zum Hauptinhalt
Auf Erkundungstour: Neue Bewohnerinnen und Bewohner Berlins müssen die Stadt erst entdecken und ihre Wege quasi in einem inneren Stadtplan anlegen.

© Pexels, Bearbeitung: Raphael Rönn

Herausforderungen des Ankommens: Karte im Kopf

In dem multinationalen Projekt MAPURBAN untersucht ein Forschungsteam die Migrationserfahrungen von Menschen in Berlin, London und Stockholm – und hält sie auf subjektiven Karten fest.

Von Raphael Rönn

Berlin wächst – inzwischen leben fast 3,7 Millionen Menschen in der Stadt. Viele der neuen Berlinerinnen und Berliner kommen aus Brandenburg, manche aus Schwaben, aus Spanien, andere aus den USA oder aus Afghanistan, Irak und Syrien. Berlin ist eine Stadt der Migrationsgeschichten. 

Für Menschen, die aus einem anderen Land, einem anderen Kulturkreis stammen, ist es oft nicht leicht, sich zurechtzufinden und die Metropole ihr neues Zuhause zu nennen. Sie alle machen räumliche Erfahrungen in der Stadt, die sich in ihren Köpfen einprägen. Diese subjektiven Karten wollen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Rahmen des Forschungsprojekts MAPURBAN aufzeichnen und auswerten.

„Wir wollen besser verstehen, wie sich Menschen mit Flucht- und Migrationserfahrung in der Stadt bewegen“, erklärt Sylvana Jahre. Die Doktorandin hat Geographie, Soziologie sowie Stadt- und Regionalplanung studiert und ist Teil des Forschungsteams. „Die Neuangekommenen suchen sich ihren Weg durch die Stadt, sie bewältigen Hürden im Alltag, erhalten Hilfe, erleben aber auch Ausgrenzung und stehen vor verschlossenen Türen – ihre Lebenswelt steht im Mittelpunkt unseres Projekts“, betont die Wissenschaftlerin. 

Das Projekt MAPURBAN ist interdisziplinär und auch multinational angelegt. Forschende aus der Soziologie und Geographie oder des Städtebaus in Großbritannien und Schweden beteiligen sich daran; verglichen werden die Zuwanderungsstädte Berlin, London und Stockholm.

Herausforderungen für Ankommende: Behördengänge und Alltagsrassismus

Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler werten Konzepte von Verwaltungen aus und untersuchen politische Entscheidungen. Dabei soll es nicht bleiben. „Wir wollen mit den Menschen sprechen, um die es geht“, sagt Antonie Schmiz, Professorin für Humangeographie an der Freien Universität und Leiterin des Berliner Forschungsteams von MAPURBAN. Es sei wichtig, ihre Stimmen in der Öffentlichkeit hörbar, ihre Perspektiven sichtbar zu machen. 

Die Forschungsgruppe führt Interviews mit Vertreterinnen und Vertretern des Senats, von Ämtern sowie gesellschaftlicher Initiativen. Und sie sucht den direkten Kontakt zu Menschen mit Migrationsgeschichten, etwa zu einer Gruppe geflüchteter Frauen in Lichtenberg, die sich regelmäßig trifft. 

Durch ihre Karten und Geschichten werden Bilder des Alltags gezeichnet und Herausforderungen sichtbar, die weit über den Prozess des unmittelbaren Ankommens hinausgehen, wie etwa langwierige Behördengänge, in denen sich struktureller Rassismus zeigt, die Suche nach Halal- Fleisch oder die Konfrontation mit Alltagsrassismus in Bus und Bahn.

Viele Türen stehen offen, werden aber nicht immer gefunden

In diesem Rahmen organisiert das Forschungsteam Workshops zusammen mit dem Kollektiv „orangotango“ und der Stadtplanerin Ingeborg Beer. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer verzeichnen ihre Lebensumwelt auf einer selbst erstellten Karte. Sie rekonstruieren ihr Wegenetz und markieren die Orte, die für sie persönlich eine Bedeutung haben und sprechen darüber, was ihnen fehlt. Die Erkenntnisse aus diesen Begegnungen will das MAPURBAN-Team anonymisiert online zugänglich machen und in einer Ausstellung in Berlin zeigen.

