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Wolf Haas im Interview: „Sexszenen zu schreiben wäre mir peinlich“

Das Verbrechen hat Wolf Haas als Kind bei „Aktenzeichen XY“ kennengelernt. Nun lässt er Menschen bizarre Tode sterben – und klagt, Wien werde zu adrett.

Herr Haas, Sie haben einen ganzen Roman darüber geschrieben, wie eine Journalistin Sie interviewt. Nun befrage ich Sie, das macht einen verlegen.

Verlegen war wohl eher ich. An dem Buch saß ich so lange wie an keinem anderen. Die verschiedenen Rohversionen waren furchtbar, und ich dachte mir: Was sage ich bloß, wenn ich in einem Interview dazu gefragt werde?

„Das Wetter vor 15 Jahren“ wurde sehr erfolgreich. Wie ist es jetzt, Interviews zu geben?

Es wäre viel cooler gewesen zu sagen: Ich gebe nie mehr Interviews. Doch ich mag diese Form. Dass man von einem Thema zum anderen hüpfen kann, dass es scheinbar Fragen und Antworten gibt, aber tatsächlich erzählen die Fragen ebenfalls Geschichten. Und es ist ein anderer psychischer Zustand als Schreiben. Schreiben heißt Innerlichkeit, Rückzug, Selbstzweifel. Interviews geben heißt, sich zusammenzureißen und nicht herumzujammern.

Zum Jammern haben Sie keinen Grund. Ihre Romane um den grantigen Detektiv Brenner sind Kult, drei wurden verfilmt. Wie kamen Sie auf die Figur?

Ich habe in Wales Deutsch unterrichtet. Ich dachte, ich treffe coole Studenten. Ich habe schnell bemerkt, dass die Coolen eher nicht Deutsch als Fremdsprache studieren, und so saß ich fest in Swansea, einer der hässlichsten Städte der Welt, mit Studenten, die meinen österreichischen Akzent nicht verstanden. In meiner freien Zeit habe ich begonnen, Texte im Brenner-Stil zu schreiben.

Also Sätze wie den vielzitierten Anfang aller Brenner-Romane: „Jetzt ist schon wieder was passiert.“

Das Interessante war, dass ich in einem fremden Land, wo ich gezwungen war, korrektes Hochdeutsch zu sprechen, beim Schreiben in meinen Dialekt verfiel. Freuds Satz von der Wiederkehr des Verdrängten fällt mir ein. Dort, wo ich mich international hätte fühlen sollen, hat mich mein Dorf eingeholt.

Apropos Freud. Die „Süddeutsche Zeitung“ nannte als einen von 14 Gründen, warum man die Brenner-Krimis lesen muss: „Todesbewusstsein.“

Das höre ich oft in Deutschland: Ihr Wiener seid so makaber. Das amüsiert mich, denn in Krimis geht es nun einmal um das Morden. Dafür muss ich kein Wiener sein und auf den Zentralfriedhof gehen.

Naja, in Ihren Romanen geraten Leute in Hühnerentbeinungsmaschinen, Köpfe werden von Hubschrauberrotoren abgehackt und landen im Kinderschwimmbecken.

Klar, wenn man nacherzählt, dass jemand zu Gulasch verkocht wird, klingt das schlimm. Aber das Zentrale ist die Komik. Das Grausame ist unerträglich, das Komische ist die Möglichkeit, es erträglich zu machen. Es bedarf einer gewissen Explizitheit des Grausamen, um eine Anlaufgeschwindigkeit für das Komische zu finden.

Lesen Sie Krimis?

Ich wusste gar nicht, wie viele gute Kriminalromane es gibt, die sind mir später von meinen Lesern empfohlen worden. Ich komme von der experimentellen Literatur und habe in meinem Leben sicher mehr Elfriede Jelinek gelesen als Krimis. Während Jelinek, soviel ich weiß, andauernd Krimis liest.

Die Schriftstellerin Patricia Highsmith klagte mal, dass Leute ihr die langweiligsten Stories erzählen und sagen: Darüber musst du einen Krimi schreiben.

Ja, das ist gefürchtet. Ich habe auch oft gehört: Das ist eine Brenner-Geschichte..., und es war immer schlecht.

