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In Hanau hielten Trauernde Fotos von den Opfern des Anschlags in die Höhe und legten Blumen nieder.

© Patrick Hertzog/ AFP

Hanau nach dem Anschlag: „Diese Tat hat unsere Stadt kollektiv traumatisiert“

Besonnen bleiben, das ist die Beschwörungsformel des Tages in Hanau. Dabei leben die Menschen hier längst danach. Eine Reportage aus der Stadt des Anschlags.

Im „Blind Rabbit“, der Kneipe schräg gegenüber dem ersten Tatort vom Mittwoch, sitzt am späten Donnerstagabend Ali Toprac an einer marmorgesprenkelten Theke mit einem Glas Cola. Vor ihm der Behälter mit den bunten Strohhalmen, an der Wand ein Fernseher. Sonst läuft hier Fußball, sagt der 47-Jährige, nun den ganzen Tag der Nachrichtensender n-tv. In Dauerschleife werden Momentaufnahmen aus Hanau gezeigt, die Polizeiabsperrungen, die Bilder der Toten und Verletzten. Immer wieder die Eingangstür der Shisha-Bar, die Toprac auch sehen kann, wenn er jetzt aus dem Fenster schaut.

Ali Toprac sagt, dass er eines der Opfer kannte, nur 20 Jahre alt sei es geworden. Der Onkel von Serdar, mit dem er zusammen Fußball spiele, sei ebenfalls tot. Und Ali Toprac sagt: „Ich habe große Angst.“

Seine Mutter kam aus der Türkei, als er Säugling war. „Ich habe das deutsche Wertesystem durch und durch verinnerlicht“, sagt er. „Ich bin so pünktlich, wenn ich 8.15 Uhr sage, meine ich 8.15 Uhr.“ Eine Weile habe er im Elferrat des örtlichen Faschingsvereins gesessen. „Beinahe wäre ich der verdammte Prinz geworden.“

Und jetzt müsse er fürchten, dass irgendein Fanatiker ankomme und ihn erschießt, nur weil er ein bisschen anders aussehe?

Jeder zweite hat Migrationshintergrund

Für Tobias Rathjen, den Mann, der am Mittwochabend in Hanau zehn Menschen tötete, wird Ali Toprac an diesem Abend auch noch die Bezeichnungen „Komplett-Irrer“, „wildgewordener Arsch“ und „Hinterwäldler“ übrig haben. Das ist ein seltsamer Zustand, sagt Toprac: gleichzeitig so wütend und so verängstigt zu sein.

Vielleicht die Hälfte der Menschen, die an diesem Abend im „Blind Rabbit“ zusammengekommen sind, haben Migrationshintergrund. Damit entspricht die Mischung der Kneipengäste ziemlich genau der Bevölkerung Hanaus. „Verhältnisse wie in einer Metropole“, sagt Toprac, „bloß dass wir eigentlich eine kleine Stadt sind.“ Eine wachsende allerdings, 100.000 Einwohner hat Hanau mittlerweile. Noch acht Tage vor dem Einmarsch der Amerikaner wurden 1945 mehr als 80 Prozent der Bausubstanz zerstört, die dann nahezu völlig neu erschaffene Stadt hat sich wie auch das nahegelegene Offenbach zum Industrie- und Chemiestandort entwickelt. Und damit zahlreiche Gastarbeiter angezogen: vornehmlich Italiener, Spanier und Türken.

Es gibt zehn Moscheen in Hanau. Unternehmen wie die Dunlop-Reifenwerke oder Evonik prägen den Arbeitsmarkt. Auf dem Gelände der Fabrik, in der einst Brennelemente für Kernkraftwerke hergestellt wurden, gibt es heute einen von Siemens geschaffenen Technologiepark. Der Flughafen Frankfurt ist lediglich 30 Kilometer vom Hanauer Stadtzentrum entfernt.

„Das wunderbare war: Es gab hier bisher keine rechte Szene“, sagt Topracs Thekennachbarin, die vor 14 Jahren aus Tschechien herzog. „Das war einfach nicht Teil unserer Realität.“ 2013 versuchte die NPD, eine Demonstration durch die Innenstadt zu organisieren, ein Vielfaches an Gegendemonstranten habe sich in den Weg gestellt, „es wurde eine Blamage für die Fremden.“ Mit Fremden meint sie die Rechtsextremen, die nach Hanau angereist waren.

Ein Mann verlor in der Nacht seinen Neffen

In einem Café auf dem Marktplatz sitzt Freitagvormittag Robert Erkan. Gründer des „Forums Gemeinsames Hanau“, einer kommunalen Wählergruppierung, in der sich Menschen, deren Eltern als Gastarbeiter oder Auswanderer nach Deutschland kamen, engagieren. Erkans Vater stammt aus Istanbul, die Mutter aus Zagreb. „Ich denke, dass diese Tat unsere Stadt kollektiv traumatisiert hat“, sagt er.

