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Medizin: Den Stress meistern

Chronische Belastungen in Ausbildung, Job und Familie können Herz und Kreislauf schädigen. Am häufigsten trifft es die Armen der Gesellschaft.

Es brach Sandra Poll* buchstäblich das Herz. Vom Tod ihres Sohnes erfuhr sie morgens am Telefon, wenig später sank sie zu Boden, um Luft ringend, mit schmerzender Brust und von Angst erfüllt. Verdacht Herzinfarkt. Notaufnahme. Kardiologen spritzen mittels eines Herz-Katheters - das ist ein drahtförmiges Instrument, das über die Schlagader bis zum Herzen der 65-Jährigen geschoben wird - Kontrastmittel in die Herzgefäße. So wird das Adergeflecht auf einem Röntgenbildschirm sichtbar. Doch der Befund überrascht: Die Herzkranzgefäße zeigen keine Engstellen. Erst im Ultraschall zeigt sich die wahre Ursache. Die linke Herzkammer der Witwe ist stark verformt, am oberen Ende verengt und am unteren Ende weit ausgebuchtet. Mediziner nennen das Stress-Kardiomyopathie. Forscher vermuten, dass, ausgelöst durch extreme psychische und körperliche Belastungen, der Herzmuskel mit Stresshormonen überflutet wird und Muskeln und Gefäße damit funktionsunfähig werden. Diese oft verkannte Krankheit, die auch Broken-Heart-Syndrom genannt wird, ist ein krasses Beispiel für die Wechselwirkung von Psyche und Körper, für die der Volksmund schon seit langem ein Sprichwort hat: »Sich etwas zu Herzen nehmen«.

67% der Berufstätigen fühlen sich heute gestresster als noch vor drei Jahren. 64% der Menschen, die unter starkem Stress leiden, können nach dem Feierabend nicht abschalten.
67% der Berufstätigen fühlen sich heute gestresster als noch vor drei Jahren. 64% der Menschen, die unter starkem Stress leiden, können nach dem Feierabend nicht abschalten.

© obs

Was ist Stress eigentlich?

Bis heute konnten sich Forscher nicht auf eine abschließende Antwort einigen. Cora Weber, Wissenschaftlerin am Stressphysiologischen Labor der Charité, beantwortet die Frage so: »Stress entsteht, wenn wir die Kontrolle über den Stressor, also die Anforderung verlieren.« Sicher ist: Stress kann gesund, ja lebensrettend sein. Droht Gefahr, etwa bei einem nahenden Verkehrsunfall, signalisiert das Nervensystem dem Nebennierenmark, Adrenalin und Noradrenalin auszuschütten. Die Hormone schießen im Bruchteil einer Sekunde in unser Blut und machen uns klarer, wacher, leistungsfähiger. Der Körper ist in Alarmbereitschaft. Das Herz schlägt schneller, die Atemfrequenz steigt. Überlebenswichtige Organe wie Hirn, Herz, Niere und Muskeln werden stärker durchblutet.

Mit »fight or flight« - kämpfen oder flüchten - beschreibt 1915 der US-amerikanische Physiologe und Pionier der Stressforschung Walter Bradford Cannon die beiden Reaktionen, die uns in akuten Gefahrensituationen zur Verfügung stehen. Entweder wir kämpfen, also wir beseitigen die Bedrohung, oder wir gehen ihr aus dem Weg und flüchten. Klingt archaisch, doch auch beim Streit mit dem Kollegen im Büro gilt: Wir können diskutieren, uns anbrüllen oder so tun, als wär' nichts gewesen.

Für welche Option wir uns entscheiden, ist auch eine Frage der Hormone, fand die Stressphysiologin Cora Weber in einem Experiment mit Berliner Studenten heraus. Webers Forscherteam ließ ihre Probanden komplizierte Denkaufgaben am Computer lösen, um mentalen Stress zu erzeugen. Anschließend maßen die Forscher der Charité die Konzentration der Stresshormone im Blut. Reagierten die Studenten gereizt und aggressiv, konnten die Forscher eine erhöhte Ausschüttung von Noradrenalin im Blut nachweisen. Dieses Prinzip lässt sich auch in der Tierwelt beobachten. Fluchttiere wie Pferde oder Hasen produzieren mehr Adrenalin, Raubtiere wie Katzen oder Hunde mehr Noradrenalin.

Doch wann wird Stress zur Gefahr?

