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Günter Schabowski im Oktober 2007 in Berlin.

© dpa

Günter Schabowski ist tot: Der Mann, der aus Versehen die Mauer öffnete

Selten hat ein Stammeln im Weltengetriebe so viel bewirkt wie das von Günter Schabowski. Der Mann, der am 9. November 1989 die Mauer öffnete, brach nach der Wende mit Ideologie und Genossen. Jetzt starb er mit 86.

Von Matthias Schlegel

Was muss das für ein Leben gewesen sein? Ein Leben in zwei Hälften. In der ersten läuft der Mensch einem Ideal nach, das sich immer weiter entfernt, je mehr er sich dafür engagiert, und verwebt sich dennoch immer tiefer in dieses ideologische System. Oder, wie es der Sprache der damals Herrschenden angemessener ist: Er kämpft als Genosse über Jahrzehnte unverbrüchlich dafür. Und doch rennen ihm die Leute einfach weg, immer mehr.
In der zweiten Hälfte dieses Lebens rechnet der Mensch, desillusioniert, mit diesem Ideal ab und setzt sich damit der Feindschaft all jener aus, die in der ersten Hälfte noch Kampfgefährten waren. Er muss sich überdies immer wieder den Vorwurf gefallen lassen, er sei die Personifizierung eines „Wendehalses“. Jener aus der Tierwelt entlehnte Begriff bezeichnete nun jene Leute, die sich scheinbar gewissenlos von einstigen Überzeugungen abkehrten und sich bruchlos in den neuen Überzeugungen einrichteten.
Für Günter Schabowski war die Schwelle von dem einen zu dem anderen Leben genau durch einen einzigen Tag, ein einziges Ereignis markiert, das den immer etwas schwammig und farblos wirkenden SED-Funktionär plötzlich ins kollektive Bewusstsein der Weltöffentlichkeit rückte: Er war an jenem 9. November 1989, einem Donnerstag, dazu bestimmt – nicht von der Weltgeschichte, sondern von seinen Genossen im Politbüro –, nach der Sitzung des SED-Führungszirkels dessen Ergebnisse den im Internationalen Pressezentrum in der Berliner Mohrenstraße wartenden Journalisten mitzuteilen. Es ging um eine neue Reiseregelung zwischen Ost und West.

Wohl niemand hatte die Explosivität dieser dürren Worte vorausgesehen, und viele sollten ihre Tragweite auch dann nicht begreifen, als sie von Schabowski ausgesprochen worden waren. Denn dass Reisen in die Bundesrepublik künftig auch ohne Vorliegen besonderer Reisegründe bei jeder Polizeidienststelle beantragt werden könnten, erschien manchen als ein weiterer Winkelzug der DDR-Oberen, um den Reisestrom zu kanalisieren – im behördlichen Nirwana würden am Ende dann doch wieder mehr Versagungen als Genehmigungen herauskommen.

Es war ganz anders gedacht

Doch die Nachfrage eines Journalisten, ab wann denn das gelte, löste jene Eigendynamik aus, die erst die Schlagbäume an der Bornholmer Straße öffnete, dann die „Wir sind ein Volk“ skandierenden Leute auf die Straße trieb, die Einheitsbefürworter in die Regierung votierte und schließlich die deutsche Einheit elf Monate später bewerkstelligte. „Nach meiner Kenntnis gilt... ist das... sofort... unverzüglich“. Selten hat ein Stammeln im Weltengetriebe so viel bewirkt wie in diesem Fall. Dabei war alles ganz anders gedacht, wie Günter Schabowski im November 2009, schon von seiner Krankheit gezeichnet, dem Tagesspiegel in einem seiner letzten großen Interviews sagte. Es ging der SED darum, sich wieder mit dem Volk der DDR zu versöhnen. „Ich habe mir damals noch etwas darauf eingebildet, dass ich den Menschen mitteilen konnte: Also, liebe Bürger, solche Schweinehunde sind wir gar nicht, plötzlich werden wir normal, und ihr dürft alle reisen.“ Das Kalkül ging nicht auf. Im Gegenteil, die Bürger dankten ihrem Staat und dessen Führung die geschenkte Reisefreiheit damit, dass sie ihn abschafften. Zeit seines ersten Lebens schien Schabowski an der Unzulänglichkeit des Sozialismus zu leiden – meist trug er eine mürrische Miene zur Schau, weit nach unten gezogene Mundwinkel, eine von Falten durchfurchte Stirn. Zwar war er als einer der Jüngsten unter den Gerontokraten im Politbüro kein Angehöriger der Kriegsgeneration mehr, der durch eigene Erfahrungen im antifaschistischen Kampf seine Berufung für den Kommunismus bezogen hätte. Er war durch die ideologische Schule derer gegangen, die sich anheischig machten, einen neuen deutschen Staat aufzubauen, der den Arbeitern und Bauern gehören und der wie mit Persil gereinigt strahlend weiß aus der NS-Ära hervorgehen sollte.