„Diese Tat hat unsere Stadt kollektiv traumatisiert“, sagt Robert Erkan.
„Diese Tat hat unsere Stadt kollektiv traumatisiert“, sagt Robert Erkan.

© Sebastian Leber

Er berichtet von einem Mann, der Mittwochabend seinen Neffen verlor. Der Mann war Anfang der 1980er aus der Türkei gekommen, „arbeitete hier 40 Jahre im Straßenbau, hat Hanau buchstäblich mitaufgebaut“. Für ihn sei nun eine Welt zusammengebrochen. „Wie soll er verstehen, was ihm da angetan wurde?“

Durchs Fenster sieht Erkan die Blumen und Grabkerzen, die Trauernde am Vorabend auf dem Marktplatz zur Gedenkfeier niedergelegt haben. Er sagt, eine Unterscheidung, wer in dieser Stadt welcher Nationalität angehöre, gehe an der Lebensrealität der Menschen vorbei. „Wenn du den Sohn eines Gastarbeiters fragst, ob er nun Deutscher ist oder nicht, versteht er im Zweifel die Frage nicht. Der sagt: Ich bin Hanauer.“

Also einer, der rüber nach Frankfurt fährt, wenn er in die große Stadt will. Der sich selbst für einen Kleinstadtbewohner hält. Und der in der Schule gelernt hat, dass die Brüder Grimm hier herkommen und deshalb jeden Sommer drüben im Amphitheater die Märchenfestspiele stattfinden.

Wer sich in diesen Tagen in der Stadt umhört, mit Menschen auf den Straßen, in Cafés, auf dem Marktplatz spricht, der vernimmt diese Deutung tatsächlich öfter: dass Mittwochnacht Hanauerinnen und Hanauer aus ihrem ganz normalen Hanauerleben gerissen wurden.

Es geht das Gerücht, der Täter habe nicht allein gehandelt

In Sichtweite der Shisha-Bar „Midnight“ steht eine kleine Gruppe junger Menschen vor den Absperrbändern der Polizei. Sie rätseln darüber, ob sich die Leichen der Erschossenen wohl noch im Lokal befinden. Einer weiß zu berichten, dass wenige Stunden zuvor erst ein Mann hier war, der seine ermordete Tochter sehen wollte. Die Polizei habe ihn nicht zu ihr lassen lassen können, die Spurensicherung sei noch nicht fertig gewesen.

Zur Sorge unter den Hanauern trägt auch bei, dass das Gerücht kursiert, der Täter habe nicht allein gehandelt. Menschen erzählen von Augenzeugen, die angeblich gesehen haben, wie ein breit grinsender Mann mit gezogener Pistole in die Shisha-Bar gestürmt sei, kurz bevor die Schüsse fielen. Dieser Mann habe überhaupt nicht wie derjenige ausgesehen, dessen Foto jetzt im Fernsehen gezeigt werde. Ein anderer will gehört haben, dass jemand gesehen hat, dass zwei Autos am Tatort waren, mindestens vier Täter ausstiegen.

Die Polizei sagt: Dafür gibt es keine Anhaltspunkte. Und so ist es. Aber Gerüchte sind schneller weitergegeben als dementiert.

In einer Turnhalle hat die Stadtverwaltung ein „Betroffenen-Informationszentrum“ eingerichtet. Der türkische Botschafter hat hier den Familien einiger Getöteten kondoliert. Auch Edgar Franke, der Opferbeauftragte der Bundesregierung, ist angereist, hat sich in einem Hotel gegenüber eines der Tatorte einquartiert. Er ist gekommen, um Angehörigen zuzuhören, deren Interessen zu vertreten und Soforthilfe zu organisieren, 30.000 Euro pro Elternteil eines Verstorbenen sind möglich.

„Ich möchte aber niemanden bedrängen“, sagt Franke. „Ich muss unbedingt den Eindruck vermeiden, hier kommt ein Politiker, der sich auf Kosten der Opfer profilieren will.“ Das Sich-Zurücknehmen sei mit das Wichtigste in seinem Job. Deshalb wartet er, bis die Angehörigen von sich aus den Kontakt suchen. In der Turnhalle, die jetzt Informationszentrum ist, hat er Flyer mit seiner Telefonnummer ausgelegt. „Damit sie wissen: Ich bin hier und bin bereit.“

"Alle Menschen mit Gewissen müssen sich zusammentun"

Es könne aber auch gut sein, dass die ersten Angehörigen erst am Montag oder Dienstag bereit sind zum Reden. Oder noch viel später. Nach dem Terroranschlag vom Berliner Breitscheidplatz hätten sich manche Betroffene erst nach mehr als zwei Jahren gemeldet.

