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Wer die Maske trägt, schützt alle, die sie nicht tragen, aber nicht sich selbst vor denen, die sie verweigern. Es gibt keinen Kompromiss.

© Getty Images/iStock

Wie geht es uns heute?: Wie das Virus das Berlin-Gefühl tötete

Das Virus hat etwas erschüttert: das Grundgefühl dieser Stadt, in der Toleranz über allem steht. Nach den eigenen Regeln zu leben, ist keine Option mehr.

Schon die Frage ist eine Zumutung. In diesen Zeiten. Wie geht’s? Wie soll’s einem schon gehen? Und dann gleich einer ganzen Stadt und ihren Einwohnern, die sich doch allerhöchstens darauf einigen können, dass sie sich nicht einigen müssen. Oder besser: mussten.

Denn es ist etwas erschüttert worden. Das Grundverständnis dieser Stadt, die ihren ganzen Mythos daraus zieht, dass man sich gegenseitig in Ruhe lässt, machen lässt. Doch das wird nicht mehr gehen – jedenfalls nicht gutgehen. Das Virus lässt keinen Platz für Kompromisse, für Grautöne, Nachsicht und individuelle Lösungen: Das Virus hat Berlin nicht verstanden – und es ist ihm egal.

Um nachzuvollziehen, was daraus folgt und was das mit den Berlinern macht, hilft es, sich zu vergegenwärtigen, was das eigentlich für ein Sommer war. War, weil mit dem Ende der Ferien eine neue Phase beginnt, epidemiologisch, aber auch psychologisch.

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Es ist ein Sommer, der damit anfing, dass der Senat Ende Juni die Kontaktbeschränkung aufhob. Obwohl die Zahl der aktiven Infizierten in Berlin doppelt so hoch lag wie noch wenige Wochen zuvor: ein Sommer des Optimismus sozusagen. Tatsächlich war es ja eine Art Erlösung für eine Stadt, die sich – vernünftigerweise und mit bemerkenswerter Resilienz ihrer Bewohner – zu Beginn der Pandemie selbst entkernt hatte.

Nichts müssen, aber alles können

Clubs, Bars und Restaurants geschlossen, Treffen in Parks unter Androhung von Bußgeld verboten, Nachbarn, die private Zusammenkünfte bei der Polizei anzeigen. Geburtstage und Hochzeiten, die unter Ausschluss von Freunden und Verwandten stattfinden. Verbunden mit der Erkenntnis, dass Berlin eben nicht aus sich heraus schön ist. Der Sog dieser Stadt ist menschengemacht, zieht seine Kraft aus dem Miteinander, Gegeneinander. Dem nichts müssen und in aller Regel auch nichts tun, aber jederzeit können. Berlin ist Projektionsfläche, aber mit den Projektoren im Homeoffice, zurückgeworfen auf die Kernfamilie oder sich selbst – was bleibt da übrig?

Die Stadt zieht ihren ganzen Mythos daraus, dass man sich gegenseitig in Ruhe lässt, machen lässt.
Die Stadt zieht ihren ganzen Mythos daraus, dass man sich gegenseitig in Ruhe lässt, machen lässt.

© Christoph Soeder/dpa

Die Stadt hat das nicht gebrochen. Im Gegenteil. Mit jeder Lockerung der Maßnahmen kehrte das Leben umso heftiger zurück. Wer in den vergangenen Wochen durch die Straßen spazierte, wähnte sich, je nach Kiez, auf einem großen Festival, als wollten die Menschen eine Zeit wieder herbeifeiern, an die sie sich noch erinnerten, die gute alte, wie üblich. Sie ist noch gar nicht so lange her, eine Ewigkeit nur im eigenen Bewusstsein.

Berlin hat nie gelernt, den Preis der neuen Freiheit zu zahlen

Nun trifft man auf Berliner, die – beraubt der Möglichkeit wirklich zu verreisen – ihre Stadt neu erkunden: Fernsehturm statt Eiffelturm, Kälberwerder statt Karibik, Touristen in der eigenen Heimat. Fast 10.000 Infizierte seit Beginn des Corona-Ausbruchs, mehr als 220 Tote, mehr als 50 Neuinfizierte an manchen Tagen, oder wie man in Berlin sagt: Alle Ampeln auf grün.

