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Der Bedarf an Gas wurde mehrfach überschätzt, rügt der Europäische Rechnungshof

© picture alliance/dpa

Warum Erdgas Europas Klimaziele gefährdet: Milliarden für eine Infrastruktur, die so nicht gebraucht wird

Weil die Industrie die Vorgaben macht, entscheidet die EU bei der Energiepolitik gegen ihre eigenen Klimaziele. Milliarden werden dabei verpulvert.

An einem kühlen Spätsommertag steigt Landrat Stefan Mohrdieck auf den Brunsbütteler Deich. Mit dem Rücken zur Elbe sieht er von dort aus die Vergangenheit der Energiepolitik und, wie er hofft, ihre Zukunft.

Er blick auf die tiefschwarze Kohle, die sich vor dem Deich auftürmt, bevor sie auf Kraftwerke verteilt wird, und daneben das stillgelegte Atomkraftwerk. Doch gleich dahinter, wo jetzt noch ein paar Kühe durchs Gras stapfen, dort, so hofft der Landrat, soll bald ein Tank errichtet werden, groß wie ein fünfzehnstöckiges Hochhaus.

Bis zu 220.000 Kubikmeter Flüssiggas könnten darin lagern, die zuvor aus Katar oder den USA an den Elbe-Deich geschifft wurden, und von hier aus in das deutsche Gasnetz fließen. „Das Flüssiggas wird uns helfen, die Dekarbonisierung voranzutreiben“, sagt Mohrdieck, also weniger CO2 in die Atmosphäre zu pusten und so die Klimakrise zu bremsen, denn Erdgas sei sauberer als Öl und werde dringend benötigt, um die Energiewende zu schaffen.

Mit einem fossilen Brennstoff gegen den Klimawandel? Norbert Pralow, pensionierter Lehrer und erfahrener Umweltaktivist, schüttelt energisch den Kopf.

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„Wir müssen allerspätestens bis 2050 aus den fossilen Energien ausgestiegen sein“, sagt er. Der neue Gasterminal werde aber frühestens im Jahr 2025 fertig. „Das wird sich nie amortisieren. Statt hier mit viel Geld eine rückwärtsgewandte Technologie einzuführen, sollte man lieber zukunftsfähige Projekte finanzieren.“

Der Streit wird europaweit geführt

Gas gegen Klimaschutz – der Streit wird europaweit geführt und erschüttert Regierungen und Parlamente. Während Kohlekraftwerke von Irland bis Griechenland nach und nach abgeschaltet werden, betreiben Energieunternehmen und Regierungen den massiven Ausbau der Erdgas-Infrastruktur. Dagegen warnen Ökonomen und Klimaforscher, die neuen Pipelines und Kraftwerke führten Europa in die Erdgasfalle.

Wenn die Erwärmung auf unter zwei Grad begrenzt bleiben soll, wie im Pariser Abkommen von 2016 versprochen, dann dürfen die Europäer überhaupt nur noch 70 Milliarden Tonnen Kohlendioxid in die Atmosphäre abgeben. Das entspricht gerade mal den Emissionen von 16 Jahren mit dem bisherigen Verbrauch von Kohle, Öl und Gas, rechnen die Energieexperten des Deutsche Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) vor.

Deshalb sei eine vollständige Dekarbonisierung notwendig, schlussfolgern sie. Gas sei „nicht mehr Teil der Lösung, sondern ist Teil des Problems geworden“. Claudia Kemfert, die Energiechefin des DIW, warnt: „Jede Investition in fossile Infrastruktur, dazu gehören Erdgas-Pipelines und Flüssiggasterminals, wird eine verlorene Investition sein.“

Befürworter. Landrat Stefan Mohrdieck glaubt, dass Erdgas dabei helfen wird, die Energiewende zu schaffen.
Befürworter. Landrat Stefan Mohrdieck glaubt, dass Erdgas dabei helfen wird, die Energiewende zu schaffen.