Er wollte früh den Sturz von Erich Honecker

Ort des Missverstehens. Günter Schabowski bei der berühmten Pressekonferenz (2.v.r.), die live im DDR-Fernsehen übertragen wurde.
Ort des Missverstehens. Günter Schabowski bei der berühmten Pressekonferenz (2.v.r.), die live im DDR-Fernsehen übertragen wurde.

© obs/visitBerlin/Thomas Lehmann, Bundesarchiv

Befragt dazu, wie er auf die kommunistische Ideologie hereinfallen konnte, sagte Schabowski einmal: „Wer sich einmal auf den geistigen Holzweg einer politischen Sekte begeben hat und mit seinesgleichen in Klassenschlachtordnung marschiert ist, kommt so schnell nicht wieder davon los.“

Von jenen ideologischen Grundmustern geprägt, verfocht auch Schabowski diese Sache mit schneidender Überzeugung. Und haderte harsch mit jenen, die den Kurs nicht in der notwendigen Klarheit verfochten. Seine Front war die der Agitation. Als zunächst stellvertretender, dann Chefredakteur des SED-Zentralorgans „Neues Deutschland“ von 1978 bis 1985 und später als SED-Bezirkschef von Ost-Berlin und zugleich Mitglied des Politbüros der SED gab er letztlich die Richtlinien für die Medien vor, die von willfährigen Adlaten in der Agitationskommission an die SED-Presse und vom Presseamt bei der Regierung an die Zeitungen der Blockparteien „durchgestellt“ wurden. Seine Überzeugung von der Rolle der Medien fußte stets auf der Leninschen Prämisse von der Presse als kollektivem Agitator, Propagandist und Organisator: Die Zeitungen haben der Sache des Sozialismus zu dienen, basta.

Aber nicht zuletzt diese Gleichschaltung der Presse als Sprachrohr für die gestanzte Phraseologie der Politbürokratie rief Unmut hervor. Neben untersagter Reisefreiheit, allgegenwärtigem materiellen Mangel und unfreien Wahlen war geknebelte Pressefreiheit einer der Hauptgründe dafür, dass immer mehr Menschen diesem Staat den Rücken kehrten – durch Ausreise in den Westen oder durch Rückzug in die innere Emigration. Schabowski mag als einer der Verantwortlichen für diese Entwicklung und unter der geradezu krankhaften Ignoranz der SED-Führung zunehmend gelitten haben – doch ein persönliches Aufbegehren von ihm etwa in den Sitzungen des Politbüros vor dem Herbst 1989 ist nicht überliefert.

War er ein Verschwörer?

Gleichwohl gehörte er zu jenem kleinen Kreis – mag man sie Verschwörer nennen? –, der sich den Sturz des langjährigen Staats- und Parteichefs Erich Honecker im Herbst 1989 vorgenommen hatte. Auch dies freilich nicht als konterrevolutionäre Abrechnung mit dem System, sondern vielmehr zur Stabilisierung der DDR, die unter Honecker nicht mehr reformfähig erschien. Sie opferten Honecker, um sich selbst zu retten. Schabowski blieb bei der Beschreibung seiner Rolle in diesem Prozess stets vage. In dem 2009 erschienenen Interview-Buch „Wir haben fast alles falsch gemacht“ von Frank Sieren nennt er Egon Krenz, den damaligen Karl-Marx-Städter SED-Bezirkschef Siegfried Lorenz und sich selbst als jene Politbüromitglieder, die „bei geheimen Treffen überein“ gekommen seien, weitere Meinungsführer zu gewinnen, um Honecker auf einer der nächsten Sitzungen zu stürzen. Am 17. Oktober 1989 war es dann so weit – kurioserweise stimmte Honecker selbst seiner Absetzung zu. Aus der schwindelnden Höhe der Weltberühmtheit fällt Schabowski mit dem Beginn der 90er Jahre hart auf den Boden der neudeutschen Realitäten. Als einer der ersten ist er aus der Wandlitzer Politbürosiedlung weggezogen. Mit seiner aus Russland stammenden Frau und der Familie bewohnt er nun eine Plattenbauwohnung an der Wilhelmstraße, später ziehen sie nach Wilmersdorf um.

