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Die allabendliche Qual der Wahl: Schaue ich Serienkrimis, Cold-Case-Dokumentationen, legendäre Killer, mysteriöse Bluttaten oder sonstige Schocker? Mmmmh.

© picture alliance/dpa

Gibt's auch etwas mit Mord und Totschlag?: Die fernseherische Blutrunst der Deutschen

Kann es sein, dass das mörderische TV-Programm die kollektive Erinnerung an jene Jahre mitverarbeitet, als die Mörder massenhaft unter uns waren? Eine Kolumne.

Eine Kolumne von Caroline Fetscher

Am Abend Mord – Grusel, Thrill und Auflösung inklusive. Damit lockt das Fernsehen auf öffentlichen wie privaten Kanälen. Ein halbes Jahrhundert „Tatort“ wird dieser Tage gefeiert. Vielen gilt das Sehen als Ritual, als letztes „Lagerfeuer der Nation“. Während der Krimi läuft, darf bei rund neun Millionen im Land niemand anrufen oder die Fernbedienung anrühren. Whatsapp- und Twitter-Gruppen ermitteln parallel auf eigene Faust: Wer war’s?

Allabendlich faszinieren uns außerdem Dutzende von Serienkrimis oder importierte Dokumentationen zu Cold Cases, legendären Killern, tötenden Frauen, mysteriösen Bluttaten. Das Publikum befasst sich mit erschlagenen Juwelieren, erwürgten Prostituierten, gemeuchelten Maklern, präsentiert werden Leichen in Gewässern, Leichen in Zement, in Villengärten und Kiezkellern, bei Familiendramen und Menschenhändlern.

Deutschland verzeichnet offenbar ein Rekordmaß an Mordsspaß. Beim Fernsehkrimifestival 2007 wunderte sich Ruth Blaes, damals Geschäftsführerin der Medienakademie von ARD und ZDF: „Jedes Jahr denken wir, dass der Boom abebben müsste, aber stattdessen geht es immer weiter.“ Das Festival in Wiesbaden existiert seit 2005, das nächste ist im März 2021. Mit tausend Litern Wein dotiert ist dort der Deutsche Fernsehkrimipreis.

Dass die Rätsel um die Täter derart magnetisch wirken, ist in sich selber ein Rätsel – und zunächst ein Symptom. In der Soziologie wird davon gesprochen, der „Tatort“-Kult stifte Gemeinschaft, also Zusammenhalt, auch, weil das regionalisierte Format die Handlung quasi vor die Haustür versetzt: Das könnte ja hier bei uns sein! Immer werden die Schuldigen gefasst, und immer war das Kapitalverbrechen an der Barfrau oder dem Hundezüchter nur Heimkino, nicht echt. Meist ist der wohlige Schauer am Ende beruhigend.

Gute Krimis sind beunruhigend, wie Fritz Langs Film „M“, der 2021 90 Jahre alt wird, Untertitel: „Eine Stadt sucht einen Mörder“. Darin nimmt eine Berliner Gangsterbande das Gesetz in die Hand und fahndet nach einem Kindermörder, grandios dargestellt vom jungen Peter Lorre. Die Unterwelt stellt ihm auch einen Verteidiger. Die Atmosphäre von „M“, in der es nirgends Sicherheit zu geben scheint, wirkt hellsichtig. Zwei Jahre später kam ein Regime an die Macht, das millionenfach Morde beging an Kindern, Frauen, Männern. Die Worte Lager und Feuer hatten abgründige Bedeutung, und diese Brände schwelen noch Generationen nach.

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Kann es sein, dass das deutsche Fernsehen Mord für Mord, Abend für Abend auch die kollektive Erinnerung an die Jahre mitverarbeitet, als die Mörder massenhaft unter uns waren? Drehbuchautoren wie Publikum bestehen noch zu erheblichem Teil aus Kindern und Enkeln von Wehrmachtssoldaten. Wir leben an Orten, wo Taten geplant oder begangen wurden. 2013 wurde bekannt, dass der Starkommissar der Serie „Derrick“ Mitglied der Waffen-SS gewesen war, und das ZDF verzichtete auf weitere Ausstrahlungen. Herbert Reinecker, der wohl erfolgreichste Autor von Krimiserien der Nachkriegszeit, lieferte vor Kriegsende NS-Propaganda. All das sollte niemandem den „Tatort“ vermiesen, der oft sozialkritisch, aufrüttelnd und innovativ sein kann. Nachdenklich machen darf die Quote, die Morde erzielen, schon.

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