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Neuer Personenkult. Der chinesische Präsident Xi Jinping wird im Internet mit Videos gefeiert.

© Greg Baker/AFP

Zwischen Kommunismus und Kapitalismus: Wohin geht China?

Von Mao bis Xi Jinping, von der Planwirtschaft zum Global Player: Ein Interview mit einem der führenden Sinologen Deutschlands.

Herr Schmidt-Glintzer, Sie haben einen Essay veröffentlicht unter der Überschrift „Ist Trump Amerikas Mao?“. Wie kommen Sie zu diesem Vergleich?

Der wurde von einem australischen Sinologen in die Diskussion gebracht. Trump und Mao sind autoritäre Persönlichkeiten, beide sind bereit, Institutionen zu missachten, beide verkünden ihre Slogans dem ganzen Volk – der eine durch die Mao-Bibel und den täglichen Zitatabdruck in den Zeitungen, der andere per Twitter. Das Spiel mit solchen Parallelen ist reizvoll, aber irreführend.

Ein US-Experte schrieb vor Kurzem, die Chinesen würden harte, auch rüpelige Verhandlungspartner schätzen. Trifft Trump mit seiner Aggressivität Richtung Peking doch den richtigen Ton?

Das Fordernde, Selbstbewusste imponiert den Chinesen schon. Auf der anderen Seite möchten sie nicht von oben herab behandelt werden. Vor ein paar Jahren hat man auf der Pressekonferenz des Außenministeriums in Peking verkündet: Ab jetzt wird hier nur noch Chinesisch gesprochen – wer das nicht versteht, braucht eben einen Dolmetscher. China hat im 20. Jahrhundert vor allem ein Ziel verfolgt. Es wollte auf Augenhöhe mit anderen großen, territorial ausgebreiteten Kulturen stehen. Mit Europa, mit Amerika. Es wollte nicht der hungernde Schwächling sein. Es wollte in die Moderne, auch durch die Entwicklung seiner Städte, bei aller Dominanz der Landwirtschaft und der Provinz über lange Zeit.

Mao Zedong gelang es 1949, als patriotischer Kommunist sein Land nach dem Untergang des Kaiserreichs, nach Bürgerkrieg und japanischer Invasion zu einen. Was würde er zum China von heute sagen?

Er wäre erschüttert über den Kapitalismus und zugleich froh über das, was erreicht ist. Mao war eine ambivalente Persönlichkeit. „Es wird Kampf geben“ – so habe ich meine Biografie über ihn genannt, und ich glaube, das wäre sein Gefühl in der gegenwärtigen Situation. Kampf um Marktanteile, Anteile am Wohlstand und an Ressourcen wie Wasser. Die Frage, wie es eine wachsende Menschheit schafft, dass ein großer Teil von ihr nicht im Elend leben muss, ist noch immer ungeklärt.

Helwig Schmidt-Glintzer, 68, Direktor des China Centrums Tübingen, veröffentlichte zuletzt: „Mao Zedong. ,Es wird Kampf geben‘: Eine Biografie“ (Matthes & Seitz).
Helwig Schmidt-Glintzer, 68, Direktor des China Centrums Tübingen, veröffentlichte zuletzt: „Mao Zedong. ,Es wird Kampf geben‘: Eine Biografie“ (Matthes & Seitz).

© Mike Wolff

Sie schreiben, Mao habe die meiste Zeit im Bett verbracht, „von hier aus hatte er es nah zu seinem Pool“. Einen Revolutionär stellt man sich anders vor.

Er war willensstark, aber physisch angeschlagen, und in seinen jungen Jahren wurde er leicht depressiv. Er war Hypochonder. Aus Angst vor einer Erkältung fuhr er nicht zu Stalins Beerdigung.

Ihr Buch war für die Reihe „Diktatoren des 20. Jahrhunderts“ gedacht. Dann beschlichen Sie Zweifel, ob Mao eine Figur wie Hitler oder Stalin ist. Warum?

Die deutsche Wehrmacht hatte einen Eid auf Hitler geschworen. Eine solche Gefolgschaft existierte in China nicht. Insofern sind die systematischen Verbrechen des Nationalsozialismus etwas anderes als die Gräueltaten, die es in verschiedenen Phasen der chinesischen Revolution gegeben hat. Der Begriff des Diktators verdeckt den Umstand, dass Mao eine große Zahl von Mitstreitern hatte, die nicht unbedingt seine Gefolgsleute waren. Seine Macht war relativ. Für eine endgültige Bewertung ist es zu früh. Wir wissen noch nicht, welche Rolle China international in den nächsten Jahrzehnten spielen wird, und davon hängt ab, wie man diese Gründerfigur eines Tages einschätzt. Gut möglich, dass Mao mal mit Abraham Lincoln oder Karl dem Großen verglichen wird.