© Nico Schmidt

Doch die Mehrheit der EU-Regierungen verweigert sich dieser Erkenntnis. Mit ihrer Unterstützung planen die Energiekonzerne Flüssiggas-Terminals von Brunsbüttel bis Athen und verlegen Pipelines von der Ostsee bis zur Ägäis. Nach Berechnungen von Investigate Europe auf Grundlage von Daten der Organisationen Global Energy Monitor und Gas Infrastructure Europe plant die Gasindustrie Investitionen in Höhe von mindestens 104 Milliarden Euro.

Wie passt das zusammen? Nehmen EU-Kommission und Regierungen ihr Versprechen der klimaneutralen Union bis 2050 nicht ernst?

Wer diesen Fragen nachgeht, trifft auf ein dichtes Geflecht der interessierten Industrie mit allen politischen Ebenen vom EU-Parlament über die Kommission bis zu den nationalen Ministerien und die alte Denkfigur vom Gas als geostrategisches Machtinstrument, das keine wirtschaftlichen oder ökologischen Argumente gelten lässt.

Für Lobbyisten in Brüssel wurden 250 Millionen Euro ausgegeben

Für diesen Zweck operieren die Öl- und Gaskonzerne von der britisch-niederländischen Shell bis zur norwegischen Equinor mit Hunderten hochbezahlter Lobbyisten. Allein in Brüssel haben sie sich das im vergangenen Jahrzehnt rund 250 Millionen Euro kosten lassen, berichtet die Anti-Lobby-Organisation Corporate Europe Observatory.

Bei den offiziell dokumentierten Treffen trafen sich die mehr als 200 Berater, Anwälte und PR-Experten der Fossilindustrie seit 2014 mehr als 300 Mal mit den Kommissaren und ihren leitenden Beamten, um die Gesetzgebung zu beeinflussen, und das mit durchschlagendem Erfolg.

Das beginnt schon bei den Prognosen, wie viel Erdgas überhaupt benötigt wird. Diese übernimmt die EU-Kommission bisher von der Industrie. 2009 wurde das sogar per Verordnung festgeschrieben. Laut dieser verpflichten sich Europas Gasnetzbetreiber eine Dachvereinigung zu bilden, die sogenannte „Entsog“. Der Verband arbeitet seitdem alle zwei Jahre einen „zehnjährigen Netzentwicklungsplan“ aus, der „eine Europäische Prognose zur Angemessenheit des Angebots“ enthält.

Mit anderen Worten: Die Betreiber der Gasnetze legen selbst fest, wie viele Pipelines gebraucht werden – ein Interessenkonflikt per Gesetz. Schon im Jahr 2015 rügte darum der Europäische Rechnungshof: „Die EU-Kommission hat keine eigenen Kapazitäten, um den künftigen Gasbedarf der EU zu projizieren. Stattdessen nutzt sie Vorhersagen Externer.“ Auf deren Grundlage habe die Kommission „wiederholt den künftigen Gasbedarf überschätzt“.

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Trotzdem erstellt derselbe Verband auch den Entwurf für den Gas-Teil des zentralen Planungsinstruments für Europas Energiepolitik: die Liste der „Projects of Common Interest“. Ein Platz in diesem Katalog qualifiziert die Investoren für den Bezug von Fördergeldern und Krediten der Europäischen Investitionsbank. Zwar müssen die EU-Parlamentarier dem ihre Zustimmung geben. Doch sie können nur über die Liste als ganzes abstimmen und nicht einzelne Gas-Projekte verhindern. Eine Blockade würde folglich auch den Ausbau von Wind- und Solarkraft bremsen.

