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Tod nach der Geburt. In Haiti sterben viele Mütter bei oder nach der Geburt ihrer Kinder, weil es in den Dörfern keine medizinische Hilfe gibt.

© Ingrid Müller

Tod nach der Geburt: Ein haitianischer Arzt kämpft für die Gesundheit

In Haiti sterben auf dem Land so viele Schwangere wie nirgendwo sonst in der Karibik. Die eigenen Ärzte arbeiten lieber im Ausland. Jean Gardy Marius und seine Organisation Osapo wollen das ändern.

Mit einem dumpfen Schlag setzt der elfenbeinfarbene Sarg auf der Geröllpiste auf. Beim Hochwuchten sind die Metallbeschläge abgebrochen. Ratlose Gesichter in Haitis Mittagshitze. Wie sollen sie Mireille jetzt nach Hause bringen? Das halbe Dorf ist nach Rousseau gekommen, diesen Weiler rund 100 Kilometer nördlich der Hauptstadt Port-au-Prince, um die Frau heimzuholen. Es ist die Leiche einer jungen Mutter. Sie hat ihre Zwillinge daheim zur Welt gebracht. Es gab Komplikationen, aber als man sie Tage später die sechs Stunden hierher zu den Ärzten trug, war es zu spät.

Jetzt öffnen sie den Deckel, sie wollen sehen, ob im weißen Tüll, der aus dem Sarg quillt, wirklich die 37-Jährige liegt. Das ist üblich, denn sie sind von der Familie geschickt worden, um die Leiche abzuholen, die das Tap Tap, der bunte Minibus vom Leichenkühlhaus bis hierher ans Ende der Piste gebracht hat, erklärt der Chef der Krankenstation, Jean Gardy Marius, die bizarr anmutende Szene, während er sich mit einem weißen Frotteetuch den Schweiß vom mächtigen Schädel wischt.

Für 10 000 Menschen gibt es weniger als drei Ärzte

Noch immer entbinden gut drei Viertel der Frauen zu Hause, die traditionellen Hebammen sind meist nicht ausgebildet, viele von ihnen nie in irgendeine Schule gegangen. 52 von 1000 Kindern sterben bei der Geburt und 625 von 100 000 Frauen, es ist die höchste Todesrate in der Karibik. Gardy Marius will das ändern. 2007 ist der studierte Mediziner auf Bitten eines Freundes nach 13 Jahren in der Dominikanischen Republik zurückgekehrt, er hat die Organisation Osapo mit gegründet, die Menschen jenseits der Hauptstadt auf dem Land helfen will, denn dort leben rund 60 Prozent der Bevölkerung. Die Abkürzung Osapo steht für Volksgesundheit.

Am Tag, als sie mit ihrer ersten mobilen Klinik starteten, kamen 1300 Patienten, so groß war der Bedarf, berichtet der 43-Jährige. Er rattert die Zahlen nur so runter. Er weiß, was Spender in Europa wissen wollen: Auf 10 000 Menschen kommen gerade mal 2,37 Ärzte, bei den Nachbarn in der Dominikanischen Republik sind es 100, auf Kuba 125, die Todeszahlen um ein Vielfaches niedriger. „Wir haben mehr haitianische Ärzte außerhalb Haitis als im Land“, klagt der Hüne im schwarzen Dress, während er  Behandlungsräume und Apotheke zeigt, die mit Hilfe der deutschen Organisation Action Medeor entstanden sind. „Wir haben gute Medikamente aus Deutschland“, sagt Gardy Marius. Aber anders als in vielen Projekten internationaler Helfer bekommen seine Patienten sie nicht kostenlos. „Wir wissen, dass die Leute sehr wenig haben, aber sie müssen auch was zahlen.“ Für Behandlung, Labor und Medikamente verlangen sie 150 Gourdes, umgerechnet gut 2 Euro 60. Das klappt, obwohl 80 Prozent der Haitianer von weniger als zwei Dollar am Tag leben. Ihr Erfolg scheint ihnen Recht zu geben. Inzwischen versorgt Osapo 52 000 Menschen in 23 Dörfern.

