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Andreas Schilling

© Kitty Kleist-Heinrich

Universitätsmedizin in Berlin: Der Bombenentschärfer

Mit einer neuen Technik behandelt der Neuroradiologe Andreas Schilling lebensgefährliche Gefäßausstülpungen im Gehirn.

Klinik für Radiologie, Charité, im Berliner Stadtteil Steglitz, Raum 1141 P – ein nüchterner Saal, kühl, hell, 51,97 Quadratmeter groß. Einer dieser Orte, die man nur selten zu Gesicht bekommt, nur selten zu Gesicht bekommen will, obwohl hier Leben gerettet wird, Tag für Tag für Tag.

Das beginnt in der Regel um acht Uhr in der Früh, und wann es endet, wissen nicht einmal die, die hier arbeiten: hängt ganz davon ab, was der Tag so bringt.

Es ist 7 Uhr 55. Andreas Schilling, die Hauptfigur im Mikrokosmos 1141 P, 44, stämmig, braune Augen, leicht graumeliertes Haar, seit einer Stunde ist er auf den Beinen, Intensivstation. „Eigentlich hat mir mein Internist verboten, Kaffee zu trinken“, sagt der unter Dauerstrom stehende Arzt, nimmt noch einen Schluck aus seinem Becher und blickt in den OP-Saal.

Dort liegt Herr H., 56, intubiert: Ein transparenter Schlauch führt von seinem Mund zu einem Beatmungsgerät. H. landete nach einer Serie von kleinen Schlaganfällen im Krankenhaus, wo man eine Kernspintomographie von seinem Kopf machte. Da, eher zufällig, entdeckte man das Aneurysma, vier Millimeter groß, mitten im Gehirn – ein Fall für Schilling.

Schilling platziert seinen rechten Zeigefinger genau zwischen den Augenbrauen: „Wenn ich den Finger von hier aus gerade in den Kopf drücken könnte, würde meine Fingerspitze da ankommen, wo sich das Aneurysma befindet.“

Aneurysmen sind mehr oder weniger gefährliche Ausstülpungen der Gefäßwand. Schilling ist Neuroradiologe, sein Spezialgebiet sind Aneurysmen im Gehirn. Und die kommen überraschend häufig vor: Etwa jeder zwanzigste Erwachsene ist von einem Aneurysma unter der Schädeldecke betroffen, die meisten treten im Alter zwischen 40 und 60 auf. Eine gewisse erbliche Vorbelastung sowie Bluthochdruck und Rauchen erhöhen das Risiko.

Viele Aneurysmen sind so winzig, dass sie nicht behandelt werden müssen. Die Ausstülpung kann aber auch größer und größer werden, und dann steigt die Gefahr, dass das Aneurysma reißt. Wie ein Wasserballon, der sich spannt und spannt – und platzt. Wenn das passiert, zählt jede Sekunde, Blut strömt durchs Hirn, und die Überlebenschancen sinken drastisch: auf etwa fifty-fifty. Einige Patienten mit einem geplatzten Aneurysma schaffen es nie bis ins Krankenhaus.

Andere sterben während sie hier in Raum 1141 P geschoben werden, vor Schillings Augen.

Bis vor zehn Jahren bestand die übliche Behandlungstechnik darin, das Aneurysma mit einer Mini-Metallklammer abzuklemmen („Clipping“) und ein Platzen zu verhindern oder die Blutung zu stoppen. Dazu öffnet ein Chirurg den Schädel und muss sich durch das Hirngewebe bis zum Aneurysma einen Weg bahnen, mit entsprechenden Risiken und Nebenwirkungen.

Schilling setzt auf eine sanftere Methode: Er arbeitet sich mit einem weichen, 1,5 Meter langen Strohhalm (Katheter) über die Leistenschlagader ins Gehirn hoch, dringt mit der Spitze vor bis ins Aneurysma und füllt den Blutballon nach und nach mit hauchdünnen Platinspiralen auf („Coiling“, aus dem Englischen „coil“ für „Knäuel“).

