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Arztbrief: Suchterkrankungen

Unser Experte Peter Neu ist Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Jüdischen Krankenhauses Berlin. Die Klinik ist das von niedergelassenen Psychiatern und Psychotherapeuten Berlins für die stationäre Behandlung einer Alkoholsucht am häufigsten empfohlene Krankenhaus (Ärzteumfrage 2015 von Tagesspiegel und Gesundheitsstadt Berlin).

Alkoholsucht

ERKLÄRUNG Die meisten Leute sprechen ungern über ihre Krankheiten - und besonders, wenn es sich dabei um Süchte oder Abhängigkeitserkrankungen handelt. Das trifft auch auf einen übermäßigen Alkoholkonsum zu, die häufigste Suchterkrankung überhaupt. „Alkohol und andere Drogen wie Nikotin oder Cannabis wirken durch neurochemische Reaktionen auf unser Belohnungssystem im Gehirn“, sagt Peter Neu, Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Jüdischen Krankenhauses Berlin. Eine durch Rauschmittel erhöhte Dopaminausschüttung an dieser Stelle im Gehirn begünstige eine Suchtentstehung.

Wie schnell man dabei abhängig wird, hängt unter anderem von der jeweiligen Substanz ab - eine Alkoholsucht beispielsweise verläuft oftmals schleichend. „Im Schnitt vergehen gut drei bis hin zu 15 Jahre, bis den Betroffenen selbst ihre Abhängigkeit bewusst wird“, sagt Neu. Und während dieser Zeit kann der Alkohol jede Menge Schaden anrichten: Jedes Jahr versterben rund 42 000 Deutsche im Zusammenhang damit - sowohl durch den Stoff selbst wie etwa aufgrund von Vergiftungen oder organischen Langzeitschäden als auch durch indirekte Auswirkungen wie beispielsweise Trunkenheit am Steuer.

Im unteren Vorderhirn sitzt der Nucleus accumbens (1). Diese neuroanatomische Kernstruktur spielt eine wichtige Rolle im mesolimbischen System (2), unserem Belohnungszentrum, und auch bei der Suchtentstehung.
Im unteren Vorderhirn sitzt der Nucleus accumbens (1). Diese neuroanatomische Kernstruktur spielt eine wichtige Rolle im mesolimbischen System (2), unserem Belohnungszentrum, und auch bei der Suchtentstehung.

© Fabian Bartel

SYMPTOME Wie sich Alkohol auf den Einzelnen auswirkt, hängt vor allem von der konsumierten Menge und der individuellen körperlichen und seelischen Verfassung ab. Die höchsten Alkoholspiegel im Blut kann man etwa 45 bis 90 Minuten nach dem Trinken messen. „Trinkt man akut zu viel, kommt es zu Gleichgewichtsstörungen und man kann sich schlechter konzentrieren oder an bestimmte Dinge erinnern“, sagt Psychiater Neu. Die Impulsschwelle sinke, wodurch man sich eher zu Fehlhandlungen hinreißen lasse und gewalttätiger auf seine Umwelt reagiere. Bei einem regelmäßigen Konsum kommt es außerdem zu einem gewissen Gewöhnungseffekt. Dann reagiert der Körper zwar weniger empfindlich auf Alkohol, aber umso extremer, wenn er plötzlich ausbleibt, wie zum Beispiel in einem Entzug. „Das kann bis hin zu einem Delir gehen, in dem die Patienten desorientiert zur eigenen Person und Umgebung sind, zittern und halluzinieren.“

URSACHEN Zwar ist bei der Entstehung einer Abhängigkeit relevant, wie man seine Konflikte löst, was man von sich selbst und anderen gewohnt ist oder wie sich die Umgebung um einen herum gestaltet. Allerdings gehen Experten heute wie bei vielen anderen Krankheitsbildern auch bei der Alkoholsucht von mehreren gleichzeitig wirkenden Ursachen aus: „Das sind vor allem Verhaltensweisen, Umweltfaktoren oder erbliche Anlagen“, sagt Neu. Was allerdings nicht heißen soll, dass, wenn ein Elternteil getrunken hat, automatisch die Kinder diesem Vorbild folgen werden. „Denn das berühmt-berüchtigte Suchtgen gibt es wissenschaftlich betrachtet nicht.“

DIAGNOSE „Um die Diagnose zu stellen, müssen bestimmte Kriterien erfüllt werden.“ Dazu prüft der Arzt, ob der Patient bereits eine Toleranz gegenüber der Wirkung entwickelt hat oder ob er die Kontrolle über die Trinkmenge verliert. Trinkt der Betroffene wie unter einem Zwang? Fallen Entzugserscheinungen auf? Trinkt der Patient weiterhin, auch nachdem er selbst bereits bemerkt hat, wie negativ sich das auf sein Sozialleben auswirkt?

