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In Japan kein Problem: Schlafen im Unterricht gilt dort als Indiz für nächtlichen Fleiß.

© imago/Panthermedia

Winterzeit - die Uhr wurde zurückgestellt: Chrrrrrrzzzzzzzzzzz!

In der Nacht auf Sonntag war wieder Zeitumstellung, was bedeutet: eine Stunde länger schlafen. Aber wie und wo? Ein Exkurs aus gegebenem Anlass.

- Karoline Walter ist Kulturwissenschaftlerin und Lektorin. Der Text basiert auf ihrem neuen Buch „Guten Abend, gute Nacht – ein kleine Kulturgeschichte des Schlafs“ (Hirzel Verlag).

In einer Münchner Cocktailbar halte ich das wahrscheinlich kürzeste Nickerchen meines Lebens. Kaum hat sich mein Kopf in Richtung Tischplatte gesenkt, lässt mich ein Barmitarbeiter mit lauter Stimme wissen: „Sorry, aber hier wird nicht geschlafen.“ Auf meine Rückfrage hin erläutert er: Weil eine Bar nun mal eine Bar sei und kein Schlafzimmer – eine Feststellung, die mir seither zu denken gibt.

Außerhalb der eigenen vier Wände ein Schläfchen zu halten, ist in Deutschland eher ungewöhnlich. In Fernzügen und -bussen ist es noch halbwegs ist es noch halbwegs üblich, ebenso in Freibädern oder am Strand. Auf Parkbänken, in U-Bahnen oder auf öffentlichen Veranstaltungen ist es dagegen schon ungewöhnlicher. Wer hier einer Nickerchen einlegt, scheint nicht zur Leistungsgesellschaft zu gehören. Entweder weil er zu jung oder zu alt dafür ist oder endgültig aus ihrer herausgefallen. Nicht von ungefähr nennt man Obdachlose manchmal abwertend „Penner“.

Es gibt dagegen Gesellschaften, in denen es ganz normal ist, in der Öffentlichkeit zu schlafen – obwohl Leistung, Scham, Disziplin und Körperbeherrschung dort sogar eine noch größere Rolle spielen als hierzulande. Das prominenteste Beispiel dürfte Japan sein. In Japan gehört es zum Alltag, auf Parkbänken, in U-Bahnen oder in Zügen zu schlafen.

Wer einschläft, verliert die Kontrolle über seinen Körper

Tagesmüdigkeit wird als Indiz dafür aufgefasst, dass man in der Nacht zuvor regsam war. Tatsächlich schlafen Japaner nachts weniger als Angehörige westlicher Nationen – durchschnittlich sieben Stunden und 47 Minuten (Männer) bzw. sieben Stunden und 20 Minuten (Frauen), währen der euro-amerikanische Durchschnitt bei acht Stunden und sieben Minuten (Männer) bzw. acht Stunden und 18 Minuten (Frauen) liegt. Besonders wenig Nachtschlaf genießen japanische Oberschülerinnen und -schüler mit durchschnittlich sechs Stunden 58 Minuten. Daher geht man in Japan selbst im Schulunterricht nachsichtig mit Schläfern um.

Wer einschläft, verliert normalerweise die Kontrolle über seinen Körper. Der Unterkiefer klappt vielleicht herunter, im schlimmsten Fall läuft ein Speichelfaden heraus. Japaner scheinen dagegen selbst im Schlaf buchstäblich das Gesicht wahren zu können. In den meisten japanischen Haushalten sind abgetrennte Schlafzimmer bis heute unüblich. Den Mangel an Privatsphäre kompensiert man durch einen äußerlichen beherrschten Körper, der so selbst zu einer Art Schutz- und Rückzugsraum wird. Das japanische Wort für Nickerchen, „Inemuri“, bedeutet wörtlich übersetzt: „gleichzeitig anwesend sein zu und schlafen“.

Wer die Kunst des Inemuri wirklich beherrscht, bekommt immer noch so viel von seiner Umgebung mit, dass er im richtigen Moment reagieren kann - etwa wenn die richtige U-Bahn-Station erreicht ist oder einem in einem Gespräch das Wort erteilt wird. Daher werden Inemuri sogar in Arbeitssituationen wie Geschäftsmeetings geduldet.

Angehörige westlicher Gesellschaften leben und denken hingegen raumbezogener. Räume sind Erweiterungen des Selbst. Man stattet sein Zimmer mit persönlichen Dingen aus und erzeugt damit etwas, das man „Atmosphäre“ nennt. Um sich geistig und körperlich wohlzufühlen, benötigt man vier blickdichte Wände, insbesondere bei so einer heiklen Angelegenheit wie dem Schlaf.

Fremde Schlafzimmer sind ein heikles Gebiet

Beim Schlafen ist man im doppelten Sinne nicht man selbst: Zum einen ist man außerhalb des Selbst, weil man bewusstlos ist. (Bewusstsein und Selbst sind im westlichen Denken untrennbar miteinander verbunden.) Zum anderen entspricht das ungekämmte, schnarchende und schwitzende Wesen, zu dem man im Schlaf wird, schon rein äußerlich nicht dem Bild, das die meisten Menschen von sich selbst haben. Wenn man sich schon selbst so nicht sehen kann und will, so möchte man sich in diesem Zustand erst recht nicht den Blicken Fremder ausliefern.