Die Gespräche mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Behörden und mit Geflüchteten offenbaren, wie schwierig es für Zugezogene oftmals ist, städtische Infrastrukturen und Ressourcen zu nutzen. Oft auch, weil sie keine Kenntnisse über die verschiedenen städtischen Angebote haben oder die Informationen nicht in die entsprechenden Sprachen übersetzt wurden. 

Viele Türen stehen offen, werden aber nicht immer gefunden. „Die Menschen haben oft schon genug damit zu tun, ihren Alltag zu meistern – sich um ihre Kinder zu kümmern, eine Arbeitserlaubnis zu bekommen, Verwaltungsgänge zu absolvieren und sich in der Stadt zurechtzufinden“, sagt Sylvana Jahre. „Die gebaute Umwelt – die Materialität der Stadt – hat großen Einfluss darauf, wie sich Menschen in ihrem Umfeld bewegen.“ Für die Stadtverwaltung sei dabei die Frage zentral, wie sie die Menschen besser erreichen könne.

Routen festlegen: Bei einem Workshop entstanden individuelle Karten.
Routen festlegen: Bei einem Workshop entstanden individuelle Karten.

© Freie Universität Berlin

Eine unterstützende Stadtpolitik muss die Bedarfe der Menschen kennen

In den vergangenen Jahren seien viele Veränderungen angestoßen worden, ergänzt die Forscherin. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Verwaltung versuchten, sich den veränderten Lebensrealitäten in Berlin anzunähern, sich in multikultureller Hinsicht zu öffnen. So würden beispielsweise wichtige Informationen für die Stadtbevölkerung in verschiedene außereuropäische Sprachen übersetzt. 

Insbesondere im Kontext von Diskriminierung und Rassismus müsse aber noch viel mehr geschehen, gibt Sylvana Jahre zu bedenken. Berlin biete viele Vorteile für Hinzugezogene, auch wenn bürokratische Abläufe vieles verlangsamten und Wege holprig erschienen. Neuangekommene könnten oftmals auf Freundinnen und Freunde, Familienangehörige oder Bekannte vor Ort zählen, die ihnen das Einleben erleichtern. 

Es bestünden auch schon migrantische Communities, Orte der Gemeinschaft und Hilfsorganisationen. Nichtsdestotrotz stünden Menschen mit Fluchtgeschichte grundsätzlich vor großen Herausforderungen, hebt das Forschungsteam hervor: Wann erhalte ich einen dauerhaften Aufenthaltsstatus? Wie finde ich Arbeit? Wann und wie kann ich die Sammelunterkunft verlassen und eine Wohnung beziehen? „Wir müssen uns fragen, wie die Lebenswirklichkeit der Menschen aussieht. Wir müssen ihre Bedarfe kennen. Nur so kann die Stadtpolitik sie unterstützen“, sagt Sylvana Jahre.

Der angespannte Wohnungsmarkt ist international ein Problem

Die Ergebnisse des Projekts MAPURBAN können somit von hohem Wert für politische Entscheidungsträgerinnen und -träger sein. Für diese verfasst das Forschungsteam deshalb auch ein „Policy Paper“. Von zentraler Bedeutung sei dabei, dass Menschen mit Migrationsgeschichte eine gleichberechtigte Stimme erhalten, wenn über ihre Belange entschieden wird. Es komme dabei auf die gesamte Stadtgesellschaft an. 

„Das sehen wir auch in London und Stockholm, wobei die drei Städte im Hinblick auf Migration sehr unterschiedlich funktionieren“, erläutert Sylvana Jahre. „In London wird Vielfalt selbstverständlicher gelebt, sodass Politiken eher auf ältere Menschen oder auf alleinerziehende Menschen abzielen. Zugänge zum Gesundheitssystem sind in Stockholm viel einfacher als in Berlin, da die Gesundheitsversorgung in Schweden öffentlich organisiert ist.“ Allen drei Städten sei jedoch gemein, dass die Lage auf dem Wohnungsmarkt extrem angespannt ist.

Städte sind seit jeher Produkte von Migrationsbewegungen. Sie werden von Menschen, die zuziehen, angetrieben, verändert und bereichert. Auch Berlin lebt von Migration. Auf dem Weg zu einer gelebten Vielfalt sind allerdings noch einige politische Veränderungen notwendig.

Für den Inhalt dieses Textes ist die Freie Universität Berlin verantwortlich.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false