan und Parzival. "Das war nach 1968 verpönt, galt als üble Feudalliteratur", sagt Mertens. Stattdessen rücken frühbürgerliche Autoren ins Blickfeld der Wissenschaft. Auch die Fragestellungen verändern sich. Texte werden nicht länger nur unter ästhetischen, sondern vor allem unter sozialen und politischen Gesichtspunkten analysiert. "Man wollte mehr über die Entstehungsbedingungen und die Wirkungszusammenhänge herausfinden."

Wochenlang wurde debattiert, Vorlesungen fanden kaum noch statt

Gesellschaftliche Umstände, Formen von Macht und Unterdrückung – der Nachwuchs setzt in den Sprach- und Literaturwissenschaften ganz neue Akzente. Das erreichen die Studenten und die jungen Dozenten auch dank neuer Formen von Mitbestimmung. Mertens erinnert sich, dass es in der Germanistik damals üblich war, dass die Studierenden selbst die Themen des Studiums bestimmten. "Da wurde dann oft wochenlang debattiert, worum es in einem Seminar überhaupt gehen soll." Vorlesungen fanden dagegen kaum noch statt. Das alte Lehrformat sei "als reaktionäre Form der Indoktrination" abgelehnt worden, sagt Mertens. Vom strengen Frontalunterricht hat die 68er Generation die Nase voll.

Als theoretisches Werkzeug dient den Studenten der Marxismus, der rege rezipiert wird. Aber auch die Psychoanalyse Sigmund Freuds wird wiederentdeckt. Und nicht zu vergessen: der lauter und mutiger werdende Feminismus. Viele Frauen drängen darauf, ihre Interessen und Perspektiven endlich in den wissenschaftlichen Debatten wiederzufinden.

"Wir waren damals so voller Hoffnung, dass wir die Welt verändern und verbessern können", erinnert sich Ulf Preuss-Lausitz, der Mitte der sechziger Jahre an die FU kam, um sein Soziologiestudium zu beenden. Ab 1973 war er Professor an der Pädagogischen Hochschule Berlin, von 1980 bis 2008 Professor für Schulpädagogik an der Technischen Universität. "Die Reformimpulse haben mein Fach stark verändert."

Der alte Lehrstoff: zu männlich, zu wenig Alltagsbezug

In der Erziehungswissenschaft setzt um 1970 eine empirische Wende ein, die bis heute nachwirkt. Die Kindheitsforschung entsteht, ebenso die interkulturelle Pädagogik. Viel verschiebt sich auch bei der Ausbildung der künftigen Lehrerinnen und Lehrer. Das Textmaterial für den Sprachunterricht an den Schulen wird ebenso kritisch unter die Lupe genommen (zu literarisch, zu männlich, zu wenig Alltagsbezug) wie der auf Kaiser und Kriege fokussierte Geschichtsunterricht. "Ab Mitte der sechziger Jahre war außerdem viel die Rede von sozialen Gruppen, die im Bildungssystem benachteiligt werden", sagt Preuss-Lausitz. Diese Ungerechtigkeiten sollten nicht nur untersucht, sondern anschließend in der Praxis möglichst auch beseitigt werden.

Der Blick gilt nun vor allem dem Individuum – und dem, was die Gesellschaft mit ihm macht. Psychologie, Biologie, Medizin: Auch an diesen Fächern gehen die Impulse der Studentenbewegung nicht spurlos vorbei. Zwar beschäftigt die Wissenschaft seit dem späten 19. Jahrhundert die Frage, was auf die Entwicklung des Menschen weitreichenderen Einfluss hat – die Gene oder die Umwelt. Aber ab den späten Sechzigern schwingt das Pendel deutlich in Richtung Sozialisierung aus.

Ein weiteres brennendes Thema der Zeit: der Körper und die Lust. Populäre Aufklärungsfilme haben, vor allem in den Universitätsstädten, ihre Wirkung nicht verfehlt. Die junge Generation will sich von der Prüderie der Eltern befreien. Gleichzeitig wächst das wissenschaftliche Interesse am Thema Sexualität. In Frankfurt am Main entsteht 1972 der erste Lehrstuhl für Sexualwissenschaft. Berufen wird der bekannte Psychiater und Sexualforscher Volkmar Sigusch. Neu ist nicht nur das Forschungsfeld, sondern auch die interdisziplinäre Verortung. Der Lehrstuhl gehört den Gesellschaftswissenschaften wie auch dem Fach Medizin an.

Zwischen anderen Fächern entstehen ebenfalls produktive Querverbindungen: An der Universität Stuttgart gibt es ab 1968 einen Lehrstuhl für Naturwissenschafts- und Technikgeschichte, der eine Brücke zwischen den Geschichtswissenschaften und den Ingenieur- und Naturwissenschaften schlägt.

Für Ulf Preuss-Lausitz gibt es ein weiteres Erbe der 68er, das bis heute den Alltag der Hochschulen bestimmt. Er nennt es: „Kommunikation und Zusammenarbeit“. Ab den Siebzigern wurde es möglich, gemeinsam Hausarbeiten zu schreiben, mündliche Prüfungen zu absolvieren oder sogar gemeinsam zu promovieren. Auch das hat die Wissenschaft verändert. „Heute betrachten wir die Fähigkeit zu kollaborativer Forschung als zentrale Kompetenz.“ Das gelte in den Ingenieur- und Naturwissenschaften genauso wie in den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften.

Das Spektrum sei in alle Richtung größer geworden, die Themen, Methoden und Fragestellungen vielfältiger, resümiert Volker Mertens. Auch wenn Seminarthemen heute in der Regel von den Lehrenden festgelegt werden. Und Vorlesungen sich ihren festen Platz in den Studienordnungen zurückerobert haben.

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