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Robert Harting würde gerne noch mehr Zeit an der Uni verbringen. Noch investiert der Diskus-Weltmeister viel Kraft in die Welt des Spitzensports, die er allzu gut kennt.

© Maurice Wojach

Gesichter der UdK Berlin: Das Leben ist keine Scheibe

Diskurs statt Diskus – das Studium an der Universität der Künste Berlin stellt den Olympiasieger und Weltmeister Robert Harting vor ganz andere Aufgaben als der Sport.

Robert Harting tigert durch die Nacht. Er passiert eine Gruppe von Obdachlosen, an einer Bahnbrücke findet er, wonach er Ausschau hielt. Ein an die Wand gekleistertes Bündel zigfach überklebter Plakate, breiter als sein Geländewagen. Er reißt das Ding mit voller Wucht ab, trägt es mit beiden Armen über dem Kopf. Der 2,01 Meter große Leistungssportler könnte wohl auch einen Hinkelstein in die Luft hieven und eine Armee von Römern verdreschen.

Ein paar Szenen später weicht das Bild vom kräftigen Kerl, der fette Beute macht, einem differenzierteren. Harting zieht sich in ein Zimmer seiner Wohnung zurück, er überklebt und gestaltet den Papierbatzen. Beispiele für seine Kunst hängen an der Wand, eines zeigt Linien und Kleckse in Gelb, Schwarz, Blau und aufgerissene Münder, die durch die Farbschicht schimmern.

Die Szenen aus dem Filmprojekt „Sechsviertel – Der Ausstieg des Robert Harting“ zeigen zwei Seiten des Diskus-Olympiasiegers und Weltmeisters, der kurz vor dem Ende seiner Profi-Karriere steht: die Kraft und die Kunst. Neben der bildenden Kunst, die er als Hobby betreibt, und dem von einem Hamburger Regisseur geleiteten Filmprojekt ist es das Studium, in dem der Leistungssportler seine Kreativität auslebt.

Studium und Spitzensport

Harting studiert an der Universität der Künste Berlin Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation (GWK) im Master. Den Bachelor hat er parallel zu seinen größten sportlichen Erfolgen zwischen 2009 und 2014 absolviert. Der 33-Jährige erlebt zwei Welten: Studium und Spitzensport. Er kämpft sich mit einer Knieverletzung durch Trainingseinheiten und letzte Wettkämpfe. Manche Uni-Veranstaltungen kann er deshalb nicht besuchen. „Ich verpasse immer wieder Wissen und muss in die Welt, die ich schon kenne“, sagt der Goldmedaillengewinner, von dem man glauben könnte, er habe im Sport alle Probleme gelöst. Jetzt warten neue Probleme, neue Lösungen – das reizt ihn.

Harting hat mehrere Stunden Krafttraining am Vormittag und vier Seminarstunden am Nachmittag in Knochen und Geist, als er mit der Laptoptasche in der Hand aus dem UdK-Gebäude am Mierendorffplatz tritt. Eine Gruppe von Kommilitonen quatscht noch miteinander, Harting klatscht zwei ab und macht sich aus dem Staub. Die anderen gehen „einer sinnstiftenden Freizeit“ nach, der Noch-Profi ist stets auf dem Sprung zum Training. Beim Vietnamesen um die Ecke nimmt sich Harting eine Auszeit und spricht über sein Studium. „Ich bin gierig auf das Lösen von Problemen und auf das interdisziplinäre Wissen, obwohl ich mich sportlich schädige, weil ich zu wenig Regenerationszeit habe.“

Harting spricht über Konkretes oft abstrakt. Kindheit, Erschöpfung und Konkurrenzkampf reflektiert er analytisch, sagt zum Beispiel, dass er im Sport „ein Performant“ sei und, dass es dabei um „das Beherrschen von Territorien“ gehe. So drückt er den Unterschied zwischen der Sport-Welt und dem Uni-Alltag aus. Man ahnt, welche Geschichten sich dahinter verbergen könnten. Nickligkeiten der Athleten untereinander, Tricks, um anderen die Konzentration zu rauben.