Neben diesen Punkten klärt der Arzt, ob andere psychische Erkrankungen vorliegen, die zum Trinken verleiten können, etwa eine Depression oder eine Belastungsstörung nach zurückliegenden traumatischen Erlebnissen.

THERAPIE  Unabhängig davon, wie viel jemand verträgt, schadet übermäßiger Alkoholkonsum dem Körper. Denn Alkohol wirkt als Zellgift, das ab einer bestimmten Menge Zellen und Organe wie die Leber oder das Nervensystem angreift. Bereits entstandene körperliche Folgeschäden müssen also behandelt werden, vor allem aber bekämpfen Ärzte den Alkoholmissbrauch selbst als deren Ursache.

Die Therapie erfolgt in der Regel in drei Schritten: „Erstens werden die Patienten auf Entzug unter medizinischer Kontrolle gesetzt“, sagt Neu. „Das ist für sie sehr fordernd, denn der Körper hat sich an den Alkohol gewöhnt.“ Auf diesen plötzlichen Konsumstopp müssen sich das Belohnungszentrum, der Hirnstoffwechsel und der gesamte Körper erst wieder umstellen. Hierbei können starke körperliche Abwehrreaktionen auftreten (siehe Symptome). Ein Akutentzug dauert rund drei Wochen. „Im zweiten Schritt werden die Patienten in eine Psycho- und Verhaltenstherapie eingebunden“, sagt Psychiater Neu. In dieser Phase werden auch Selbsthilfegruppen wie die Anonymen Alkoholiker mit einbezogen. In der dritten Phase soll den Patienten eine Weiterbehandlung nach der Akutklinik zugesichert werden, damit der Übergang in ein suchtfreies Leben gelingt.

Wie hoch die Chancen auf eine endgültige Heilung bei Alkoholkranken stehen, sei schwierig vorherzusagen, denn jeder Fall sei individuell. Studien belegen, dass nach stationären Therapien jeder zweite Süchtige dauerhaft vom Alkohol loskommt. Rückfälle sind bei einer Alkoholabhängigkeit aber nicht selten. „Alte Süchte sind jederzeit reaktivierbar, von daher sollten die Patienten nach einer erfolgreichen Therapie am besten vollends auf Alkohol verzichten“, sagt Neu. Unterstützung aus dem sozialen Umfeld oder regelmäßige Treffen in Selbsthilfegruppen können dazu beitragen, dauerhaft abstinent zu bleiben.

* * * 

Heroinsucht

ERKLÄRUNG Die Geschichte von natürlichen Opiaten reicht bis ins alte Ägypten vor zwei bis drei Jahrtausenden vor unserer Zeitrechnung zurück. „Heroin gehört zu den Opiaten, die auch in der Medizin als Betäubungsmittel eingesetzt werden“, sagt Suchtexperte Peter Neu. Heroinkonsum löse beispielsweise ein plötzlich einschießendes Wohlgefühl aus und lindere Schmerzen.

Doch der illegale Drogenkonsum kann fatale Folgen haben, denn er kann abhängig machen und den Körper schädigen. „Heroin wirkt auf das Belohnungszentrum im Gehirn und dabei stärker und schneller als andere Drogen wie beispielsweise Alkohol“, sagt Neu.

SYMPTOME Hat sich ein Heroinabhängiger seine Dosis verabreicht, wirkt er in der Regel lethargisch und sediert - also ganz anders als beispielsweise jemand, der unter aufputschenden oder stimulierenden Drogen steht. Dabei ist Heroin - im Gegensatz zu Alkohol - keine direkt organschädigende Substanz. „Vielmehr sind es die Komplikationen der Abhängigkeit und des Konsums, an denen Heroinsüchtige zugrunde gehen“, sagt Psychiater Neu. Thrombosen, Abszesse oder Infektionen mit Hepatitis- oder HI-Viren durch den Gebrauch schmutziger Nadeln seien dabei keine Seltenheit. „Viele Betroffene verwahrlosen durch die Abhängigkeit oder essen nichts mehr.“ Außerdem beeinflusst Heroin auch den Atemrhythmus, weshalb bei einer Überdosis die Gefahr zu ersticken besteht. Auch Bewusstlosigkeit, Kreislaufversagen und verlangsamter Herzschlag drohen.

