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Schriftsteller Jean-Philippe Toussaint.

© Doris Spiekermann-Klaas

Zur Fußball-Europameisterschaft: "Fußball hüllt den Fan in einen schützenden Kokon"

Er mag das Rot der belgischen Trikots nicht und liebt das deutsche Schwarz-Weiß. Warum für Jean-Philippe Toussaint bei einem 3:0 die intellektuelle Spannung aufhört.

Jean-Philippe Toussaint, 58, wurde als Regisseur und Romanautor bekannt. Inzwischen ist er auch als Fotograf erfolgreich. Nach „Zidanes Melancholie“ schrieb er nun mit „Fußball“ ein sehr persönliches Buch – rechtzeitig zur Europameisterschaft. Der Belgier lebt in Brüssel und auf Korsika.

Monsieur Toussaint, am Freitag beginnt die Europameisterschaft in Frankreich, und Ihr Heimatland Belgien steht auf Platz 2 der Weltrangliste des Fußballverbands Fifa. Holt Belgien jetzt den Titel?

Es wäre das erste Mal. Der Fifa-Ranglistenplatz ist erstaunlich, aber für mich bleibt Belgien ein Außenseiter. Das ist sowieso die beste Rolle.

Und Ihre Favoriten sind …?
Einer der Favoriten ist wie immer Deutschland. Dazu selbstverständlich Spanien und auch Frankreich wegen des Heimvorteils und einer sehr guten, verjüngten Mannschaft. Eine Überraschung könnte diesmal Italien werden, das meine heimliche Liebe ist. Allerdings muss man ein starkes Herz haben, um Italien-Fan zu sein.

Warum?
Die Italiener fliegen bei Welt- und Europameisterschaften entweder früh raus oder sie kommen sehr weit, gewinnen dann auch, selbst wenn sie anfangs ganz schlecht spielen wie 2006 bei der WM in Deutschland. Italien ist nichts für schwache Nerven. Ich war ja 2006 im Berliner Olympiastadion beim WM-Endspiel Frankreich gegen Italien. Damals trug ich statt eines Basecaps mit den belgischen Farben allerdings eine Kappe mit der französischen Trikolore. Schon wegen Zidane.

Nach dem jähzornigen Kopfstoß des französischen Kapitäns Zinédine Zidane gegen Marco Materazzi, der Zidane einen Platzverweis einbrachte und die bis dahin überlegenen Franzosen vermutlich den WM-Titel gekostet hat, haben Sie den Essay „Zidanes Melancholie“ geschrieben. Aus der schwer begreiflichen Tat wurde ein unergründlicher Traum.
Als Bewunderer von Zidane und als Schriftsteller, nicht als Reporter, wollte ich keine psychologische oder sportliche Erklärung geben. Egal, ob Zidane zuvor von Materazzi beleidigt worden war, seine Aktion, die im riesigen Rund des Stadions kaum jemand wirklich gesehen hat, entzieht sich dem Verständnis von Normalität.

Sie wohnen abwechselnd in Brüssel und auf Korsika, mitunter auch in Paris. Wo werden Sie die EM verfolgen?
Das Eröffnungsspiel Frankreich gegen Rumänien werde ich in einer großen Bücherei in Bordeaux erleben. Ich lese dort aus „Fußball“, und wenn um 21 Uhr das Spiel beginnt, wird im Hintergrund auf einer Leinwand die Fernsehübertragung laufen. Ich bekomme ein Mikrofon, und dann werden wir sehen, ob sich eine anregende Mischung aus Lesung, Live-Kommentar und Interaktion mit dem Publikum entwickelt. Außerdem bin ich von mehreren Sendern eingeladen worden, auch von Daniel Cohn-Bendit.

Dessen Leidenschaft gilt nicht allein der Politik, er soll ein großer Fußballfan sein.
Und wie! Dany hat eine Radiosendung bei Europe 1, er möchte dort während des Turniers mit mir über Fußball reden. Außerdem habe ich für drei Spiele Tickets, unter anderem für Deutschland gegen Polen am 16. Juni in Paris. Das wird interessant.

Sie sind auch eingeladen worden?
Nein, die Tickets habe ich mir selber im Internet besorgt. Eingeladen war ich zuletzt nur in Deutschland: nach Berlin zum Pokalfinale Bayern München gegen Borussia Dortmund.