Harting aber erzählt diese Geschichten nicht, er erkennt Phänomene und kann sie analytisch beschreiben. Ein leidenschaftlicher Problemlöser, der genau von dieser Seite seines Studienfachs so begeistert ist. Spricht er über die Studieninhalte, sagt er „geil“, „nice“ und „krass“. „Wir entwickeln uns zu kleinen Allzweckwaffen“, erklärt der Master-Student im zweiten Semester. Ob in der Werbebranche oder anderen Bereichen der freien Wirtschaft – Harting ist überzeugt: „Wenn du fünf, sechs UdK-Studenten aus meinem Studiengang auf ein Problem ansetzt, bekommst du es gelöst.“

Sein Studium der Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation erfordert das Gegenteil des Tunnelblicks, mit dem ein Einzelsportler auf seinen wettkampfgeprägten Alltag schaut. Die Studienordnung skizziert gesellschaftliche, wirtschaftliche und kulturelle Innovationen als Lerngegenstand. Das Studium ist forschungsorientiert, nimmt Wirkungsprinzipien verschiedener Medien unter die Lupe und klammert sich nicht an eine einzige Fachrichtung. Im Seminar, das Harting gerade besucht hat, geht es zum Beispiel um Definitionen von Luxus.

Das Studium setze sich mit Wandel auseinander. Der sei nirgends so gut zu beobachten wie in Berlin, sagt Harting. Während er mit Surimi und Avocado gefüllte Sushi-Rollen auf die Stäbchen nimmt, spricht er, um ein Beispiel für Wandel zu nennen, über die Ernährung der Berliner. „Vor fünf, sechs Jahren ging das mit dem glutenfreien Essen los, dann kamen andere Trends dazu – laktosefrei, fruktosefrei, fleischlos.“ Es gehe darum, das Essverhalten zu verändern, weil es so üblich ist und es eine größere gesundheitliche Sicherheit verspricht. So habe sich der Verzicht zum Trend in der Esskultur entwickelt. Harting verurteilt das nicht, er findet es schlicht: spannend. Es fasziniert ihn – so wie die Bücher von wissenschaftlichen Querdenkern, etwa von Bruce Bueno de Mesquita, der mit Formeln politische Ereignisse vorhersagt.

„Im Sport gibt es kaum Kritik und geistigen Austausch“

Harting erklärt seine Analysen voller Freude, so wie andere Witze erzählen und die Pointe auskosten. Bloß: Er macht es leise. Ganz anders als auf Wettkämpfen, wo er die große Geste wählt, Triumphe mit freiem Oberkörper und Deutschlandfahne zelebriert. Es sind diese Kontraste, die seinen Übergang vom Stadion ins Studium prägen. Als im Nachmittagsseminar mehrere Teilnehmer ihre Luxuserfahrungen teilten, habe er sich zurückgehalten. „Manchmal traue ich mich noch nicht so“, sagt der 127-Kilo-Kerl. Auch sonst reizt es den im Gladiatorenkampf erprobten Einzelkämpfer, sich nun in Gruppenarbeit zu bewähren. Er habe den Alltag als Athlet „aus einer kämpferischen Perspektive gelernt“. „Im Sport gibt es kaum Kritik und geistigen Austausch“, sagt Harting. Dementsprechend stark fordert ihn der Diskurs in der Uni heraus – „aber genau diese kollaborative Art will ich ja, und ich habe gemerkt, dass Kritik mich besser macht“.

Harting sieht also einen Sinn am Ende des Tunnels. Und ist mit derselben Frage konfrontiert, die sich auch der kleine Robert vor seiner Karriere stellte: Was willst Du mal werden? „Damals wollte ich Anwalt, Arzt oder Pilot werden – irgendwas, mit dem man viel Geld verdient.“ Die Eltern waren Drucker und Krankenschwester, Wohlstand lockte aus weiter Ferne. Und heute? „Tja“, sagt er und überlegt. „Ich will was verändern und glücklich sein.“ Aber dann kommt der wettbewerbserprobte Sportler durch: „Scheitern ist nicht schlimm, das Schlimmste ist Ergebnislosigkeit.“

Maurice Wojach

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