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Am Tag nach dem Anschlag legen Menschen Blumen an der Synagoge nieder, trauern gemeinsam.

© Fabrizio Bensch/REUTERS

Halle nach dem Anschlag: „Für Juden ist das fast überall auf der Welt denkbar“

Sie lasen aus der Thora, da kam der Knall. Nur durch Glück entgingen die Menschen in der Synagoge dem Attentäter. Die Stadt steht unter Schock. Eine Reportage.

Das Gefühl, das ihm vom Tag zuvor am stärksten in Erinnerung geblieben ist, sei wohl die Dankbarkeit, sagt Ezra Waxman. Einfach Dankbarkeit, dass er diese Momente überleben durfte. Dass auch seine Freunde noch leben. Dass der Attentäter sein Werk nicht vollenden konnte. Letztendlich: dass die Holztür am Eingang der Synagoge hielt.

Ezra Waxman, 31, steht am Morgen danach auf dem Bürgersteig vor der hohen Steinmauer, die das Grundstück der jüdischen Gemeinde schützt. Waxman sieht die Einschusslöcher in der Eingangstür, das zersplitterte Holz, auch die Dellen dort, wo der Täter versuchte, die Tür einzutreten. Waxman ist jetzt genau an der Stelle, wo am Mittwoch keine Polizei war, um das Gebäude während des höchsten jüdischen Feiertags zu schützen. „Das begreife ich nicht“, sagt er.

Später am Tag werden noch viele andere über diesen Bürgersteig gehen. Der Präsident des Zentralrats der Juden zum Beispiel, der Bundes- und der Ministerpräsident, der Landes- und der Bundesinnenminister. Frank-Walter Steinmeier wird von einem „Tag der Scham und Schande“ sprechen.

Für Ezra Waxman war es der erste Besuch in der Synagoge von Halle. Er ist US-Amerikaner, lebt seit zwei Monaten in Berlin-Köpenick. Mittwochmorgen war er mit einem Dutzend Freunden angereist, sie hatten gehört, es gebe in Halle eine kleine jüdische Gemeinde, die am Feiertag sicher Unterstützung und junges Leben vertragen könne.

Ihre Feier sei sehr berührend gewesen. Bis der erste Knall kam. Waxman spricht von der Angst, der stundenlangen Ungewissheit, was draußen passiert, und wie ruhig die Gemeindemitglieder blieben. Er sagt auch: „Mir war bewusst, dass so etwas jederzeit passieren kann. Für einen Juden ist das fast überall auf der Welt denkbar.“

Ezra Waxman kam aus Berlin nach Halle.
Ezra Waxman kam aus Berlin nach Halle.

© Sebastian Leber

Ezra Waxman weiß eine Menge darüber, was Antisemitismus in Europa angerichtet hat und heute anrichtet. Seine Großeltern stammen aus Polen, und auch in seinen zwei Monaten in Berlin hat er bereits Judenfeindlichkeit erlebt. Aber jetzt, nach dem Tag in Halle, nach diesem Schock, kommen ihm diese Erfahrungen so lächerlich und nichtig vor, dass er lieber gar nicht darüber reden möchte.

Er dachte: Heute werde ich sterben

Roman Yossel Remis, ebenfalls 31, war am Mittwoch der Vorbeter beim Gottesdienst. Auch er ist aus Berlin angereist, in der Hauptstadt betet er in der Synagoge Beth Zion in der Brunnenstraße. An diesem Mittwoch lasen sie gerade aus der Thora, der erste Knall. Sie unterbrachen, liefen zum Monitor, der die Bilder der Überwachungskameras draußen ins Innere überträgt.

Sie waren sich nicht sicher, ob der Mann in Kampfmontur vielleicht ein Polizist ist, der von Anwohnern alarmiert wurde und es einfach sehr schnell zum Tatort geschafft hatte. Als sie sahen, wie dieser Mann dann auf eine Passantin schoss und die reglos auf der Straße liegen blieb, hatten sie keine Zweifel mehr. Remis dachte: Heute werde ich sterben. „Es war nur diese eine Tür zwischen uns, der einzige Sicherheitsmann im Gebäude unbewaffnet.“

Einschusslöcher an der Tür der Synagoge.
Einschusslöcher an der Tür der Synagoge.

© Jan Woitas/dpa

Die meisten der etwa 50 Anwesenden eilten die Treppe hinauf ins obere Stockwerk, schlossen sich im hintersten Raum ein, verbarrikadierten diese Tür mit Möbeln. Roman Yossel Remis sagt, er und sechs andere Männer seien unten geblieben. Sie wollten sich dem Täter, sollte dieser die Eingangstür aufbrechen, in den Weg stellen und sich wehren. Remis sagt, die Zeit an dieser Tür komme ihm im Rückblick quälend lang vor. „Und trotzdem kamen wir in der Hektik nicht einmal auf die Idee, uns zu bewaffnen, wenigstens nach einem Messer zu suchen.“ Sie standen einfach da und hofften.