An einem Türgriff des Cafés, in dem zahlreiche Menschen starben, hat jemand eine Rose neben einem Siegel der Polizei angebracht.
An einem Türgriff des Cafés, in dem zahlreiche Menschen starben, hat jemand eine Rose neben einem Siegel der Polizei angebracht.

© Odd Andersen/ AFP

Freitagmittag, kurz nach 13 Uhr in der Gärtnerstraße, fünf Laufminuten vom Marktplatz entfernt. Im ersten Stock der örtlichen Moschee eröffnet Imam Mustafa Bozkurt das Freitagsgebet. Der Saal ist voller als sonst, 250 Gläubige quetschen sich auf weichem Teppichboden. „In unserer schönen Stadt Hanau“, sagt der Imam, sei Unvorstellbares passiert. „Ausgerechnet in unserer schönen Stadt Hanau.“

Er sagt, alle Menschen mit Gewissen, alle Gerechten, alle mit Menschlichkeit müssten sich nun zusammentun, um den Rassismus zu bekämpfen. Den Islamhass, auch den Antisemitismus. „Wir haben alle die Verantwortung, Europa zu einem Ort zu machen, in dem Unterschiede als Gewinn gesehen werden.“ Und dann warnt Mustafa Bozkurt: Für Muslime sei es jetzt oberste Pflicht, besonnen zu bleiben. „Wir dürfen Unterdrückung niemals mit Unterdrückung beantworten.“

Eine Dreiviertelstunde später, 20 Minuten Fußweg Richtung Main, beginnt auch in der Ahmadiyya-Moschee das Freitagsgebet. Abdullah Uwe Wagishauser, der Bundesvorsitzende der Ahmadiyya-Gemeinde, erinnert zuvor ebenfalls daran, wie wichtig angesichts „des Gifts“ in der Gesellschaft „das Gegengift“ sei, die Besonnenheit, Menschen, die sich „engagieren für die helle Seite des Landes“. Wie wichtig Bildung ist und Sozialarbeit, „man weiß es, aber trotzdem interessiert es uns nicht.“ Er erinnert, das „Wahn und Radikalismus“ sich gegenseitig befeuern.

Wer gute Manieren hat, buht niemanden aus

„Liebe für alle, Hass für keinen“ ist das Motto der Ahmadiyya-Gemeinde. Ein „Liebe für alle, Hass für keinen“-Schriftzug stand auf einem Auto, was in der Mittwochnacht von Tobias Rathjen beschossen wurde.

Das fällt auf: Appelle zur Besonnenheit hört man seit dem Anschlag in Hanau quasi an jeder Ecke, immer ausgesprochen von Menschen mit Migrationshintergrund, vor allem türkischem, gerichtet an andere Menschen mit Migrationshintergrund. Jetzt bitte keine Gründe liefern, die Gräben zur Mehrheitsgesellschaft zu vertiefen. Jetzt nicht das tun, was sich ein Mörder wie Tobias Rathjen erhofft hat.

Im vergangenen Juni war die Sorge schon einmal in Hanau angekommen, für wenige Tage nur. Da war im nahen Wächtersbach ein Mann aus Eritrea auf offener Straße aus einem fahrenden Auto heraus angeschossen wurden. Einfach weil er schwarz war.

„Und natürlich bekommen wir hier auch in Hanau, in unserem kleinen Multi-Kulti-Paradies mit, wie sich das Klima im Land verschärft hat“, sagt Ali Toprac an der marmornen Theke des „Blind Rabbit“. Wie die AfD Deutschland verrohe. Wie sich Menschen immer weniger dafür schämten, offen ihren Rassismus zu zeigen. Wie dreist auch die bürgerlichen Parteien am rechten Rand nach Stimmen fischten.

Am frühen Donnerstagabend war Ali Toprac bei der Mahnwache auf dem Marktplatz, schaute sich die Auftritte der Politiker an. Er sagt: „Ich habe da nichts gehört, was meine Angst mindert.“

Was Deutschland jetzt brauche, seien „keine schönen Worte, sondern Maßnahmen, die uns schützen“. Wenn Politik die Minderheiten einer Gesellschaft nicht schützen könne, tue sie entweder zu wenig oder das falsche. Und dann sagt Toprac, er habe es als einen Affront empfunden, dass „ein Zündler wie Horst Seehofer dort auf der Bühne stehen durfte“. Und Volker Bouffier, Hessens Ministerpräsident, dessen Partei im Nachbarbundesland im Osten zusammen mit Björn Höcke „aus Versehen“ einen Landeschef gewählt habe. „Wem so etwas tatsächlich aus Versehen passiert, ist hochgradig ungeeignet.“ Ali Toprac sagt auch: „Meine guten Manieren verboten mir, diese Leute auszubuhen.“

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