Für Maos „Großen Sprung nach vorn“, also seinen Versuch, China in wenigen Jahren, von 1958 bis 1961, per Kommandowirtschaft zu industrialisieren, geht der Forscher Frank Dikötter von einer Zahl von 45 Millionen Todesopfern aus.

Diese Politik war ein Desaster ersten Ranges, mit riesigen Hungerkatastrophen. Die Führung ahnte zum Teil nicht, dass die Parteikader Getreide an Städte und den Export weiterreichten, das eigentlich auf dem Land gebraucht wurde. Aber bei den genannten Zahlen sind ungeborene Kinder miteingerechnet. Wenn wir uns daran orientieren, dann hätte auch Deng Xiaoping …

… Maos Nachfolger, der das Land in den 80er Jahren öffnete und wirtschaftlich liberalisierte …

… mit seiner Ein-Kind-Politik viel mehr Tote auf dem Gewissen. Dieser Bodycount führt historisch an der Sache vorbei, weil er nicht auf das Leid der Menschen blickt, sondern nur auf Statistiken.

Ein chinesischer Professor verlor im Januar seinen Job, weil er auf dem Kurznachrichtendienst Weibo bedauerte, dass Mao nicht unmittelbar nach der Staatsgründung starb. „Der große Steuermann“ ist noch immer heilig.

Schon im Alten China brauchte man den Kaiser als Einheitsfigur in einem riesigen Reich. Man sollte aber nicht glauben, dass die Figur Mao Zedong göttergleiche Funktion hat. Es besteht durchaus Distanz und Gleichgültigkeit, bei manchen auch Ablehnung. Die Frage ist, ob man sich vorstellen kann, dass an dem Tor zum Platz des Himmlischen Friedens kein Porträt mehr hängt, sondern zum Beispiel eine chinesische Fahne.

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Als von Mao angestachelte junge Leute das Land während der Kulturrevolution von 1966 bis ’76 ins Chaos stürzten, haben viele Linke im Westen das bejubelt. Entschieden auch Sie sich deshalb Ende der 60er für ein Sinologie-Studium?

Überhaupt nicht. Zunächst habe ich mich für die alte chinesische Philosophie interessiert, meine Dissertation beschäftigt sich mit dem Buddhismus vor 15 00 Jahren. Damals waren das für die Chinesen Sachen von gestern und für die politisch interessierten Studenten in Westdeutschland sowieso. 1968/69 gab es an der Uni so eine Welle, da kamen Leute, die Mao studieren wollten. Fairerweise muss man sagen, dass die Kulturrevolution sogar Konservative faszinierte. Dieser Aufbruch in Schlichtheit, der hatte scheinbar seinen Charme. Ins kommunistische China bin ich erst sehr spät gereist, man konnte ja nicht hinein. Damals, Weihnachten 1980, war ich wahrscheinlich einer der Ersten, die das Mao-Mausoleum besuchten.

"Die Mehrheit der Chinesen beruft sich gern auf einen starken Staat"

Der argrarische Feudalstaat Anfang des 20. Jahrhunderts.
Der argrarische Feudalstaat Anfang des 20. Jahrhunderts.

© imago/United Archives

1973 waren Sie auf Taiwan, damals eine antikommunistische Diktatur von Maos Gegenspieler Chiang Kai-shek. Später wandelte sich der Inselstaat zur Demokratie. Ein Vorbild für den großen Nachbarn?

Schon der wirtschaftliche Aufschwung auf Taiwan war eine Herausforderung für Peking. Denn im China der 80er begannen die Leute zu glauben, viele kleine Taiwans würden dem Land besser bekommen als dieser große Einheitsstaat. Tatsächlich hat die Reform- und Öffnungspolitik unter Deng Xiaoping mehr Konkurrenz zwischen den Regionen zugelassen und sogar angestoßen. Was die Politik angeht: Da denken viele in China, auch innerhalb der Kommunistischen Partei, eine stärkere Beteiligung der Bevölkerung wäre sinnvoll. Manche wollen die Rolle der Zentrale massiv reduzieren. Andere vermuten, das würde das Land schwächen. Ich glaube, die Entwicklung braucht Zeit. In der gegenwärtigen internationalen Lage ist es sinnvoll, einen gewissen Zentralismus beizubehalten.

Um Staatschef Xi Jinping hat sich ein Kult entwickelt, wie es ihn seit Mao nicht mehr gab. Anhänger besuchen die Kneipen, in denen er eingekehrt ist, und posten Fan-Videos im Internet.

