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Ein neues Gebiss kann die Lebensqualität einschränken. Manche Menschen gewöhnen sich nie richtig daran.

© imago/imagebroker/begsteiger

Zahnersatz: Wie es ist, plötzlich ohne eigene Zähne zu leben

Die Oberlippe hängt schlaff herab, das Brot schmeckt wie Pappe. Wie eine Prothese den Alltag und das eigene Ich durcheinanderbringt.

In meiner Zahnarztpraxis kommt das Wort „Prothese“ nicht mehr vor. Man spricht von Zahnersatz, was genauso gut eine Krone oder Brücke bedeuten könnte. Der Patient soll sich weniger schämen, wenn es zum Äußersten kommt. Sich eine Prothese anpassen zu lassen, ist das Äußerste, denn es bedeutet, dass man sehr viele Zähne einfach nicht mehr hat.

So wie ich. Vor mehr als einem Jahr eröffnete mir der sorgfältigste Zahnarzt von allen, dass in meinem Oberkiefer nur drei erhaltenswerte Zähne seien, zehn dagegen müssten gezogen werden. Das zurückgewichene Zahnfleisch und die fehlende Knochenmasse könnten sie einfach nicht mehr halten.

„Und was bedeutet das jetzt?“, fragte ich.

Mein Arzt setzte seine Lupenbrille ab und erklärte, dass ich mehrere Implantate brauchen werde, zuvor aber Knochenaufbau nötig sei. Diese Schritte müsse ein Kieferchirurg ausführen, dazwischen lägen jeweils Monate der Einheilzeit. Am Ende würde ich eine bombenfeste Teleskopbrücke erhalten, von echten Zähnen nicht zu unterscheiden. Haltbar bis an mein Lebensende.

„Für die Übergangszeit passen wir Ihnen einen Zahnersatz an. Das wird die Lebensqualität etwas einschränken.“ Mein Arzt verzog schmerzlich das Gesicht. Ich lächelte ihn weiter an, weil ich nicht die geringste Ahnung hatte, welches Ausmaß diese harmlos klingende Einschränkung annehmen würde. Zwar hatte ich als kleines Mädchen schaudernd die Prothese meiner Großmutter im Wasserglas dümpeln sehen, doch das waren 40 Jahre alte, verblasste Bilder. Jetzt war ich selbst 60, auf Turnschuhen unterwegs, und zahnlose alte Leute hatten keinerlei Bezug zu mir.

Ich fühlte mich gedemütigt

Die Arzthelferin füllte meine Mundhöhle mit einer dicken, warmen Masse, ich wartete geduldig, bis diese erstarrte, und sie das Zeug herauszerrte. Mithilfe des Abdrucks würde das Labor meine Übergangsprothese für die kommende Zeit anfertigen. Die türkisgrünen Silikonreste blieben an meinen Lippen kleben.

Zwei Wochen später hatte ich den Termin bei einem Kieferchirurgen. Bis zu jenem Tag war mir trotz grauer Haare mein gepflegtes Äußeres wichtig. Nach dem Vormittag in seiner Praxis würde dieses dahin sein. Auf Lippenstift hatte ich morgens schon verzichtet. Als ich in den OP-Raum ging, leuchteten mir die Augen dreier Helferinnen freundlich entgegen. „Wie kann man an diesem Tag gute Laune haben?“ Ich lächelte sie das letzte Mal mit meinen eigenen Zähnen an.

Das Team hat es mir leicht gemacht, sie zu verlieren, wir haben sogar gelacht. Die Zähne sind dem Chirurgen quasi entgegengefallen, sehen wollte ich sie nicht mehr. Schmerzen hatte ich keine, es hat nur geblutet. Zum Schluss reichten mir die Arzthelferinnen einen Mundschutz mit einem aufgeklebten strahlenden Lächeln, und so fuhr ich in meinem Auto nach Hause. Die Wunden mussten erst abschwellen, bevor die Prothese angepasst werden konnte. Mit nur noch drei Stümpfen im Oberkiefer statt einer kompletten Zahnreihe fühlte ich mich gedemütigt.

Der erste Blick in den Spiegel war der schlimmste, den ich je in ihn geworfen habe. Ohne von Zähnen gestützt zu werden, hing meine Oberlippe schlaff herunter. Jegliche Spannung war aus meinem Gesicht gewichen. Ich sah aus wie ein altes, zahnloses Weib, und die schönsten Ohrringe der Welt würden das nicht ändern.

Ein intaktes Gebiss unterstützt das eigene Ich

Jetzt begriff ich am eigenen Leib, wie unersetzlich Zähne für Aggression sind. Wie sämtliche positiven Aspekte der Angriffslust und Selbstbehauptung, sogar ein herzhaftes Lachen, ein Werkzeug dafür brauchen. Ein intaktes Gebiss unterstützt das eigene Ich: In Stresssituationen beißt der Mensch unwillkürlich die Kiefer zusammen und vergewissert sich damit seines wehrhaften Selbsts.

Der zahnlose Tiger dagegen ist ein schwacher Kater, ganz egal, wie durchtrainiert und sprungbereit er ansonsten sein mag. Weil er sich nicht mehr schützen kann und weiß, dass jeder das sofort sieht, wird er sich genauso verhalten wie ich: Zwar lebe ich nicht im Dschungel, doch als es an der Tür klingelte, zog ich es vor, mich zu verkriechen.

Leider muss jeder Mensch mal aus dem Haus. Will man durch den Mundschutz nicht noch Blicke auf sich ziehen, bleibt nur ein hoch um den Kopf gewickelter Schal, den ständig eine Hand am Verrutschen hindert. So ausgestattet, kann man an einer anonymen Supermarktkasse schnell etwas einkaufen, aber man will niemandem in die Augen sehen, mit niemandem sprechen, trägt am liebsten Grau, fühlt sich würdelos und huscht auf dem kürzesten Weg heim.