Viele Konventionen sind heute gelockert, und Lebensstile sind „fließend“ geworden, auch und gerade, was körperliche Intimität angeht. Trotzdem hätten die meisten Westeuropäer und Amerikaner wohl nach wie vor Hemmungen, ein fremdes Schlafzimmer zu betreten. Nicht von ungefähr befindet es sich meist im hintersten Winkel einer Wohnung, an dem man eher nicht zufällig vorbeikommt. Der Extremfall eines Schlafzimmertabus wird in der US-amerikanischen Sitcom The Big Bang Theory parodiert. Es ist einer der Running Gags der Serie, dass niemand das Schlafzimmer des Hauptprotagonisten Sheldon Cooper betreten darf. Dieses Verbot schließt, zumindest für lange Zeit selbst Sheldon Coopers Freundin ein.

Dass Schlafzimmer „verboten“ sind, hat natürlich nicht zuletzt mit ihrer sexuellen Konnotation zu tun. So es gehört es zu den Ritualen der meisten jungen Paare die ihre erste gemeinsame Wohnung beziehen, diese in einen Wohn- und einen Schlafbereich aufzuteilen. Sie nutzen die Gelegenheit, ihre Beziehung durch die gemeinsame Wohnung auf eine neue Stufe zu haben, indem sie ihrem Zusammenschlafen jetzt buchstäblich einen eigenen Raum geben.

Historisch ist das ein recht junges Phänomen. Über ein eigenes Schlafzimmer zu verfügen, ist auch in westlichen Gesellschaften noch nicht besonders lange Standard. Meine Großmutter väterlicherseits, die in den 1920er Jahren geboren wurde, verfügte in ihrer Jugend noch nicht einmal über ein eigenes Bett. Bis sie mit 14 Jahren von zu Hause auszog, teilte sie sich eines mit ihrer nächst älteren Schwester. Bis sich in der Folge der Industrialisierung der allgemeine Lebensstandard hob, war es ganz normal, sich Betten mit Familienmitgliedern, Fremden oder sogar Vieh zu teilen.

Vornehme Leute gingen nicht ins Bett, sie "zogen sich zurück"

Privateigentum und damit private Schlafzimmer und Betten etablierten ich erst mit dem Aufstieg des Bürgertums. Professoren, Pastoren, Ärzte, Anwälte und (später) Fabrikanten hatten einerseits die Mittel und den Willen, bis dahin dem Adel vorbehaltene Lebensstile zu imitieren, andererseits waren sie politisch zu unbedeutend, um nach Dienstschluss noch eine gesellschaftliche Rolle ausfüllen zu müssen. Sie hatten keine Ämter, sondern Berufe. Man ging daher in bürgerlichen Kreisen auf genau gegenteilige Art schlafen wie am Hof von Versailles. Über derart profane Dinge wie das Schlafen wurde nicht einmal öffentlich gesprochen, geschweige denn, dass man jemanden dabei zusehen ließ. Wie es in einem Manierenbuch von 1936 heißt, das die damals bereits vergangene bürgerlichen Epoche vor dem Ersten Weltkrieg beschreibt, gingen vornehme „Damen und Herren nicht zu Bett – sie zogen sich zurück“.

Die kulturelle Revolte der 1960er und 1970er Jahre veränderte die Lebensstile der westlichen Welt nachhaltig, zumindest ein Stück weit. Die selbstgewählte Obdachlosigkeit mancher Hippies änderte zwar nichts an den sozialpolitischen Ursachen unfreiwilliger Wohnungslosigkeit, trug aber dazu bei, dass nomadisierende Lebensformen endstigmatisiert und entkriminalisiert wurden. Schließlich hatten Wohnungslose lange Zeit nicht nur unter ihrer Armut zu leiden, sondern machten sich zu allem Überfluss auch noch strafbar: So war „Landstreicherei“ etwa in Deutschland bis weit ins 20. Jahrhundert hinein verboten.

Ausgerechnet im Geburtsland der Beatnik- und Hippiebewegung gibt es seit Jahrzehnten wieder einen gegenläufigen Trend: Mit so genannten „Sleeping Bans“ versucht man in vielen US-amerikanischen Gemeinden, Menschen ohne Obdach aus dem öffentlichen Raum und damit aus dem öffentlichen Bewusstsein herauszudrängen. Wohnungslose werden aus den Stadtzentren in so genannte „Safe Sleeping Zones“ vertrieben, die sich etwa in verwaisten Industriegebieten befinden. Zu den Befürwortern solcher Draußenschlafverbote gehören vor allem Interessengruppen aus Einzelhandel, Gastronomie und Tourismusindustrie, die Wohnungslose als geschäftsschädigend betrachten, da sie befürchten, ihr Anblick könne Kunden abschrecken.