URSACHEN Eine Abhängigkeitserkrankung kann biologisch, familiär und sozial begründet sein. Generell stimulieren Drogen das Belohnungszentrum, das im mesolimbischen System (siehe Grafik) sitzt. Eigentlich dient es der Arterhaltung und Fortpflanzung, da es bei „evolutionär erwünschten“ Verhaltensweisen - beispielsweise beim Essen, Trinken oder Sex - für Glücksgefühle sorgt. Wird das Belohnungszentrum gereizt, schüttet es verschiedene Botenstoffe aus, die unterschiedlich auf den Körper wirken. „Heroin hemmt Schmerzrezeptoren und gaukelt dem Suchtzentrum positive Effekte vor“, sagt Neu. Dadurch zögen Betroffene sich oft in eine konstruierte Scheinwelt zurück, wenn sie in der realen Welt nicht gut zurechtkämen. Sucht kann aber auch zum Teil genetisch bedingt sein - zumindest für Heroin sehen Experten einen Zusammenhang.

DIAGNOSE  Die Weltgesundheitsorganisation hat vier Kriterien festgelegt, um Sucht allgemein zu definieren: Regelmäßigkeit, Zwanghaftigkeit, Entzugserscheinungen und Toleranzentwicklung. Bei letzterem Punkt steigern die Betroffenen kontinuierlich ihren Drogenkonsum, um die gleiche Wirkung zu erhalten. „Wir prüfen, ob diese Kriterien auf die Patienten zutreffen, und rekonstruieren, welche Drogenmengen der Patient üblicherweise konsumiert“, sagt Chefarzt Neu. Außerdem können fast alle Rauschmittel über einen Urintest nachgewiesen werden.

THERAPIE Die persönliche Einsicht, süchtig zu sein, ist der Schlüssel für eine erfolgreiche Behandlung - denn diese beruht hauptsächlich auf dem Prinzip der Freiwilligkeit. „Wir behandeln die Abhängigen dabei in drei Schritten: Entzug, Therapie und Wiedereingliederung“, sagt Suchtexperte Neu.

Die Abhängigen werden auf unterschiedliche Art und Weise in einer Klinik von den Drogen getrennt - „kalt“ oder „warm“. Bei einem „kalten Entzug“ werden die Patienten radikal von den Suchtmitteln isoliert. Entzugserscheinungen wie Depressionen, Angstzustände, Kopf- und Gliederschmerzen, Juckreiz, Übelkeit, Erbrechen und Durchfall machen die ersten Nächte für sie zur Qual.

Bei einem „warmen Entzug“ werden die Suchtmittel schrittweise abgesetzt oder mit alternativen Mitteln wie beispielsweise Methadon ersetzt. Aber auch hierbei bleiben die Entzugserscheinungen nicht aus. „Der akute Heroinentzug dauert normalerweise drei bis sechs Tage und verlangt den Patienten eine Menge ab, ist allerdings körperlich nicht wirklich gefährlich für sie“, sagt Neu.

Die eigentliche Arbeit, um endgültig von den Drogen wegzukommen, beginnt erst, wenn das Gift den Körper verlassen hat. In den Einzel- und Gruppentherapien lernen die Betroffenen ein persönliches Krankheitskonzept zu entwickeln und werden motiviert, ihr Leben zu ändern. „Denn bei Suchtkranken ist vor allem der persönliche Kontakt entscheidend dafür, ob sich jemand nach dem Entzug helfen lässt oder nicht“, sagt Psychiater Neu.

Die besten Chancen, „sauber“ zu bleiben, haben Drogenabhängige in einem funktionierenden sozialen Umfeld aus Familie und Arbeit. Ohne dieses Netz sind die Aussichten düsterer. Nur jeder Fünfte schaffe langfristig den Ausstieg, sagt Neu.

Die Redaktion des Magazins "Tagesspiegel Kliniken Berlin 2016" hat die Berliner Kliniken, die diese Erkrankung behandeln, verglichen. Dazu wurden die Behandlungszahlen, die Krankenhausempfehlungen der ambulanten Ärzte und die Patientenzufriedenheit in übersichtlichen Tabellen zusammengestellt, um den Patienten die Klinikwahl zu erleichtern. Das Magazin kostet 12,80 Euro und ist erhältlich im Tagesspiegel Shop.

Leonard Hillmann

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