Sauberes Trinkwassser ist besonders wichtig, damit die Menschen gesund bleiben. Zur Gesundheitsstation gehört deshalb auch eine Anlage, wo die Leute Wasser kaufen können.
Sauberes Trinkwassser ist besonders wichtig, damit die Menschen gesund bleiben. Zur Gesundheitsstation gehört deshalb auch eine Anlage, wo die Leute Wasser kaufen können.

© Ingrid Müller

Manches allerdings wird es trotz der Unterstützung auch hier so schnell nicht geben. Im Behandlungszimmer gibt es zum Beispiel eine Buchstabentafel, um die Sehkraft zu testen. Aber ein Augenarzt kommt nur alle zwei Monate her. Kataraktpatienten überweisen sie ins Krankenhaus. Aber eine Brille verschreiben? „Ein Rezept für eine Brille, das wäre reine Verschwendung. Kein Mensch auf dem Land kann sich eine Brille leisten“, antwortet Gardy Marius knapp. Manchmal brächten aber Missionare gespendete Brillen mit.

„Wir setzen auf Vorsorge, damit die Menschen nicht krank werden“, sagt der Arzt: ihre Arbeit teilt sich in 60 Prozent Informationen über Hygiene und Ernährung, denn sie sind wichtig, damit die Menschen gesund bleiben, nur 40 Prozent machen Behandlungen aus. Sie bauen Latrinen, produzieren sauberes Trinkwasser und zeigen den Anbau von Gemüse und dessen Verwendung in der Küche, denn auch hier auf dem Land wissen viele nicht mehr, was sie aus den Früchten der Erde kochen können. Fürs Wasser müssen die Leute zahlen, allerdings weniger als auf dem Markt. Gardy Marius weiß, wie Bilder wirken: Er hat sich ein Glas mitgebracht und zapft demonstrativ für sich selbst ein Glas Wasser.

„Als wir kamen, hatten nur sieben Prozent der Menschen hier eine Toilette und 85 Prozent tranken Wasser aus dem Fluss.“ Nicht zuletzt nach dem Ausbruch der Cholera (die war in diesem Frühsommer kein Problem, die UN erwarten aber für die Regenmonate bis Ende des Jahres mehr als 100 000 Fälle) zeigen sie den Menschen auch, wie wichtig das Händewaschen ist. Ganz konsequent sind sie bei der Hygiene allerdings selbst nicht. Auf der hauseigenen Toilette gibt es zwar einen kontaktfreien elektrischen Seifenspender, allerdings spendet er keine Seife. Ein Handtuch oder Ähnliches: Fehlanzeige.

Mehr als ein Drittel der Kinder unter fünf und ein Gutteil der Schwangeren überleben deshalb nicht, weil sie unterernährt sind. Außerdem haben auch immer mehr Haitianer Diabetes, Bluthochdruck und schlechte Cholesterinwerte, weil sie Fast Food essen. Um die gesunde Ernährung zu fördern, gehören zum Osapo-Projekt auch ein Gemüsegarten und eine Hühnerzucht 15 Minuten Fußweg von der Krankenstation entfernt.

"Für einen Ausländer ist das Leben hier schwierig"

„Sie müssen schon sehr haitianisch sein, um das hier zu machen“, seufzt der Arzt, der selbst die Annehmlichkeiten der Kliniken in den USA und Kanada kennt. Er glaubt, nur Haitianer haben wirklich den Willen, langfristig auf dem Land zu arbeiten. „Für einen Ausländer ist es sehr schwierig, hierher zu kommen und zu bleiben und jeden Tag die Probleme der Menschen zu verstehen. Das können nur Haitianer.“

Aber er hat auch ganz grundsätzliche Kritik am Auftreten vieler Hilfsorganisationen.

Jean Gardy Marius hat mit Kollegen die Organisation Osapo gegründet. Sie setzen sich für medizinische Hilfe in ländlichen Gebieten Haitis ein.
Jean Gardy Marius hat mit Kollegen die Organisation Osapo gegründet. Sie setzen sich für medizinische Hilfe in ländlichen Gebieten Haitis ein.

