zum Hauptinhalt
Das persönliche Glück findet man nicht mithilfe eines Pendels.

© imago/Westend61

Yogakolumne: Es hat sich ausgependelt

Eine kultivierte Anwältin in meinem Studio glaubt, ein Guru könnte ihre Energien channeln. Macht euch nichts vor, niemand da draußen kann euch retten.

In Berlin gibt es wahrscheinlich fast so viele Yogastudios wie Dönerläden. Aber auch, wenn hier ganze Heerscharen tagtäglich den Aufschauenden Hund, die Heuschrecke oder die Halbe Taube machen, können sie nicht unbedingt benennen, was sie da genau tun. Anders als zum Beispiel beim Tennis, wo man sieht, wenn der Ball ins Netz geht, lässt man sich beim Yoga gewöhnlich von der Dynamik der Gruppe mitreißen.

Mit Yoga ist es so ähnlich wie mit all den Gadgets, die uns scheinbar grenzenlos mit der Welt vernetzen und die eigentlich unser Leben bereichern sollten. Stattdessen fühlen wir uns verdammt schuldig, wenn wir eine Whatsapp-Nachricht nicht beantworten. Viele der Teilnehmer quetschen auch Yoga in ihren ohnehin schon vollgeladenen Tag und sind dadurch noch gestresster als vorher. Es würde ja einem Scheitern gleichkommen, dem selbst auferlegten Bild des lässig-urbanen Lifestylers nicht ganz gerecht zu werden. Work-life-Balance ist sowieso schon lange out, alles geht fließend ineinander über: Coworking, Coliving, Cosharing.

Ihr werdet trotzdem sterben

Die Grenzen all dieser Möglichkeiten aufzuzeigen, scheint nicht besonders sexy zu sein. Ich versuche es dennoch immer wieder. Beispielsweise, wenn wieder einmal eine eigentlich so kultivierte Anwältin in meinem Studio behauptet, ein Guru Schieß-Mich-tot könnte ihre Energien channeln oder sie hätte jetzt den einen Life-Coach gefunden, der ihr hilft, in nur vier Wochen, ihr „volles Potenzial zu erkennen“.

Ich möchte dann folgende Ansprache halten: Wir sind heute hier zusammengekommen, um gemeinsam Yoga zu praktizieren, aber macht euch nichts vor – ihr werdet trotzdem sterben. Niemand da draußen kann euch retten. Das könnt ihr nur selbst.

In der klassischen Yogaphilosophie gibt es fünf störende Kräfte, die unser Leiden verursachen. Die nennt man Kleshas. Avidya, die Verblendung, Asmita, die Selbstbezogenheit, Raga, die starke Neigung, Dvesha, die blinde Abneigung, Abhinivesha, die Angst vor Vergänglichkeit und dem Tod.

Im Handeln offenbart sich der richtige Weg

Dass weder das iPhone X noch das Jungle Retreat auf Bali nachhaltig glücklich machen, wisst ihr wahrscheinlich schon. Verfallt aber bitte auch nicht dem Irrglauben, dass es gut ist, immer nur dem Bauchgefühl zu folgen. Damit werdet ihr zu konturlosen Weicheiern. Wenn Disziplin für euch ein Schimpfwort ist und ihr den Härten des Lebens immer wieder ausweicht, wacht endlich auf. Damit Yoga und ihr selbst lebendig bleiben, ist es wichtig, dass wir uns immer wieder von den Klischees befreien.

Es ist doch etwas anderes, ob ich meinem Yogalehrer für eine Stunde erlaube, mich durch die Übung zu führen und meinen Atem zu leiten. Das gehört zu seinem Kompetenzbereich. Es berechtigt ihn nicht, mir zu erklären, wie ich mein persönliches Glück finde und unsterblich werden kann. Dann steht da diese kultivierte Anwältin und glaubt wirklich, sie könne auspendeln, ob sie in Berlin bleibt oder nach Frankfurt zieht. Viveka nennt man im Yoga die Fähigkeit, Blödsinn von Wesentlichem unterscheiden zu können.

Wenn ich im Unterricht sage, man solle sich auf den Fluss des Lebens einlassen, meine ich damit nicht, gleich jedem schwammigen Eso-Trend zu folgen. Im Handeln offenbart sich der richtige Weg: Dann zieh nach Frankfurt, und wenn es dort schrecklich ist, weißt du hinterher wenigstens, dass Berlin dein echtes Zuhause ist! Yoga hilft einem, sich auch in der Fehlentscheidung auszuhalten. Und anzuerkennen: Ich lebe immer noch, und der Boden trägt.

Patricia Thielemann

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false