Wieso das?
Der Hauptsponsor von Dortmund engagiert sich offenbar auch kulturell.

Dieser Konzern hat ein Schriftstellerbuch über eine Saison mit Borussia Dortmund finanziert, das unser Kolumnist Moritz Rinke herausgegeben hat.
Rinke war auch mit dabei, wir saßen da als eine Gruppe von Autoren und Künstlern im Olympiastadion, auch Peter Schneider und Daniel Barenboim. In Frankreich lädt niemand einen Schriftsteller ins Pariser Stade de France ein.

Und in Belgien?
Auch nicht. So etwas passiert nur in Deutschland!

Für wen waren Sie bei dem Pokalfinale?
Logischerweise für Dortmund, schon aus Dank für die Einladung.

"Ich habe einen Widerwillen gegen dieses Rot"

Schriftsteller Jean-Philippe Toussaint.
Schriftsteller Jean-Philippe Toussaint.

© Doris Spiekermann-Klaas

Sie haben angedeutet, dass Sie nicht als Reporter, sondern als Romancier über Fußball schreiben, gleichsam unter ästhetischen oder gar poetischen Aspekten. So heißt es in Ihrem Buch, dass Sie mit einem „ironischen Nationalismus“ zwar für Belgien sind, aber das rote Trikot der belgischen Nationalmannschaft nicht mögen.
Seit meiner Kindheit habe ich einen Widerwillen gegen dieses Rot. Schöner finde ich das klare Schwarz-Weiß beim traditionellen deutschen Trikot, solange da kein Rot hinzukommt!

Rot assoziiert die Hölle, und die belgischen Spieler heißen darum die „Roten Teufel“. Aber Rot gilt auch als Farbe der Liebe, der Leidenschaft, der erotischen Verführung.
Nicht das belgische Rot. Es hat öfter gewechselt und ist ein unklares Rot. Das Azurblau der Italiener ist immer unverändert zu erkennen. Fußball-Vorlieben haben viel mit kindlichen, vielleicht sogar kindischen Identifikationen zu tun. Ich habe es lieber, wenn die Belgier auswärts in klarem Schwarz spielen. Für mich ist Rot viel eher das Symbol der Spanier.

Wie beim Stierkampf die Muleta, das rote Tuch. Hemingway hat den Stierkampf als Inbild von Leben und Tod beschrieben. Schon in der Antike bedeutete der Sieg über den schwarzen Stier den Sprung ins Licht, als symbolischer Sieg über den Tod. Sie schreiben, dass der Fußball, so lange ein Spiel dauert, die äußere Zeit und damit die Vergänglichkeit aufhebt.
Es ist eine universelle zeitgenössische Variation dessen, was Blaise Pascal …

… der französische Physiker und Philosoph im 17. Jahrhundert …
... einst als „divertissement“, als Ablenkung oder Unterhaltung, beschrieben hat. Pascal nennt als Beispiel die königliche Jagd. Dabei war es dem König egal, wie viele Hasen oder Hirsche er geschossen hat. Es ging ihm nur darum, während der Jagd seine Verantwortung, die Geschicke der Welt oder den eigenen Tod zu vergessen. Wenn ich als Schriftsteller über Fußball schreibe, dann nicht als Experte für sportliche Taktik und Technik, obwohl es bei genialen Spielern auch um die Kunst des Fußballs geht. Mich interessiert beim Schreiben immer zuerst das Spiel mit dem Leben, mit dem Tod und der Zeit.

Michel Foucault, ein intellektueller Nachfolger von Pascal, hat diesen magischen Versuch, die Zeit und den eigenen Tod aufzuhalten, zugleich auf den Beruf des Schriftstellers übertragen: Solange ich schreibe, sagt er, ist der Pfeil noch in der Luft.
Trotzdem bin ich beim Schreiben gegenüber den Einflüssen der Welt und meiner Zeit ungeschützter als beim Zuschauen im Stadion oder vorm Fernseher. Fußball hüllt den Fan, wenn er nicht gerade einen Herzschlag vor Aufregung kriegt, in einen wunderbar schützenden Kokon.