Die Antwort verdankt die Stressforschung einem zweiten Pionier, dem Endokrinologen Hans Selye. Er identifizierte 1938 erstmals die psychischen und körperlichen Folgen von chronischem Stress. »Zehn bis zwanzig Minuten nach dem Stressreiz schüttet die Nebennierenrinde Cortisol, das Dauerstresshormon, aus«, erklärt die Wissenschaftlerin Cora Weber. Zunächst schütze das Hormon vor den körperlichen Belastungen, die der akute Stress mit sich bringt. Cortisol hemmt Entzündungen, reguliert Blutzucker und Blutfette und hält den Organismus längere Zeit wach. Wird der Stress jedoch chronisch, folgt dem Leistungshoch ein Leistungstief. Der Körper ist schlicht erschöpft und ausgelaugt. Betroffene leiden unter Konzentrationsschwäche, Antriebslosigkeit, Depressionen und einem geschwächten Immunsystem. Seit Selye unterscheiden Mediziner deshalb zwischen dem gesunden kurzfristigen Eustress, der uns leistungs- und anpassungsfähig macht, und dem ungesunden chronischen Disstress, der krank macht. Wie so oft macht die Dosis das Gift.

Wie gefährlich chronischer Stress sein kann, weiß Weber aus ihrer täglichen Praxis als Chefärztin der Psychosomatik an der privaten Park-Klinik Sophie Charlotte in Charlottenburg. Da ist der klassische Fall des überarbeiteten Managers Helmut Fehr*. Sein Vater starb an einem Herzinfarkt und nun scheint ihm das gleiche Schicksal zu drohen. Immer wieder »stolpert sein Herz«. Das Druckgefühl auf der Brust löst Panikattacken bei ihm aus, er fürchtet, das gleiche Schicksal wie sein Vater zu erleiden. Doch dazu besteht erst einmal kein Grund, denn das Herz ist eigentlich gesund. Schuld an den Problemen ist der berufliche Dauerstress. »Dadurch gerät das autonome Nervensystem, das den Takt zwischen Aktivität und Erholung vorgibt, aus der Balance«, sagt Chefärztin Weber. Mediziner nennen das autonome Imbalance. Bei gesunden Menschen steigt der Blutspiegel des Stresshormons Cortisol morgens nach dem Aufwachen stark an und senkt sich tagsüber allmählich ab, um nachts den Tiefpunkt zu erreichen. Der Organismus kommt zur Ruhe, Blutdruck und Herzfrequenz sinken. Nicht so bei dauergestressten Menschen, wie Manager Fehr. »Sie zeigen rund um die Uhr eine Aktivierung ihrer physiologischen Stresssysteme mit erhöhten morgendlichen Cortisol-Pegeln im Blut«, sagt Weber. Der Körper kommt auch nachts nicht mehr zur Ruhe und die Organe können sich nicht erholen. Die Folge: Helmut Fehr leidet unter Bluthochdruck, einem höheren Risiko für Entzündungen und Blutgerinnsel. Und die Arteriosklerose, also die Verkalkung seiner Blutgefäße, beschleunigt sich. Fehrs Risiko, einen Herzinfarkt zu erleiden, hat sich damit signifikant erhöht.

Stress ist nicht gleich Stress - jeder Mensch nimmt Herausforderungen unterschiedlich wahr. Was für den einen handhabbar ist, kann den anderen überfordern. Diese Erkenntnis setzte sich in der Stressforschung erst relativ spät mit der sogenannten kognitiven Wende durch. In den 1980er Jahren erkannten die Forscher Richard Lazarus und Susan Folkman, dass für das subjektive Stressempfinden die individuellen Ressourcen, wie Bildung, soziale Unterstützung oder ein sicherer Arbeitsplatz eine entscheidende Rolle spielen. »Was ein Mensch subjektiv als Stress wahrnimmt, hängt von seinen individuellen Ressourcen und Erfahrungen ab«, sagt Weber.

So individuell Stress ist, so individuell muss die Therapie sein. »Es gibt keinen Ansatz, der für alle passt«, sagt Psychotherapeutin Weber. Das Ziel sei, das autonome Nervensystem wieder auszubalancieren und Belastung und Entspannung ins Lot zu bringen. Ohne eine Änderung des Lebens- und Arbeitsstils geht es nicht. Für den Manager Fehr bedeutet das, Pausen auch wirklich als Pausen wahrzunehmen, nicht am Arbeitsplatz zu essen, um noch schnell die letzte Kalkulation abzuschließen. Keine Arbeit nach 20 Uhr und das Firmentelefon bekommt abends Sendepause. Kurzum: Arbeit und Freizeit müssen entflochten werden. »Bei der kognitiven Stressbewältigung versuchen wir, den Stress umzuattribuieren«, sagt Weber. Soll heißen: Prioritäten zu setzen und sich nicht alles zu Herzen zu nehmen. Dabei helfen Sport und Entspannungsmethoden, wie autogenes Training oder progressive Muskelentspannung. Fehr hat sich vorgenommen, regelmäßig zu joggen, um die Balance zwischen Aktivität und Erholung wieder herzustellen.

Ist Stress letztlich das Problem einer kleinen Elite, die dem Arbeitswahn verfallen ist? Mitnichten. Beim Stressreport 2012, einer groß angelegten Studie der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, gab rund die Hälfte der 18 000 Befragten an, häufig unter »starkem Termin- und Leistungsdruck arbeiten zu müssen«. 34 Prozent der Studienteilnehmer empfanden dies als belastend.