Die Wiener Eisdielen-Besitzerin, die ihre beiden Ehemänner erschossen, zerstückelt und im Keller einbetoniert hat, über die in Österreich gerade berichtet wird, hat schon Potenzial, oder?

Die „Eis-Lady“, oh ja. Ich habe Aufnahmen vom Prozess gesehen. Eine junge hübsche Frau, erstaunt hat mich ihr Kleid. Wenn die besten Filmausstatter Hollywoods sehr lange darüber nachgedacht hätten – sie hätten kein besseres finden können. Grau, schlicht, körperbetont, ein Büßergewand, aber sexy. Am nächsten Tag schrieb jemand in einem Blog, wo man so ein Kleid kaufen kann. „I would kill for this dress“, stand darüber.

Fasziniert Sie Verbrechen?

Ich bin geprägt von den 60er Jahren auf dem Land, wo ich fatalerweise als Sechsjähriger „Aktenzeichen XY“ schauen durfte. Kinder sind grausam, aber das war eine Überforderung. Ich wollte die Täter erwischen und habe die Leute auf den Straßen beobachtet. An einen Fall erinnere ich mich gut. Jemand hat eine Familie überfallen und ausgeraubt. Danach hat er ihr portionsweise den Schmuck zurückgeschickt. Das war das eigentlich Bedrohliche. Dass er Kontakt zu ihr aufgenommen hat.

Wie war sonst Ihre Kindheit im Salzburger Dorf Maria Alm?

Das war hinter den sieben Bergen. Es gibt keinen Bahnhof, ich musste zwei Stunden im Postautobus fahren, um in die Stadt Salzburg zu kommen. Das einzig Aufregende war Skifahren. Ich habe von April an die Tage gezählt, bis ich endlich wieder Skifahren konnte.

War Ihr katholisches Umfeld ähnlich verkommen wie das Internat, das Sie in Ihrem Krimi „Silentium!“ als Ort von Missbrauch und Unterdrückung beschrieben?

Ich bin extrem katholisch aufgewachsen, was die Makrostruktur betrifft, also Dorf und Schule. Aber meine Eltern waren nicht katholisch, ich war frei davon. Die Religion hat mich nicht tief beschädigt, sondern nur oberflächlich irritiert, was eine ideale Prägung für das Schreiben ist. Als ich Ende der 90er an „Silentium!“ arbeitete, kochten in Österreich die ersten Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche hoch. Ich habe damals geglaubt, ich übertreibe maßlos, und war im Nachhinein über die Vielzahl der Fälle schockiert. „Silentium!“ wurde als übertriebenes Katholizismus-Bashing wahrgenommen und sehr schlecht besprochen. Heute höre ich oft, es sei der beste Brenner.

Wir sitzen in einer Konditorei nahe der Wiener Ringstraße. Dabei sollten wir eine „Spenderleber“ essen, wie die Rettungsfahrer in „Komm, süßer Tod“ den Leberkäse an der Imbissbude nennen.

Die „Spenderleber“ ist inzwischen sprichwörtlich. Es ist nur nie jemandem aufgefallen, dass sich die Orte eigentlich in Salzburg befinden, wo ich früher gewohnt habe. Im Salzburger Landeskrankenhaus gibt es einen Würstelstand, aber nicht am AKH in Wien, wo der Roman spielt. Ein Bekannter hat einmal den Portier nach dem Würstelstand gefragt. Der war völlig entnervt, weil ihn ständig jemand auf den blöden Würstelstand mit der Spenderleber angesprochen hat.

Aber Rettungsfahrer waren Sie schon?

Ich habe meinen Zivildienst beim Roten Kreuz in Salzburg absolviert. Ich habe es mir immer leicht gemacht beim Schreiben und Milieus gewählt, die ich kenne, katholisches Internat, Rettung. Meine Eltern waren beide Kellner, daher gibt es so viele gastronomische Situationen in meinen Büchern. Ich bin aufgewachsen mit Geschichten über nervende Gäste und Landgasthäuser, wo zwei, drei Kartenspieler bis vier Uhr in der Früh hocken bleiben.

1990 zogen Sie nach Wien. „Wie schön wäre Wien ohne Wiener“, sang der Liedermacher Georg Kreisler. Kennen Sie das Gefühl?