Ja, erstaunlich. Xi ist durch seinen Kampf gegen Privilegien und Korruption populär geworden. Sie können diesen Personenkult jeden Tag in den chinesischen Medien beobachten. Xi macht dort Aussagen zu Militär, internationalen Beziehungen, Weltraumfahrt … Dahinter stecken wichtige Akteure in der Partei, die durch ihn Modernisierung erreichen wollen. Aber wird die Parteielite diesen Kurs auf Dauer mittragen? Dann muss man sehen, ob Xi wie geplant nach zehn Jahren abtritt und Platz für einen Nachfolger macht. Ich vermute: ja. Es sei denn, es kommt zu einer Palastrevolte oder anderen unglücklichen Entwicklungen.

Vor 16 Jahren erschien ein viel beachtetes Buch des Amerikaners Gordon Chang: „The Coming Collapse of China“. Warum ist die Volksrepublik noch nicht zusammengebrochen?

Die Idee, dass China unter kommunistischer Herrschaft auseinanderfliegen muss, ist eine Wunschvorstellung vieler chinesischer Intellektueller im Ausland. Dahinter steckt eine Sehnsucht nach Freiheit und Unbeschwertheit, die ich gut verstehe. Ich merke aber, dass sich die überwiegende Zahl der Chinesen – auch die im Ausland – gerne auf einen zuverlässigen, starken Staat beruft.

Die Reichen schaffen doch ihr Kapital außer Landes und kaufen Immobilien in Nordamerika.

Es spricht für Weltoffenheit und geistige Beweglichkeit, dass Leute, die es können, ihre Risiken diversifizieren. Zumal es weltweite Netzwerke von Chinesen mit ihren „Chinatowns“ seit mehr als 100 Jahren gibt. Für sich genommen ist das kein Ausweis von Distanz zu irgendeinem Regime. Wenn ich könnte, hätte ich auch eine Wohnung in New York.

Alter Personenkult. Mao brachte seine Botschaft durch die rote Bibel unters Volk, hier Bauern bei deren Lektüre.
Alter Personenkult. Mao brachte seine Botschaft durch die rote Bibel unters Volk, hier Bauern bei deren Lektüre.

© AFP

Der Historiker Timothy Garton Ash sagt mit Blick auf China und die USA, dass es in der Geschichte immer zu gewalttätigen Konflikten komme, wenn eine absinkende und eine aufstrebende Großmacht aufeinandertreffen. Steuern wir darauf zu?

Die Kräfteverhältnisse verschieben sich wirtschaftlich seit Jahren, ein Prozess, der nicht von Krieg begleitet sein muss. China wird in Institutionen wie der Weltbank immer mehr Mitspracherechte einfordern und bekommen. Allerdings gehen die USA heute mit dem Slogan „Make America great again“ nach außen, begreifen sich als Nummer eins. China ist eher auf eine multilaterale Welt eingestellt.

Das sehen die Nachbarn anders. Mit Vietnam streitet Peking über Besitzansprüche im Südchinesischen Meer, mit Südkorea über ein Raketenabwehrsystem, den Taiwanern will man ihre Unabhängigkeit nehmen.

Es ist Common Sense unter Historikern, dass China nie expansionistisch war. Auch eine Weltbeglückungshaltung, wie sie die Amerikaner haben, ist weniger ausgeprägt. Das Land versucht natürlich, seine Peripherie zu kontrollieren. Die Anerkennung der Sicherheitsinteressen Chinas muss die Voraussetzung für Friedenspolitik sein. Der Konflikt um Nordkorea ist zum Beispiel ungelöst, weil es sich um einen vitalen Korridor direkt an Chinas Flanke handelt – und die Amerikaner in Südkorea ihre Truppen stationiert haben.

Sie sind ein China-Versteher!

Wir sollten ganz sicher nicht zu Parteigängern Pekings werden, aber wir versuchen zu wenig, die Interessen der anderen Seite besser zu verstehen. Viele sind sich noch nicht im Klaren darüber, dass die Lebensmodelle, die wir im Westen in den vergangenen 50 Jahren verfolgt haben, in den nächsten 50 wahrscheinlich nicht mehr funktionieren. In China wird mancher Umweg da vielleicht nicht gegangen. Die forcierte Einführung der Elektromobilität ist hier nur ein Beispiel – und Diesel-Pkws spielen in China überhaupt keine Rolle.

Gegenwärtig ist China ein Staat, in dem Oppositionelle unterdrückt, die Medien kontrolliert und Menschen hingerichtet werden.

Alles richtig. Aber wenn wir wollen, dass China mehr von Europa übernimmt – föderale Strukturen, Gewaltenteilung –, wäre es plausibler, bei uns Reformen anzustoßen, um die besseren Blaupausen zu liefern. Es gibt Dinge, die müssten wir ändern und tun es trotzdem nicht: von der Fleischproduktion bis zu Gerichtsprozessen, die ewig dauern.

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