Jede Speise im Mund entpuppt sich als Enttäuschung

Drei Tage später schob mir der Zahnarzt die Prothese in den Mund, ein fremdes, dickes, unförmiges, rosaweißes Ding, das den ganzen Gaumen bedeckte. Ich musste sofort würgen. Die Arzthelferin schaute mich aufmunternd an, reichte mir den Handspiegel. Die Frau, die ich darin erblickte, war nicht mehr ich. Meine Oberlippe sah auf einmal abgeflacht aus. Die Ersatzzähne standen furchtbar vor. Ich versuchte, zu reden, stolperte über die Konsonanten, nuschelte gegen meinen Willen.

„Geht ja“, sagte ich, nachdem der Zahnarzt die Prothese millimeterweise abgeschliffen hatte, sodass sie nicht mehr wackelte. Aber zu lächeln, einfach aus der Situation heraus, wagte ich plötzlich nicht mehr. Man würde den oberen Rand vom Kunststoff sehen. Seitdem halte ich mir beim Lachen die Hand vor den Mund, als wäre ich ein schüchterner Teenager.

Essen ist eine mühsame Pflicht

In den ersten Wochen musste ich mich ständig übergeben, konnte das Ungetüm auf meinem Oberkiefer keine Sekunde vergessen. Saß manchmal da und malmte auf den falschen Zähnen herum, bis namenlose Wut in mir aufstieg. Entfernten Bekannten ging ich aus dem Weg, versuchte bei Gesprächen so viel Abstand herzustellen, dass mein Gegenüber keine Chance hatte, meine Zähne in Augenschein zu nehmen. Ich bemühte mich, meine undeutliche Aussprache zu verbessern, bis heute gelingt mir das nicht. Essen ist eine mühsame Pflicht geworden. Brot schmeckt wie Pappe und lässt sich nicht schlucken. Käse ist bloß salzig und klebt an der Prothese. Müsli mit Nüssen kann ich nicht zerkauen, Fleisch ebenso wenig. Brei geht am besten: ob als geschredderte Haferflocken-Obst-Joghurt-Masse, als Stampfkartoffel oder Fruchtquark.

Es schmeckt nur nicht, egal, was es ist, denn der Gaumen ist ja mit dickem Kunststoff abgedeckt. Und so quäle ich mir täglich die Mindestmenge an Kalorien in den Körper, brauche dafür doppelt so lange wie früher, habe ständig einen knurrenden Magen, aber null Appetit, weil sich absolut jede Speise im Mund als Enttäuschung entpuppt. Bestimmt die Hälfte aller von mir angebissenen Sachen werfe ich angeekelt in den Biomüll und denke schon mit Grausen an die nächste Stunde, in der ich wieder etwas zu mir nehmen muss, um nicht aus den Latschen zu kippen.

Aus dem Leben katapultiert

Binnen Wochen verliere ich vier Kilo an Gewicht, binnen Monaten sieben. Zwei Kleidergrößen weniger lassen sich nicht mehr mit enger gestellten Gürteln überbrücken, ich brauche neue Hosen. Ständig sprechen mich Leute an, warum ich so dünn geworden bin, und ich will doch nicht jedem die Wahrheit erzählen.

Mit einem Mann geflirtet habe ich in dieser Zeit nicht. Ich hätte mir nicht ausmalen mögen, wie es wäre, einen zu küssen. Inzwischen kann ich mir kaum noch vorstellen, unbeschwert zu lachen, mit Appetit zu verschlingen, was der Kühlschrank hergibt, oder mich in Gesellschaft nicht mehr angreifbar zu fühlen.

Dann kommen ein paar Feiertage, und ich spüre mit der Zunge einen Riss in der Prothese. Ich hoffe, dass sie hält, aber am Abend, als ich versuche, an einer Nuss zu knabbern, knackt es hörbar, und ich nehme die Prothese in drei Teilen aus dem Mund. Schlagartig bin ich wieder aus dem gesellschaftlichen Leben katapultiert und muss auf den nächsten Werktag warten.

Ein Symptom von Armut

Zwei halbe Tage verbringe ich im Labor – in netter Gesellschaft von Zahntechnikern, die sich nicht daran stören, dass ich mit Stümpfen im Oberkiefer lache. Sie freuen sich vielmehr, einen Kunden in natura zu sehen, anstatt nur dessen Gebissabdrücke. Nach unendlichen 14 Monaten geht meine Geschichte gut aus: Nach einem allerletzten Zahnarzttermin sitzt die Teleskop-Prothese.

Weltweit ist meine zahnärztliche und chirurgische Versorgung nicht besser zu haben, die Kosten dafür belaufen sich allerdings auf rund 18 000 Euro. Nie im Leben könnte ich das aufbringen, wäre ich nicht zusätzlich versichert. Ohne dieses Glück müsste ich wie zahllose ältere Menschen mit schmalen Renten und klappernden Prothesen 20 oder 30 weitere Lebensjahre irgendwie zurechtkommen – hantierend mit Haftcreme, einem permanent betäubten Gaumen, der latenten Angst vor einem Lachanfall und diesem unbestimmten Gefühl des Ausgeliefertseins, das einen Zahnlosen eher in die Verteidigung als in den Angriff drängt.

Das ist es, was mein Zahnarzt meinte, als er in dürren Worten die „Einschränkung der Lebensqualität“ beschrieb. Sie ist ein Symptom von Armut.

Elisabeth Ligensa

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