Als wollten sie die gute alte Zeit wieder herbeifeiern.
Als wollten sie die gute alte Zeit wieder herbeifeiern.

© imago

Die Katastrophe ist ausgeblieben, bisher. Der Lockdown hat auf die Wirtschaft durchgeschlagen, ja, Existenzen gefährdet, aber der Horror von New York oder Bergamo ist Berlin erspart geblieben. Geht doch gut, alles in allem. Die Lockerheit ist verdient. So kann man das sehen.

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Der Preis für die neue alte Freiheit ist aber einer, den Berlin als Gesellschaft nie gelernt hat zu zahlen: sich an Regeln zu halten. Regeln gab es in Berlin nie weniger als anderswo. Nur hat sie hier schon immer jeder im Sinne von Artikel 2 des Grundgesetzs sehr frei für sich ausgelegt. Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die eines anderen beginnt.

Anarchie mit Stützrädern

Wiegt das Recht auf Nachtruhe wirklich schwerer als das Recht, zu feiern? Wiegt die Pflicht, dem Bürgeramt einen neuen Wohnsitz anzuzeigen, schwerer als der Wunsch nach psychischer Unversehrtheit? Steht die Verkehrsordnung über dem Grundbedürfnis, irgendwann anzukommen? Da schien in Berlin traditionell jeder sein eigener Verfassungsrichter zu sein. Und man nahm es hin. Lustvoll sogar. Romantisches, chaotisches Berlin! Anarchie mit Stützrädern.

Das Modell verliert seinen Charme inmitten einer todbringenden Pandemie.

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Nach den eigenen Regeln zu leben, geduldig die Regelverstöße der anderen zu tolerieren, ist keine Option mehr. Nicht, wenn es um Abstand, um Maskenpflicht und Hygiene geht. Freundschaften können daran zerbrechen, Familien sich überwerfen. Nun, da sich alle wieder treffen können, trifft man auch auf jene, die anders mit der Gefahr umgehen.

Im Sportverein auf den Mitspieler, der findet, jetzt müsse doch auch mal wieder gut sein mit der Vorsicht. Eine Umarmung wird zum Affront.

Jeder Kompromiss kommt der Verweigerung gleich

Der Arbeitskollege, der unbedingt noch mit in den Fahrstuhl will, die Freundin, die sich im Restaurant nicht in die Anwesenheitsliste einträgt. Am alltäglichsten, deutlichsten, offenbart sich das Problem bei der Maske. Wer sie trägt, schützt alle, die sie nicht tragen, aber nicht sich selbst vor denen, die sie verweigern. Die Maske unter der Nase ist kein Entgegenkommen, sie nur manchmal zu tragen kein Mittelweg.

Die Intensivbetten auf dem Messegelände wurden bisher nicht benötigt. Sie stehen dort wie ein Mahnmal vor der Zweiten Welle.
Die Intensivbetten auf dem Messegelände wurden bisher nicht benötigt. Sie stehen dort wie ein Mahnmal vor der Zweiten Welle.

© dpa

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Die Maske, sagt der Psychologe Stephan Grünewald, markiert nun eine Gesinnung. Für sich selbst oder für alle. Es ist nicht möglich, sich nicht dazu zu verhalten. Der Kompromiss kommt einer Verweigerung gleich.

Das Virus hat uns bei allem Abstand in Wahrheit näher aneinander gebunden

Für eine Stadt, die viel auf ihre Toleranz gibt, ist das ein Dilemma. Unauflösbar, weil jeder Konflikt, der daraus resultiert, so persönlich ist. Weil leicht nach härteren Maßnahmen rufen kann, wer den Lockdown in einer geräumigen Wohnung überdauert, dessen Arbeitsplatz nicht gefährdet ist. Weil niemand Leichtsinnigkeit akzeptieren kann, der Angehörige, Freunde verloren hat oder um sie bangt. Weil das Virus die Menschen bei allem Abstand in Wahrheit viel näher aneinander gebunden hat.

Die neue Berliner Freiheit ist paradox. Sie basiert auf der totalen Abhängigkeit von allen andern. Für diesen Konflikt ist Berlin nicht gewappnet. Noch nicht.

Wie geht’s? Geht schon. Muss. Danke, gut. Floskeln, die früher vor allem dafür standen: geht dich nichts an. Doch jetzt geht es alle an.

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