© Ingrid Müller

„Internationale Nichtregierungsorganisationen gucken nicht nach nachhaltigen Projekten, sie gucken danach, dass sie möglichst sichtbar sind, also ihr Logo gut an einer Hauptstraße zu sehen ist“, schimpft er, während er Richtung Garten stapft. Deutschen hält er zugute, dass sie auch in ländlichen Gegenden helfen. Immerhin hat er aus Deutschland schon eine Million Dollar bekommen. Seine Krankenstation ist nach Einschätzung einheimischer Patienten sauberer und besser ausgestattet als die Klinik in Leogane, einer der größeren Städte des Landes. Die Europäer schauen auch nach Qualität, sagt Gardy Marius nun versöhnlicher. Auf die Amerikaner ist er sauer. „Die gucken nur nach Quantität. Sie geben dir Geld und schreiben dir vor, wie viele Patienten du dafür behandeln musst. Aber wir behandeln gut. Darum arbeiten wir nicht mit Amerikanern.“ Was allerdings nicht für den Austausch mit Kliniken gilt, kurz nach dem Treffen fliegt Gardy Marius zu einer Fortbildung in die Staaten. Dort will der Haitianer mit gutem Gespür für Selbstvermarktung auch sein Buch herausbringen. Darin soll es um seine eigene Geschichte gehen, sie ist ein modernes haitianisches Märchen: Mit elf ist er von zuhause abgehauen, weil er den neuen Mann der Mutter krankenhausreif geprügelt hat, denn der schlug die Mutter (er tat es mit deren Einverständnis, sagt er). Er lebte mit anderen Kindern auf der Straße, hatte mit 13 einen Unfall, der ihm eine dicke Narbe am Kopf eintrug. Dann traf er einen Missionar, der Chirurg war, dem er assistierte. Ein anderer Missionar aus Michigan schickte ihn mit 15 wieder auf die Schule und zahlte sein Studium in der Dominikanischen Republik. Dafür habe er versprechen müssen, in sein Land zurückzugehen. 2006 war es so weit, viele Freunde verstanden ihn nicht. Schließlich überredete er selbst andere, wiederzukommen: „Ich bin hier am richtigen Platz.“ Dann kam 2010, das Beben. Einige der Freunde starben. „Mit einem von ihnen habe ich in seinen letzten Minuten geredet.“ Gardy Marius stockt. „Er hat gesagt, ich muss jetzt sterben, aber ich will, dass du verstehst, dass du nicht schuld daran bist. Mach weiter.“ Die Szene gefriert in der Mittagssonne. Tränen glitzern in Gardy Marius’ Augen, seine Stimme bricht, er fährt sich mit dem Handtuch über die Augen. Dann streckt er sich: „Kann ich aufhören? Nein. Ich muss weitermachen.“ Und: „Dieses Land wird nicht auf die Beine kommen ohne die Haitianer.“ Dann schaut er auf die umliegenden Hügel: „Wenn heute jemand vom Dorf kommt, sehe ich meine eigene Mutter. Sie war fünfmal schwanger und hat nie einen Arzt gesehen.“  

Eine Aufgabe für eine ganze Generation

Der Arzt mit der bewegten Geschichte will, dass die Schwangeren zur Entbindung in die Station kommen. Dafür bilden sie Hebammen aus, die unterschreiben müssen, dass sie anschließend in ihre Gemeinde zurückkehren. Dann können sie Komplikationen erkennen und Schwangere rechtzeitig zum Arzt bringen. Es wird lange dauern, das Denken der Menschen zu ändern. „Sicher 20, 25 Jahre, sagt Gardy Marius, und schaut auf die Gruppe mit dem Sarg. In La Colline gibt es nicht einmal eine ungelernte Hebamme.

Inzwischen haben sich zwei Männer Mireilles Sarg auf die Köpfe gehievt, die Truppe zieht mit wiegenden Schritten die Anhöhe hinauf. Sie werden bis in die Nacht unterwegs sein, sich abwechseln, singen und sogar tanzen, damit die Zeit nicht lang wird, erzählt der Arzt. Die Stimmung wird sich ändern, sobald sie in La Colline sind. Dort werden sie mit der Familie trauern. Die Zwillinge werden nicht dort sein. Der Witwer hat sie an ein Ehepaar aus Rousseau gegeben, sie haben das per Vertrag besiegelt. Er hat schon drei Kinder und wusste nicht, wie er die beiden ohne seine Frau auch noch aufziehen sollte.

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