Beim Kino nennt man das die große Illusion, die Traumfabrik. Doch der Film braucht für die Verzauberung neben Emotionen auch Spannung. Und beim Fußball wollen wir Spannung plus den Erfolg der eigenen Mannschaft. Verliert sie, ist für den Fan der Kokon zerrissen und seine Welt wirkt doppelt miserabel. Ist das nicht der Unterschied zum Bild des königlichen Jägers, dem die Beute gleichgültig sein kann?
Für mich liegt die Spannung beim Fußball nicht im Ergebnis, sondern in der Ungewissheit während des Spiels. Das funktioniert nur in Echtzeit, also nicht als Aufzeichnung im Fernsehen, falls man den Spielausgang schon kennt.

Können Sie die Spannung des ungewissen Spielausgangs völlig trennen von der Freude oder dem Ärger darüber, wie gut oder schlecht, wie glücklich oder glücklos eine Mannschaft spielt?
Für mich ist ein Spiel interessant, solange es nicht entschieden ist. Bei einem klaren 3:0 hört für mich die intellektuelle Spannung auf. Natürlich streichelt ein hoher Sieg die Gefühle als Fan, aber alles in allem ist mir das belgische Siegtor in der letzten Minute lieber als ein Kantersieg.

Falls Belgien gegen Deutschland 3:0 führt und zudem fantastisch spielt und Ihre Landsleute auf den Rängen singen, dann wären Sie emotional nicht berührt und hätten auch keinen ästhetischen Genuss an dem Spektakel?
Okay, wenn Belgien am 10. Juli das Endspiel gegen Deutschland 3:0 gewinnt, mache ich eine Ausnahme. Doch im Übrigen bin ich kein guter Fan.

Also brauche ich Sie gar nicht erst nach einem belgischen Lieblingsverein zu fragen?
Es gibt keinen, für den ich mich restlos begeistere. Manchmal ist das auch situativ. Ich habe mal eine Weile in Madrid gelebt und dort an einem Roman geschrieben – darum mag ich Real.

Ihr spanischer Schriftstellerkollege Javier Marías, ein großer Fan von Real Madrid, hat gesagt: Ein Mann wechselt im Leben den Beruf oder die Frau, aber nicht den Fußballklub.
Ich wechsle nicht die Frau.

"Der deutsche Sieg über Brasilien war sensationell"

Schriftsteller Jean-Philippe Toussaint.
Schriftsteller Jean-Philippe Toussaint.

© Doris Spiekermann-Klaas

Im neuen Buch erwähnen Sie das WM-Halbfinale zwischen Argentinien und Holland 2014. Ein zähes, torloses Spiel, Argentinien gewann im Elfmeterschießen. Über das 7:1 zwischen Deutschland und Brasilien im anderen Halbfinale schreiben Sie nichts.
Der deutsche Sieg über Brasilien war sensationell. Doch dazu ist alles gesagt. Bekannte Ergebnisse sind banal, auch ich als TV-Zuschauer in einer Bar war banal. So spannend ich es fand, beim WM-Finale 2006 im Olympiastadion zu sein, so wenig hat mich beim Schreiben das Ergebnis interessiert. Es ging mir um das Mysterium von Zidane. Und beim Halbfinale zwischen Holland und Argentinien in Brasilien waren meine eigenen Umstände spannender als das Resultat. Ich war in unserem Haus auf Korsika, sah zum ersten Mal ein Spiel via Internet-Streaming, aber die Leitung wurde dauernd unterbrochen, vor dem Elfmeterschießen fiel das Bild aus, ein Gewitter! Ich arbeitete zusätzlich mit einem alten Radio am Stromnetz, da schlug bei uns der Blitz ein, völlige Dunkelheit, bis ich noch ein Transistorradio fand und den entscheidenden Elfmeter auf einem italienischen Sender als Aufschrei im Äther gerade noch mitbekam. Das ist das eigentlich Wichtige.

Sie schreiben im Grunde Ihre eigene Geschichte.
Ja, meine Geschichte des Fußballs ist radikal subjektiv. Es fehlt der übliche Vergleich mit dem Theater, mit dem Drama. Pier Paolo Pasolini hat einmal gesagt, es gibt einen Fußball in Prosa und einen als Poesie. Diesen Satz hätte ich gerne selber erfunden. Aber ich frage nicht, ob es einen rechten oder linken Fußball gibt und was der Stil einer Nationalmannschaft über die Regierung von Schröder, Merkel, Renzi oder Hollande aussagt. Ich beginne mit meiner Kindheit. Und es ist mein erstes Buch, in dem meine Geburtsstadt Brüssel vorkommt.

