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Wörterbuch: Psch...was? Pschyrembel!

Ein Berliner Verlag gibt das bekannteste klinische Wörterbuch Europas heraus – nicht nur für Ärzte. Auch Hobbymediziner, Mütter und Hypochonder kaufen es. Ein Blick auf den Endspurt für die 261. Auflage.

„Elektronische Gesundheit“ zum Beispiel … die hätte man doch, als das „Wörterbuch der klinischen Kunstausdrücke“ 1894 zum ersten Mal erschien, nicht mal einem verschnupften Marsmännchen gewünscht. Schon weil der Schnupfen damals gerade mal eine Zeile beanspruchte mit den Synonymen „Nasenkatarrh“ und „Coryza“. Man konnte damals nicht ahnen, dass dieses erste Bändchen der Beginn einer großen Erfolgsgeschichte war.

Der Pschyrembel ist das bekannteste klinische Wörterbuch im deutschsprachigen Raum – und er kommt aus Berlin. Zurzeit läuft der Endspurt für die 261. Auflage des Buchs, das benannt ist nach dem Berliner Gynäkologen Willibald Pschyrembel; von 1931 bis 1982 war er allein für den Inhalt verantwortlich.

Unter Fachleuten hat der Pschyrembel heute einen Bekanntheitsgrad von 99 Prozent. Angehende Medizinstudenten bekommen ihn als unverzichtbares Lehrbuch zum Abitur geschenkt, Krankenschwestern in der Ausbildung brauchen ihn, um die Ärzte verstehen zu lernen, und die Ärzte selbst, um immer auf dem neuesten Stand zu bleiben. Der typische hellgrün-orangefarbene Einband leuchtet Patienten aus den Regalen fast aller Arztpraxen entgegen, während die Online-Ausgabe – für 8000 Euro pro Jahr – auch vom Auswärtigen Amt gekauft wird. Auf diese Weise können sich deutsche Diplomaten auch in abgelegenen Teilen der Welt immer über den aktuellen Stand bei neuen Seuchen wie Sars informieren oder über Hauterkrankungen in Folge der Tsunami-Katastrophe.

Aber auch viele Laien legen Wert darauf, immer im Besitz der neuesten Auflage zu sein. „Hypochonder sind unter den Laien unsere stärkste Käufergruppe“, sagt Klaus Gerhard Saur, Chef des Walter de Gruyter Verlags, in dem das Buch erscheint. Leute, die ihren Ärzten widersprechen wollen oder sie gerne mal kontrollieren, sind ebenfalls dankbare Abnehmer des Werkes, das in einer für dieses Genre sensationellen Auflage von 100 000 Stück herauskommt.

Alle drei Jahre erscheint der Pschyrembel neu. Ein fünfköpfiges Redaktionsteam verfolgt vor allem mit Hilfe von Fachzeitschriften und wissenschaftlichen Publikationen die neuesten medizinischen Entwicklungen in aller Welt. Rund 150 Autoren liefern Rohtexte zu. Die Experten sind im Kontakt mit den berühmtesten Medizinern der Welt – sogar mit Nobelpreisträgern wie dem Deutschamerikaner Günter Blobel. „Dessen Nichte arbeitet bei uns.“ Allerdings nicht als Medizinerin, sondern als Verantwortliche für die Abteilung Philosophie und Altertumswissenschaft.

Außerdem fährt Cheflektorin Martina Bach häufiger zu Kongressen, um den Überblick zu behalten, damit etwa die in der nächsten Ausgabe erstmals aufgeführte „Tako-Tubo-Kardiomyopathie“ nicht unter den Tisch fällt, die auf Deutsch „Syndrom des gebrochenen Herzens“ heißt, erstmals in Japan beschrieben wurde und vor allem nach körperlichem oder emotionalem Stress auftritt. Auch die „Tiefenhirnstimulation“ ist neu – „Elektroschocks“ fürs Hirn, zum Beispiel zur Therapie von Phantomschmerz. Und immer größer: das Thema „E- Health“ – die umstrittene Idee vom vollelektronisch gesteuerten Gesundheitssystem.

Der Schnupfen nimmt im Pschyrembel heute übrigens 60 Zeilen ein. Er scheint in 112 Jahren sehr viel komplizierter geworden zu sein. Eine lange Pschyrembel-Zeile beansprucht allein der Hinweis vom Schnupfenvirus auf die Rhinitis. Von der gibt es inzwischen sieben Untergruppen, darunter so unheimliche wie die Nasendiphterie (Rhinitis pseudomembranacea) oder auch die durch Pollen verursachte Rhinitis allergica, die sich bis zum Pilzasthma auswachsen kann.

2006 Seiten hat die derzeit erhältliche Ausgabe. Die nächste wird nochmal um rund 200 Seiten erweitert: um mehr als 2000 Fachbegriffe und 500 Abbildungen. Die erste Ausgabe war im Vergleich mickrig – gerade mal 148 Seiten umfasste sie! Nachdenklich blättert Klaus Saur in einem Band von 1894. Unter M bleibt er hängen und liest laut vor: „Masturbatio, eigentlich manustupratio, lat. Selbstbefleckung.“ Zu seinem Bedauern gibt es unter „S“ keine Fortsetzung. Dafür ist der Eintrag mit den Jahren bis zur 260. Auflage von zwei auf sechs Zeilen angewachsen, wobei die „Selbstbefleckung“ dem Hinweis zum Opfer fiel, dass Masturbationsfantasien unter Umständen sexualpsychologisch aufschlussreich seien. Manches, was früher als pathologisch galt, wird heute eben milder betrachtet. Die „Hysterie“, die 1894 noch mit „Clownismus“ einherging, ist heute eine „psychogene körperl. Störung“, bei der „die Angst auf ein best. äußeres Objekt fixiert ist“.

Klaus Saur sucht spaßeshalber nach dem Stichwort „Herpes“. Das habe es 1894 sicher noch nicht gegeben, glaubt er. Irrtum. Allerdings ist die Abhandlung der „Bläschenflechte“, die 1894 nur vier Sorten umfasste, von 19 Zeilen inzwischen auf anderthalb Seiten, 14 Ausprägungen und ein ziemlich unappetitliches Bild angewachsen. Martina Bach sagt, Abbildungen und Grafiken würden von den Lesern immer öfter gewünscht. Deshalb gibt es demnächst auch mehr davon.

So wissenschaftlich das Wörterbuch auch daherkommt, ein bisschen Spiel darf doch sein. Den humoristischen Beitrag über die „Steinlaus“ zum Beispiel schreibt seit 1983 Vicco von Bülow. Einmal, zum 100. Geburtstag, fiel der Loriot-Artikel aus – „wegen der Seriosität“. Da hagelte es Reklamationen. In der kommenden Ausgabe beschreibt er nun die Übertragbarkeit der Steinlaus – „(engl.) stone louse“ – durch Nahrungsaufnahme und Speichel, die „sog. stone louse kissing disease …“.

Übrigens sind nicht nur immer neue Krankheiten dazugekommen. Es gibt auch welche, die besiegt zu sein scheinen. Die „Anaphrodisiaca remedia“, die in Gestalt von Bromsalzen oder Lupulin 1894 noch als „Mittel zur Beruhigung des Geschlechtstriebes“ eingesetzt wurden, sind einfach gestrichen worden.

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