Nein, ich war die ersten Jahre in totaler Euphorie, in Wien leben zu dürfen. In Salzburg ist es sehr schwer, nach 23 Uhr ein offenes Lokal zu finden. In Swansea, wo ich unterrichtet habe, war nach 23 Uhr alles gesetzlich verriegelt. Dagegen Wien, wo dir um vier Uhr früh, wenn du Hunger hast, tausend Restaurants offen stehen!

Wien war sehr düster früher.

Als ich nach Wien zog, war die Düsterkeit vorbei und die totale Aufpoliertheit noch nicht erreicht. Es gab das Unperfekte in der Bausubstanz und billige Wohnungen, die nicht saniert waren. Heute leide ich unter der Versalzburgerung Wiens. In Salzburg war immer alles teuer und adrett, und in Wien ist inzwischen auch alles teuer und adrett.

Detektiv Brenner wurde als Österreichs Antwort auf Philip Marlowe oder Kommissar Maigret gefeiert. Und Sie schreiben keine Brenner-Krimis mehr!

Der erste Brenner-Roman entstand aus dem Gefühl: So darf man nicht schreiben, ich tue es trotzdem. Mit dem Erfolg hat sich von Buch zu Buch das Verbot zum Gebot gewandelt. Alle Leute haben mit mir im Brenner-Stil geredet, und es wurde erwartet, dass ich mein ganzes Leben so weitermache. Ich schrieb „Das Wetter vor 15 Jahren“ und wurde das erste Mal im Nobelfeuilleton wahrgenommen. Man gratulierte mir, dass ich gerade noch den Absprung von den Krimis geschafft hätte. In dem Moment, wo es niemand mehr von mir erwartet hat, ist mir der Brenner wieder sympathisch geworden. Und wie das so ist im Leben: Das, was man nicht tun muss, geht einem leicht von der Hand. „Der Brenner und der liebe Gott“ schrieb sich fast von selbst.

Sie wollten nicht die Donna Leon Wiens werden?

Wenn man das erste Mal formuliert „Pass auf“ oder „Der war so ding“, denkt man: Wow, cooler Satz. Mit dem Erfolg wird es immer schwieriger, dass das ursprünglich Gewagte nicht eine gewisse Nuttigkeit kriegt, indem man aufs Bewährte setzt.

Der Werbetexter, der Sie früher waren, würde sagen: Sie haben mit Brenner eine Marke geschaffen.

In kommerzieller Sicht war es Blödsinn, damit aufzuhören. Doch wenn ich es mir hätte leicht machen wollen, hätte ich in der Werbeagentur bleiben können. So muss ich mir zumindest bei keinem Buch vorwerfen, dass ich das als Job schnell runtergenudelt habe.

Wie fanden Sie das Milieu der Werber?

Ich war kurz in der Werbung, zwischen 30 und 35. Ich hatte alle Klischees im Kopf, von aufgeblasenen Typen, die den ganzen Tag koksen. In Wirklichkeit war alles überraschend bieder, viel Büroarbeit. Verstört hat mich, dass die Werber ein so hohes Ethos hatten. Sie wollten gute, nie dagewesene Werbung machen. Ich wollte schnell Geld verdienen, damit ich Bücher schreiben kann. Dadurch war das Ganze viel mehr Stress als erwartet.

Gibt es Werbung von Ihnen, die man kennen muss?

Mein Renommee als Werber speist sich seit 20 Jahren aus meinem Slogan für das österreichische Kulturradio Ö1: „Ö1 gehört gehört.“ Aber ein Medium ist ein dankbareres Produkt als ein Waschmittel.

Gucken Sie „Mad Men“, die Serie über eine Werbeagentur im New York der 60er und 70er-Jahre?

Das ist mir zu elegisch. Ich merke schon, dass das gut gemacht ist, schaue aber lieber „Stromberg“.

In „Mad Men“ wird lange gestritten, ob man für Zigaretten werben soll. Hätten Sie gewisse Aufträge abgelehnt?

Ich wollte nicht für das Bundesheer werben und für PVC. Es war eine große Agentur, selbst die Geschäftsführer hätten nicht alles gemacht. Viel frustrierender ist allerdings der typische Alltag in der Werbung: Man präsentiert etwas, alle sagen: Super – bis auf diese Kleinigkeit. Und diese Kleinigkeit ist zufällig die zentrale Idee. Werbung heißt, zu 95 Prozent für den Papierkorb zu arbeiten.