Egon Krenz sah er vor Gericht wieder

Günter Schabowski im Oktober 2007 in Berlin.
Günter Schabowski im Oktober 2007 in Berlin.

© dpa

Schabowski schreibt eine Autobiografie, in der er kompromisslos mit seiner Vergangenheit und dem Kommunismus abrechnet. Damit und in zahlreichen Interviews zieht er einen Schlussstrich unter seine sozialistische Sozialisation und einen Trennstrich zu den einstigen Kampfgefährten. Einige von ihnen wird er später vor dem Berliner Landgericht wiedersehen, vor dem sie sich wegen der Toten an der Mauer zu verantworten haben. Bei dem 1996 beginnenden Prozess verbindet sie schon nichts mehr. Während Krenz und Co. von „Siegerjustiz“ sprechen, distanziert sich Schabowski ausdrücklich von diesem Begriff und wird von grauköpfigen Ex-SED-Bonzen auf der Besucherbank angeblafft, vor dem Gerichtsgebäude als „Verräter, der sich dem Klassenfeind andient“, fast handgreiflich angegriffen. Schabowski, in Anklam in Vorpommern geboren, aber schon seit Abiturzeiten in Berlin lebend, gibt mit Kodderschnauze Kontra. Der Dialekt überlebt auch politische Systeme – schon zu DDR-Zeiten hat Schabowski mit der Sprache des Volkes kokettiert, um die Kluft zwischen denen da unten und denen da oben nicht gar so groß erscheinen zu lassen.

1999 ging er ins Gefängnis

Obwohl Schabowski erst ins Politbüro aufgenommen wurde, als das Grenzregime längst beschlossen war, wird er zu drei Jahren Haft wegen Totschlags verurteilt. Unmittelbar vor Weihnachten 1999 tritt er sie in Hakenfelde an, sitzt ein unter Betrügern, Räubern und Vergewaltigern. Später kümmert er sich ein bisschen um die Eingewöhnung eines neuen Mithäftlings, der mit Verzögerung hinter Gitter zieht, weil er sein Urteil erst noch vor dem Europäischen Gerichtshof anzufechten versuchte. Sein Name: Egon Krenz. Der wird wegen des starken Medienrummels um seine Person bald nach Plötzensee verlegt. Schabowski selbst verlässt das Gefängnis am 2. Oktober 2000, nachdem er von Berlins Regierendem Bürgermeister Eberhard Diepgen begnadigt worden ist. In der sich anschließenden dreijährigen Bewährungszeit muss er sich wöchentlich bei der Polizei melden. Das Leben in der Gesellschaft, die er lange als menschenfeindlichen und zum Dahinsiechen verurteilten Kapitalismus bekämpft hat, ist Schabowski zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr neu. Er hatte sich 1990 hinten angestellt, hat sich bei einem kleinen, neugegründeten Anzeigenblatt in Hessen als stellvertretender Geschäftsführer anheuern lassen. Journalistisch arbeiten wollte er nicht mehr. Nach eigenen Aussagen war diese Zeit eine Art Erweckungserlebnis für den damals immerhin schon 61-Jährigen. „Ich nahm naiv staunend zur Kenntnis, mit wie viel Freiheit, wie viel Entscheidungsvielfalt und wie viel Kreativität die Menschen im Westen ganz selbstverständlich hantierten.“ Und es bestärkte nach seinen eigenen Worten seine kritische Haltung gegenüber der DDR. So hielt er denn auch den 2009 vom Verlag gewählten Buchtitel „Wir haben fast alles falsch gemacht“ für irreführend. „Das hört sich so an, als hätten wir einiges richtig gemacht. Ich bin aber grundsätzlich anderer Auffassung. Ich bin der Meinung, dass wir alles falsch gemacht haben. Weil der Versuch, ein sozialistisches Gesellschaftskonstrukt zu schaffen, von vornherein zum Scheitern verurteilt ist.“

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