Der Platindraht ist „vorgebeugt“: Wie bei einer Dauerwelle, die man gerade- streckt, knäuelt sich auch der Draht automatisch wieder, sobald er aus dem Katheter ins Aneurysma gedrückt wird. Ist das Aneurysma einmal mit der „Stahlwolle“ vollgestopft, kann das Blut nicht mehr hindurchfließen. Die Ausbeulung wächst zu. Die tickende Zeitbombe im Kopf ist entschärft.

7 Uhr 59. Der Arzt hat einen schwarzen Blei-Overall übergezogen, sieht aus wie eine kugelsichere Weste, „schützt aber nur vor Strahlung“, sagt er, lacht, betritt den OP.

Dort warten bereits: zwei Anästhesisten, zwei medizinisch-technische Assistenten, zwei Schwestern, alle von Kopf bis Fuß steril verpackt. „Dann wollen wir mal gucken“, sagt Schilling.

Wäre dies kein OP-, sondern ein Ballettsaal, könnte man das, was nun beginnt, für eine perfekte Choreografie halten, bei der jeder Handgriff, jede Bewegung sitzt. Nur dass hier in diesem Raum nicht Ästhetik und Gefühle im Vordergrund stehen, sondern Geschwindigkeit, Geschicklichkeit und High-Tech.

Auch die Coiling-Technik ist nicht frei von Risiken. Eine der größten Gefahren: Der Arzt trifft mit seinem Katheter die Gefäßwand des Aneurysmas und verursacht so just das, was er mit seinem Eingriff verhindern will – einen Riss. „Dann haben wir ein Problem“, sagt Schilling trocken.

8 Uhr 09, Schnitt in die Leistenschlagader, Schilling führt den Katheter ein. Assistentin Inci Ayral, 43, fährt über einen Joystick das Röntgengerät heran, eine weiße 1,5-Millionen-Euro-Maschine in der Form eines großen C. An den beiden Enden des C befinden sich jeweils zwei „Augen“, mit denen sich das Innere des Patienten (Eingeweide, Rippen, Gefäße, alles) noch während des Eingriffs durchleuchten lässt. Die Bilder werden auf sechs Monitore direkt über dem OP- Tisch projiziert.

8 Uhr 20. Schilling hat sich, ständiger Blick auf die Bildschirme, mit dem Katheter bis ins Hirngefäß vorgetastet. Jetzt drückt er ein paar Milliliter Kontrastflüssigkeit in die Arterie. „Achtung Serie, bitte zurücktreten!“

Alle im Saal treten vom Röntgengerät weg, nur Schilling bleibt stehen, injiziert das Kontrastmittel und startet eine Serie von hoch auflösenden Röntgenaufnahmen. Die Gefäßverästelungen blitzen schwarz auf – und verschwinden sofort wieder. „Da ist es!“, sagt der Arzt. Er lässt die Aufnahme noch ein Mal Bild für Bild ablaufen, vergrößert die kritische Stelle, bis alle das Aneurysma erkennen: einen kleinen schwarzen Beutel an einer Gefäßgabelung.

Ein Pieper schrillt. Assistentin Ayral nimmt das kleine schwarze Gerät, guckt drauf, verlässt eilig den Raum.

In der Zwischenzeit holt eine Schwester die Platin-Coils aus einem Schrank, reißt eine der Coil-Packungen auf, reicht Schilling den Draht.

Die Assistentin kehrt zurück, ruft in den Raum: „Wir bekommen eine SAB, Notfall, in einer halben Stunde!“ SAB, Subarachnoidalblutung, will sagen: Ein Patient mit einer Blutung im Gehirn ist auf dem Weg in die Klinik – vermutlich ein geplatztes Aneurysma.

Andreas Schilling macht seelenruhig weiter, führt das erste Coil über den Katheter in das Aneurysma. „Wissen wir irgendetwas über den SAB-Fall“, fragt er, auf die Bildschirme vor ihm starrend. „Außer, dass er kommt?“ Achselzucken. „Alles wird gut“, sagt der Arzt zu sich selbst. Und führt einen zweiten Coil in das Aneurysma des Herrn H.