Das Zeltlager sieht man heute als Protestcamp

Überall gibt es heute politische Konflikte, die um Fragen der Raumnutzung kreisen. Bürger protestieren gegen fortschreitende Privatisierungen, die die Idee des öffentlichen Raums selbst bedrohen (etwa die „Indignados“, die „Empörten“, die sich im Sommer 2011 in Madrid und Barcelona gegen die spanische Regierung auflehnten). Sie fordern bessere Lebens- und Wohnbedingungen (wie etwa die Israelis, die 2011 im Stadtzentrum von Tel Aviv zelteten), das Recht auf politische Mitbestimmung und Mitgestaltung (wie die Stuttgart-21-Gegner oder die Demonstranten, die sich im Sommer 2013 auf dem Taksimplatz in Istanbul versammelten) oder schlicht Bleiberecht und Bewegungsfreiheit – wie die Asylbewerber, die im Herbst 2013 ein Camp auf dem Kreuzberger Oranienplatz errichteten.

Nicht zuletzt sind solche Protestcamps auch ein symbolisches Statement gegen einen rein auf digitale Selbstinszenierung beschränken Lebensentwurf, wie er sich etwa in den sozialen Netzwerken wie Facebook oder Instagram widerspiegelt, die zwar suggerieren, öffentliche Räume zu sein, es aber nicht sind. Wenn es zu dieser Art von Selbstoptimierungsshows eine Antigeste gibt, so ist dies vielleicht, auf einem innerstädtischen Platz auf dem Boden zu liegen und zu schlafen und damit nicht weiter zu tun, als von seiner Existenz als Mensch Zeugnis abzulegen – und das öffentlich.

Zugleich ist der Schlaf im 21. Jahrhundert – sei es als Bestandteil erzählbarer und Instagram-tauglicher Events oder in Form genussmaximierter Wellness-Erlebnisse – zum Ereignis geworden. In Innovationslaboratorien weltweit wird daran gearbeitet, den Schlaf noch schöner, einzigartiger und erholsamer zu machen. Geht es nach den Träumen einiger Wissenschaftler am „Media Lab“ des Massachusetts Institute of Technology oder der University of California, wird man möglicherweise künftig nicht mehr in banalen Betten nächtigen, oder jedenfalls nicht mehr ausschließlich, sondern auch in Hängematten, Kokons oder Federwiegen. Beim Einschlafen würde man den schlaffördernden Duft von Lavendel riechen oder dem durch Tannenzweige rauschenden Wind lauschen – oder sich durch das Gewicht extraschwerer Decken wieder geborgen fühlen wie ein Säugling

"Quality Sleep" als "der neue Sex"

In der postindustriellen Gesellschaft der Gegenwart scheint sich ein genuines Interesse am Schlafe entwickelt zu haben, bei dem der Schlaf nicht länger als notwendiges Übel betrachtet wird, sondern als Zustand mit eigener Qualität. Prominente gründen „Sleep Clubs“, Zeitungsautoren feiern den Schlaf als „neuen Sex“ oder wenden sich leidenschaftlich gegen die Vereinzelung des Schlafes, indem sie dafür eintreten, öfter bei Freunden zu übernachten. Portale wie Couchsurfing oder Airbnb machen sogar das Nächtigen bei Fremden salonfähig.

In den letzten Jahren fanden große Ausstellungen zum Thema Schlaf statt, auch auf dem Buchmarkt ist ein Trend hin zum „Schlaf an sich“ zu verzeichnen. Selbst in Bastionen der Hochkultur wie Museen und Konzertsälen wird mittlerweile öffentlich geschlafen, etwa während der Aufführung von „Sleep“, einem achtstündigen Werk des Komponisten Max Richter, das vom Schlaf in all seinen, nicht zuletzt durch die moderne Schlafmedizin offengelegten, Phasen inspiriert scheint. In Berlin wurde das Stück 2016 aufgeführt, wobei den abendlich anreisenden Zuhörern statt Stühlen Feldbetten zur Verfügung gestellt wurden.

Die neue Wertschätzung des Schlafs dürfte mit einem bestimmten Mindset einhergehen: einem Bewusstsein davon, dass schlecht zur schlafen ungefähr genauso schädlich für Körper und Psyche ist wie schlecht zu essen. Unzureichender Schlaf befördert so gut wie alle Zivilisationskrankheiten, darunter Übergewicht, Krebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes und Depressionen. Vielleicht wird „Quality Sleep“ daher bald ein ähnliches kulturelles Kapital und damit Statussymbol sein wie gesunde Ernährung.

Es mag in Zukunft also eine Aufwertung und (Rück-)Eroberung des Schlafs geben, aber vielleicht nicht unbedingt im Sinne eines „Vergnügen des armen Mannes“ – also als einer Art anarchischer Sphäre gesellschaftlicher Rebellion und Verweigerung, die Schlafen in westlichen Gesellschaften bisher immer ein Stück weit gewesen ist. Vielmehr könnte er stattdessen zu einer Art privatem Wohlfühlfluchtort werden, an den sich zumindest die privilegierten Teile der Gesellschaft zurückziehen, um dort vor kommenden globalen Katastrophen die Augen verschließen zu können.

Karoline Walter

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