Weil sich der Täter so lange an verschiedenen Eingängen zum Grundstück zu schaffen machte, gibt es dutzende Zeugen aus der Nachbarschaft. Er wurde aus Fenstern der angrenzenden Häuser beobachtet und gefilmt, etliche Passanten gingen an ihm vorbei, ohne etwas zu sagen. Eine Frau, berichten Anwohner, habe ihn angebrüllt, er solle sofort aufhören und verschwinden. Als der Täter sich ihr zuwandte, habe sie sich in einen Hauseingang retten können. Das war kurz, bevor er die andere Frau niederschoss.

Die Angst war stärker

René Friedrich hat den Täter gleich zwei Mal gesehen. Und macht sich jetzt Vorwürfe, dass er nicht versucht hat, ihn zu stoppen. Die Angst war stärker, sagt der 49-Jährige, vor allem der Fluchtinstinkt. Das erste Mal sah ihn René Friedrich, als der direkt vorm Eingang der Synagoge stand. Friedrich saß in seinem Wagen, wollte zur benachbarten Bäckerei, es ist seine. Der Täter war keine fünf Meter von ihm entfernt, sagt Friedrich, beachtete ihn aber nicht. Das eine Gewehr hing um die Schulter des Mannes, das andere stand gegen die Mauer gelehnt. Auf dem Boden lag eine Frau, Friedrich wusste nicht, ob sie noch lebte. Er schaltete den Rückwärtsgang ein und fuhr davon.

René Friedrich wählte zwei Seitenstraßen – und traf wenig später erneut auf den Täter. Diesmal saß dieser am Steuer eines Wagens, wollte die Straße runter nach Süden fahren. Ihre Wagen begegneten sich an der Kreuzung, der Täter kam von links.

René Friedrich hielt erschrocken an, überließ ihm die Vorfahrt, der Mann wirkte ganz ruhig in seinem Wagen, nur der Stahlhelm auf dem Kopf fiel auf. Heute denkt Friedrich: Hätte ich an dieser Kreuzung einfach Gas gegeben, ich hätte den Wagen rammen können. Es hätte alles anders enden können. Ganz sicher hätte es der Täter dann nicht zum Dönerladen geschafft. Ganz sicher würde das zweite Todesopfer heute noch leben. Das ist ein Gedanke, sagt Friedrich, der ihn jetzt arg beschäftigt.

Eineinhalb Kilometer südlich der Synagoge, auf dem Marktplatz in der Altstadt, haben sich am Abend des Anschlags 500 Menschen zu einer Mahnwache versammelt. Zünden Kerzen an, schweigen, stehen im Nieselregen.

Ein stilles Gedenken auf dem Marktplatz in Halle.
Ein stilles Gedenken auf dem Marktplatz in Halle.

© Swen Pförtner/dpa

Das Bündnis „Halle gegen Rechts“ hat die Mahnwache organisiert. Sprecher Valentin Hacken sagt, die Stadtverwaltung habe sich dem Aufruf leider nicht anschließen wollen. Der 28-jährige Jurastudent weiß auch von vielen, die gern gekommen wären, denen es die Eltern aber verboten hätten, aus Angst, es könne doch noch ein bewaffneter Komplize in der Stadt herumirren. Hacken freut, dass trotzdem so viele zum stillen Gedenken gekommen sind.

„Er hat sich seine kranke Ideologie nicht selbst ausgedacht“

Manche sagen, ihnen sei eigentlich gar nicht zum Schweigen zumute, eher zum Schreien. Eine Frau von Mitte 20 zum Beispiel. Sie mache wütend, sagt sie, dass nun schon wieder von einem Einzeltäter die Rede sei. Dies sei möglicherweise, wortwörtlich genommen, formal korrekt, da ja offenbar nur eine Person um sich schoss. Doch die Erzählung vom Einzeltäter führe in die Irre. „Dieser Mann hat sich schließlich nicht alleine radikalisiert, sich seine kranke Ideologie nicht selbst ausgedacht.“ Er sei beeinflusst worden durch ein Umfeld, und sei es nur in wirren Internetforen. Der junge Mann neben ihr hat eine Israelflagge mitgebracht. Er sagt: „Von einem Einzeltäter zu sprechen ist genauso Blödsinn wie die Behauptung, der NSU habe nur aus drei Leutchen bestanden oder der Mörder von Walter Lübke habe im luftleeren Raum agiert“.