Was ist schlimmer: in der Werbung eine Schreibhemmung zu haben oder als Schriftsteller?

„Schreibhemmung“, das ist für mich ein Begriff wie „Recherche“. Wenn wo über das Krimischreiben geredet wird, vergehen meist keine zehn Sekunden, bis der Ausdruck „Recherche“ fällt, und irgendwer raunt immer, Arthur Hailey hätte sich in den 60er Jahren für seinen Roman „Airport“ sogar undercover am Flughafen herumgetrieben. Eine Schreibhemmung ist für einen Schriftsteller ein Pseudoproblem. Wenn man eine Hemmung hat, denke ich mir, schreibt man einfach nicht.

In Ihrem jüngsten Buch „Verteidigung der Missionarsstellung“ haben Sie sich einem abgedroschenen Genre zugewandt: dem Liebesroman.

Abgedroschene Genres kommen mir extrem entgegen. Es gibt diese Geschichte vom Riesen Prokrustes, der seinen Gästen ein Bett anbietet. Sind sie zu klein, zieht er ihnen die Beine lang, sind sie zu groß, hackt er ihnen die Beine ab. Die Grenzen eines Genres sind ein solches Bett, man hat sofort den Reflex, daran zu zerren. Es gehört zu den groteskesten Dingen, die ich im Laufe meiner Karriere gehört habe: Ich hätte mit dem Brenner einen so interessanten Detektiv geschaffen. Dabei habe ich einfach alle Klischees genommen, wie ein Detektiv zu sein hat, ein Lonely Wolf, ein Trinker, eine verlorene Gestalt. Die Aufgabe, die ich mir stellte, war, diese Leiche zum Leben zu erwecken. Der Detektiv wirkt nur deshalb interessant, weil er interessant erzählt ist. Meine Hauptfigur ist ja nicht der Detektiv, sondern der Erzähler.

Sehen Sie sich in der Tradition der österreichischen Literatur, für die Form immer ebenso wichtig ist wie der Inhalt?

Mich interessiert die Sprache, die Form. Aber ich finde es langweilig, zu sehr darauf zu setzen. Ein Text ist nun einmal am interessantesten, wenn er selbst interessant ist, aber auch etwas Gutes erzählt. Die naive Erzählweise erkämpfe ich mir durch Tricks. Dass es einen Ich-Erzähler gibt, wie in den Brenner-Krimis. Oder dass ein Interview stattfindet wie in „Das Wetter vor 15 Jahren“. Beim Schreiben war das, als würde ich in einem Horrorfilm die Tür zudrücken, hinter der die Monster sind, nämlich die Liebesgeschichte. Und am Ende kommen sie trotzdem rein.

Elfriede Jelinek nennt sich selbst „die Liebesmüllabfuhr“, ihre Literatur bestehe darin, den Phrasenmüll wegzuräumen. Kann man heute noch ungebrochen über Liebe erzählen?

Warum nicht? „Die Brücken am Fluss“, das ist eine tolle, unironische Liebesgeschichte. Und ein Liebesroman ist eine Geschichte über einen Mann und eine Frau, die sich lieben. Die künstlerische Aufgabe ist es, die Größe der Gefühle zu vermitteln, ohne dass sie explizit zur Sprache kommen.

Ein Problem sind Sex-Szenen. Es gibt so viele schlechte, dass die renommierte Londoner Literary Review einen „Bad Sex in Fiction Award“ vergibt.

Es wäre allerdings ein viel schöneres Projekt, die beste Sexszene zu prämieren. Dennoch ist eine Sexszene etwas, das ich in meinem ganzen Leben nicht schreiben könnte. Es wäre mir so peinlich. Es ist mir sogar für andere Autoren peinlich, ihre Sexszenen zu lesen. Ich stelle mir immer vor, wie die am Computer sitzen und das alles schreiben.

Lesen eher Frauen oder Männer Ihre Bücher?

Alle Bücher werden eher von Frauen gelesen. Beim Büchersignieren kommen manchmal 20 Frauen hintereinander, die mir sagen, wie toll sie meine Bücher finden, bis auf das eine, das über die Formel I, „Ausgebremst“. Und dann kommt immer ein Mann in Lederjacke, der sagt: „Ausgebremst“ ist mein absolutes Lieblingsbuch, ich habe es schon fünf Mal gelesen.

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