Sie haben sich als Kind den Türrahmen zwischen Wohn- und Esszimmer als Tor für Ihre imaginierten Schüsse vorgestellt. Welche Position haben Sie in der Schülermannschaft gespielt?
Keine bestimmte. Wir zogen auch bald nach Paris, und in meiner französischen Schule landete ich in der Rugby-Mannschaft. Obwohl ich dünn und schlaksig war und nie eine Rugby-Statur besaß.

Wann haben Sie Ihr erstes großes Spiel gesehen?
Mit knapp neun Jahren, 1966 am Fernseher, das Finale England gegen Deutschland im Wembley- Stadion. Das war in Schwarz-Weiß, und meine Erinnerung ist grau-weiß – flimmernde Schemen. Der erste Stadionbesuch kam erst 1998, die Eröffnung der WM in Frankreich, auch an einem 10. Juni in Paris. Ich war dort mit meinen Kindern, und Brasilien gewann 2:1 gegen Schottland. Mein Faszinosum sind die Europa- und Weltmeisterschaften. Sie berühren meine Kinderträume, meine Idealvorstellungen vom Fußball. Nicht die Champions League und die Vereinsmannschaften.

Der von Ihnen erwähnte schützende Kokon des Fußballs ist vor dieser EM besonders bedroht: durch die Gefahr von Anschlägen. Sie kommen aus Brüssel und Paris, zwei Metropolen des Terrors in Europa.
Ich habe in „Fußball“, das vor den jüngsten Terroranschlägen geschrieben wurde, das Bild des Glühwürmchens gewählt – für die fragile Schönheit, die auch in der Finsternis immer wieder leuchtet.

Das ist ein poetisches Bild, es dient der Wirkung der Literatur. Würde der Fußball nicht zum schnell verlöschenden Glühwürmchen, wenn wirklich eine Bombe explodiert?
Die Polizei und die Geheimdienste müssen ihre Arbeit machen. Dennoch bleibt das Risiko, mit dem wir mit und ohne Fußball leben. Es wäre völlig falsch, die Europameisterschaft abzusagen, wir dürfen nicht schon vorauseilend kapitulieren. Außerdem gehört zu allem Unberechenbaren auch die Freude und Begeisterung, die eine Gesellschaft erfassen und stärken kann. Man hat das bei der WM in Deutschland gesehen, wo sich ein ganzes Land wie verändert präsentiert hat. Die Deutschen, denen man so gerne einen Hang zur Katastrophe und zum Tragischen nachsagt, haben selbst ihre Niederlage im Halbfinale gegen Italien mit einer nie gekannten Leichtigkeit genommen.

Ein Terroranschlag vor einem Spiel hätte eine andere Dimension als eine sportliche Niederlage.
Sicherlich. Dann müsste man innehalten, Spiele verschieben. Wie es nach dem Massaker in Paris am 13. November geschah. Doch lassen wir die Apokalypse besser beiseite ...

... und springen vom Fußball noch schnell ins reale Leben. Sie kennen von Berlin einiges mehr als das Olympiastadion. Als Stipendiat des DAAD haben Sie 1993 und ’94 hier gelebt.
Ja, meine Wohnung war ganz im Westen, am Ende vom Kurfürstendamm, in Halensee. Vor dort aus bin ich durch die ganze Stadt gestreift, in der es diese schicke neue Mitte noch nicht gab.

Sie haben einige Ihrer Romane wie „Das Badezimmer“ oder „Der Photoapparat“ selbst verfilmt. Aus Ihrer DAAD-Zeit gibt es einen Film mit dem rätselhaften Titel „Berlin 10H46“, über den man erstaunlicherweise kaum Informationen findet.
Es ist ein 70-minütiger Film, den ich für das ZDF gedreht habe. Darin fahren ein Architekt, eine Fotografin, ein Mörder und ein Schachspieler kreuz und quer durch Berlin. An einem Punkt treffen sie kurz, um 10 Uhr 46, aufeinander, sie sitzen in zwei verschiedenen Bussen und sehen sich nur durch die Scheiben. Das passierte am Askanischen Platz, hier vor dem Haus, in dem der Tagesspiegel und wir jetzt sitzen. Meine Frau und ich haben selbst mitgespielt. Wie oft im Leben, ein Spiel von Zufall, Suche und Verfehlen. Und heute hat mein Bus hier gehalten.

Übersetzung: Fabian Federl

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