Roman Yossel Remis, der Vorbeter des Gottesdienstes, sagt, er habe an diesem Tag begriffen, was es bedeute, ein Jude zu sein im Deutschland des Jahres 2019. Und er ist konsterniert über die Reaktionen, die er jetzt wahrnimmt. „Es freut mich sehr, dass 500 zur Mahnwache nach Halle kommen. Aber ganz ehrlich: Warum sind es nicht viele Tausende?“

Wütend macht manche auf dem Marktplatz auch der Gedanke, dass der Täter erreicht habe, was er beabsichtigte. Sein Gesicht, sein Name, Details seiner Videos, seine Botschaft, das alles wird der Öffentlichkeit in Erinnerung bleiben. Eine Teilnehmerin der Mahnwache fürchtet: Die Spuren, die der Mörder an diesem Tag gelegt hat, werden möglicherweise andere Fehlgeleitete zu ähnlichen Taten inspirieren, so wie der Mörder von Halle sich möglicherweise von jenem Mörder inspirieren ließ, der im März dieses Jahres in Neuseeland 51 Menschen in Moscheen erschoss.

Am besten, sagt sie, sollte man gar nicht über den Täter sprechen, ihn komplett totschweigen. Dass dies keinesfalls passieren wird, erlebt die Frau an diesem Abend auf dem Marktplatz. Einige Teilnehmer haben Kopien der Tätervideos auf ihren Smartphones. Sie sprechen darüber, dass sich der Schütze inszeniert, als sei er der Hauptprotagonist eines blutigen Computerspiels. Und dass er kolossal versagte, was offensichtlich viele Menschenleben gerettet habe.

Die Kommentare machen ihn fassungslos

Die Videos dokumentieren es deutlich. Mal hat das Gewehr Ladehemmung, mal findet der Attentäter seine Munition nicht. Die Granate, die er in den Dönerladen werfen will, prallt am Türrahmen ab. Der Täter sagt Sätze wie „One time loser, always loser“ oder „I’m a fucking Niete.“ Einmal sagt er: „Alle Waffen haben versagt!“ Sein Fehlschläge sind so zahlreich, dass sich im Netz Rechtsradikale zu Wort melden und behaupten, es handele sich um eine sogenannte „False flag“-Aktion, dass der Schütze in Wahrheit also gar nicht rechtsextrem sei, sondern Rechtsextreme nur in Verruf bringen wolle.

Was Valentin Hacken vom Bündnis „Halle gegen Rechts“ fassungslos macht, sind die Kommentare, die er jetzt von Politikern hört. Wie die CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer die bestialische Tat allen Ernstes lediglich als „Alarmzeichen“ habe bezeichnen können. Wie andere Hochrangige sagen, so ein Anschlag sei „unvorstellbar“ gewesen. In welchem Deutschland leben die?, fragt sich Valentin Hacken. Noch widerlicher findet er Versuche von AfD-Leuten, sich „jetzt als Trauernde darzustellen“, nach all dem Hass, dem obsessiven antisemitischen Wahn, der immer wieder von Mitgliedern dieser Partei verbreitet werde.

Hackens Bündnis „Halle gegen Rechts“ engagiert sich seit Jahren gegen die Rechtsextremen in der Stadt. Gegen Demagogen wie den Hallenser Versandhändler Sven Liebich, der früher beim Neonazi-Netzwerk „Blood & Honour“ aktiv war und heute rassistische Aufkleber vertreibt. Gegen die Rechtsextremen von der Identitären Bewegung, die in Halle ein Zentrum betreiben. Gegen organisierte Neonazi-Kameradschaften.

Am Freitag, sagt Hacken, wollte „Halle gegen Rechts“ eigentlich eine Demonstration durchführen, erst vor das Haus der Identitären ziehen, dann rüber zu einem Verein, wo am Abend die Dresdner Buchhändlerin Susanne Dagen sprechen sollte. Aktivisten der sogenannten Neuen Rechten hatten sich angekündigt. Das alles, die Kämpfe, die sie sonst führen, tritt jetzt in den Hintergrund. Nicht, weil sie weniger dringlich geworden seien, sagt Valentin Hacken. Sondern weil das Grauen, die Menschenfeindlichkeit nun noch einmal übertroffen wurden.

Hacken und „Halle gegen Rechts“ sind nicht allein damit. Für den Donnerstagabend hat der Verein „Zeitgeschichte“ die Hallenserinnen und Hallenser dazu aufgerufen, zum Händeldenkmal auf dem Marktplatz zu gehen. Mit Kerzen.

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