Der Röntgenfilm zeigt: Das Blut fließt bereits nicht mehr durchs Aneurysma. „Noch eins?“, fragt die Schwester. Schilling winkt ab: „Nein, da kriegen wir nichts mehr rein.“ Er faltet die Hände, beugt den Rücken zurück, Schweiß steht ihm auf der Stirn. Er prüft die Gefäßbilder. Für einen Moment ist es, als würde der Arzt plötzlich ganz ruhig. Dann sagt er: „Das sieht gut aus!“

8 Uhr 47. Während irgendwo auf den Straßen Berlins ein Krankenwagen in Richtung Steglitz rast, diktiert Schilling den Patientenbericht ins Telefon. „Guten Tag, mein Name ist Andreas Schilling, es folgt ein neuroradiologischer Bericht ...“ Und ein kryptischer Medizinercode schießt durch die Leitung.

9 Uhr 11, im „Schockraum“. „So nennen wir den Raum, weil die Patienten, die hier ankommen, in der Regel unter Schock stehen“, sagt der Anästhesist – und da kommen auch schon die Notärzte mit einer Liege, darauf eine ältere Dame, bereits intubiert.

Die Anästhesisten machen sich auf den Weg zum Raum 1141 P. Rätselraten im Fahrstuhl: Ist die Frau beim Einkaufen an der Kasse umgekippt? Oder zu Hause? Was ist passiert?

9 Uhr 19. Andreas Schilling hält die CT-Bilder der Notfallpatientin ins Licht, zeigt auf die weißen Ränder an der unteren Seite des Gehirns. „Viel Blut in der hinteren Schädelgrube“, sagt er. Aneurysma? Er ist sich nicht sicher. „Sieht irgendwie komisch aus.“ Er legt die CT- Aufnahmen hin und zieht wieder seinen Blei-Overall an. „Gehen wir mal gucken.“

Zum zweiten Mal an diesem Tag startet die Choreografie.

Diesmal aber kann der Mediziner nichts finden. Er durchleuchtet die Hirngefäße, wieder und wieder. Fünf Minuten vergehen. Zehn Minuten. 20. Nichts.

Schilling wischt sich den Schweiß von der Stirn. Er faltet die Hände, beugt sich zurück, Blick auf die Gefäße. Schließlich sagt er: „Ich kann nichts machen, sieht alles gut aus.“ Die Frau soll später noch einmal untersucht werden.

11 Uhr 50. Schilling telefoniert im Nebenraum, grübelt darüber, was es mit der Notfallpatientin auf sich haben könnte.

Dann kehrt er zurück in den OP. Dort liegt Frau S., 79, sie hat ein stark geschwollenes rechtes Auge, die Ursache: ein Kurzschluss zwischen Arterie und Vene („Fistel“) in der Augengegend, wodurch es zur Schwellung kommt. Schilling wird den Kurzschluss mit Coils abdichten.

Er schleust den Katheter bis zur Fistel am Auge vor, was nicht so einfach ist, die Frau ist schon älter, ihre Gefäße dschungelartig verschlungen. „Uiuiuii!“, ruft Schilling schließlich, als er die Fistel aufleuchten sieht; sie ist riesig.

Ein Coil nach dem anderen muss her.

Ein gewöhnliches Coil kostet 500 Euro, es gibt aber auch welche, die mit einem besonderen bioaktiven Material beschichtet sind, so dass das Aneurysma (oder die Fistel) schneller zuwächst, Kostenpunkt: 1000 Euro. Drei beschichte Coils kommen in die Fistel der Frau S. – plus acht normale Coils, macht allein an Coils: 7000 Euro.

Die Fistel ist jetzt vollständig mit Coils gefüllt. Der Eingriff hat lange gedauert, drei Stunden. Nun folgen die geplanten Patienten vier und fünf. Schilling steht bis fünf im OP-Saal, wie es sich für einen typischen Tag in Raum 1141 P gehört, danach Patientenvisiten bis etwa sieben.

7 Uhr 50, am nächsten Morgen. Schilling, wie üblich seit sieben auf der Intensivstation, kommt mit schnellen Schritten in den Nebenraum des OP-Saals. Das Erste, was er sagt: „Die Frau gestern mit der Fistel, die Schwellung hat sich schon deutlich zurückgebildet, es geht ihr besser.“ Er lächelt.

Das Telefon läutet. Schilling hebt ab, hört zu, sagt ein paar Mal „ja“, legt auf. Dann sagt er: „Na gut, dann fangen wir heute mit einem Notfall an.“

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