Im Büro kurz innehalten und den Körper spüren: Das hilft gegen Dauerstress im Job.
Im Büro kurz innehalten und den Körper spüren: Das hilft gegen Dauerstress im Job.

© dpa-tmn

»Der Herzinfarkt ist keine Managerkrankheit, sondern die Krankheit des kleinen Mannes«, sagt Stressforscherin Weber. Aktuelle Überblicksstudien widerlegen die seit den 1960er Jahren verbreitete Annahme, dass besonders Manager Herzinfarkte erleiden würden. Die Gestressten unserer Gesellschaft sind Schulabbrecher, Geringverdiener, Alleinerziehende oder berufstätige Frauen, die Angehörige pflegen. »Bildung, Einkommen, berufliche Anerkennung, eine sichere Wohnumgebung - all das sind Ressourcen, die uns helfen, den Stress auszuhalten«, sagt Weber. Wie wichtig die Arbeitsbedingungen als Ressource für die individuelle Gesundheit sind, zeigt der Stressreport 2012 anhand eines Vergleiches von Akademikern und Arbeitern. Ingenieure, Chemiker, Physiker und Mathematiker gehören zu den Spitzenreitern, was Termin-, Leistungsdruck und Mehrfachbelastungen angeht. Gleichzeitig verfügen sie aber auch über einen großen Handlungsspielraum in der Arbeitsgestaltung und über soziale Unterstützung durch Kollegen. Nicht so die Arbeiter, die einfachen Tätigkeiten nachgehen, wie die Stressforscher an der Gruppe der »Fertigungsberufe, Bergleute, Mineralgewinner« verdeutlichen. Auch diese Gruppe zählt zu den Spitzenreitern bei den Stressfaktoren, doch im Gegensatz zu der Akademikergruppe genießen sie weniger Freiheiten im Arbeitsablauf und weniger soziale Unterstützung am Arbeitsplatz. Die Folge: Die Akademiker klagen am wenigsten über gesundheitliche Probleme, während die Arbeiter häufig unter sogenannten psychovegetativen Beschwerden, wie Kopf-, Rücken- oder Magenschmerzen leiden und ihre Gesundheit selbst oft als schlecht einschätzen.

Stress ist gesund - wohldosiert. Auch für unser Herz. »Ohne Stresshormone würde das Herz gar nicht schlagen«, sagt Chefärztin Weber. Doch wenn die Strapazen chronisch werden, wenn die Gestressten die Belastungen allein bewältigen müssen, wenn ihre Mühen nicht anerkannt und entlohnt werden, dann steigt das Risiko an einer Herz-Kreislauf-Erkrankung zu sterben um das Dreifache. Jeder einzelne kann etwas gegen den Stress tun, aber wie viele Möglichkeiten wir dafür haben, ist auch eine politische Frage. »Die Schere zwischen Arm und Reich wird immer größer, die Arbeitsverhältnisse immer prekärer«, sagt Weber. Unsere Gesellschaft wird stressiger - zumindest für die Mehrheit. * Namen geändert

Adressen zum Abschalten
Viele Krankenkassen bieten Mitgliedern eigene Kurse zur Stressbewältigung und Burnout-Prävention an oder finanzieren diese von anderen Anbietern mit. Hunderte solcher Kurse in Berlin finden sie unter gesundheitsberater-berlin.de/praevention

Unsere Expertin Cora Weber ist Chefärztin der Psychosomatik an der Park-Klinik Sophie Charlotte und forscht zur Stressphysiologie an der Charité.

Mehr zum Thema lesen Sie im Magazin für Medizin und Gesundheit in Berlin "Tagesspiegel Gesund - Die besten Ärzte für Herz & Kreislauf".

Weitere Themen der Ausgabe: Sport. Welches Training tut ihrem Herz gut?; Stress kann krank machen - und trifft oft die Armen der Gesellschaft; Cholesterin. Über die guten und schlechten Seiten des Blutfetts; Navigator. Routenplaner zum gesunden Herzen; Bypass-OP. Eine Reportage aus dem Operationssaal; Herztransplantation. Das lange Warten auf den Spender; Lebensrettung. Wie ein Patient einen Herzanfall überlebte; Herzklappen, die man per Katheter durch die Adern schiebt; Herzkatheter. Ein Stent wird eingesetzt; Metabolisches Syndrom. Jugendliche lernen in der Adipositas-Ambulanz, nein zu sagen; Herzreha. Lernziel: Lebensstil radikal ändern; Telemedizin. Wenn der Arzt virtuell zum Hausbesuch kommt; Beininfarkt. Gefäßverschlüsse können gefährlich sein; Krampfadern. Erfolgreich therapieren; Thrombose. Ursachen und Behandlung; und außerdem in übersichtlichen Tabellen: Kliniken und Ärzte im Vergleich

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