EU-Klimakommissar Frans Timmermans stellt eine Änderung erst für die nächste Programmliste in Aussicht und so dienen jetzt 32 von 149 der schließlich verabschiedeten Vorhaben dem Ausbau der Erdgasnutzung. Selbst der zuständige stellvertretende Generaldirektor für Energie der EU-Kommission, Klaus-Dieter Borchardt, sagte zu Investigate Europe: „Es ist nicht die Kommission, die hier entscheidet, sondern es sind die Entso-Dachverbände.“ Als er die finale Liste gesehen habe, stellte er fest, dass diese auf Annahmen basierte, die den EU-Klimazielen widersprachen. „Wir dachten: Was soll das?“

Rund sechs Milliarden hat die Pipeline gekostet

Eines der Gasprojekte, die mit Steuergeld finanziert werden, ist die Transadriatische Pipeline (TAP). Sie soll jährlich zehn Milliarden Kubikmeter Gas, das entspricht einem Zehntel des deutschen Jahresgasbedarfs, aus Aserbaidschan über Griechenland nach Süditalien transportieren.

Dort in Apulien, nahe dem Ort Melendugno, führen die Straßen durch Olivenhaine, hinter denen die Adria dunkel schimmert. Seit kurzem erheben sich jenseits der Bäume hohe Stacheldrahtzäune rund um die Anlande-Station. Zwei Schornsteine lassen die Emissionen erahnen, die entstehen, sobald das Gas hier ab Ende des Jahres für den Weitertransport aufbereitet wird.

Rund sechs Milliarden Euro hat die Pipeline gekostet. Davon haben die EU sowie deren Europäische Investitionsbank (EIB) mehr als zwei Milliarden Euro gezahlt oder geliehen. „TAP wird der Europäischen Union dabei helfen, die Gasversorgung in Südost-Europa zu sichern“, werben die Betreiber.

Davon sind nicht alle überzeugt. Der Regionalpräsident nannte das Vorhaben „illegal“ und die betroffenen Gemeinden haben das Unternehmen verklagt, weil es die Umweltwirkungen nicht bedacht habe. Seit diesem Monat müssen sich die verantwortlichen Manager dem Gericht stellen.

Kläger. Malte Heynen will den Betrieb der Eugal-Pipeline, die unter seinem Grundstück verläuft, gerichtlich verhindern lassen.
Kläger. Malte Heynen will den Betrieb der Eugal-Pipeline, die unter seinem Grundstück verläuft, gerichtlich verhindern lassen.

© Nico Schmidt

Darauf setzt auch der Journalist Malte Heynen, der im brandenburgischen Oderberg ein Stück Ackerland besitzt. An einem Sommernachmittag tritt er dort aus einem Weizenfeld auf eine riesige Schneise aus Schutt und Geröll, die sich durch seinen Acker zieht und von einem Ende des Horizonts bis zum anderen reicht.

Hier, anderthalb Meter tief unter dem Schotter verläuft die Eugal-Pipeline. Sie soll das russische Erdgas von der Ostsee zur tschechischen Grenze transportieren. Das will Heynen mit einer Klage verhindern. Das Berliner Oberverwaltungsgericht wies ihn zwar Mitte März ab, und nun muss das Bundesverwaltungsgericht über Heynens Beschwerde entscheiden. Aber dort, so hofft er, hat er eine Chance, denn die Pipeline hätte „nie gebaut werden dürfen“, argumentiert er.

„Wir haben beim Klimaschutz noch ein Fenster von wenigen Jahren, in denen wir handeln können, dann ist es zu spät. Jetzt eine Pipeline zu bauen, die 50 Jahre in Betrieb bleibt, ist Unsinn.“

Wie unnütz solche Projekte sein können, belegt auch ein Vorhaben, dem die EU-Kommission und die Gasnetzbetreiber bereits 2013 einen Platz auf der PCI-Liste verschafften, die sogenannte MidCat-Pipeline. Diese Rohrleitung sollte aus dem spanischen Katalonien Erdgas aus Nordafrika nach Südfrankreich liefern. Doch heraus kam nur eine Pipeline ins Nirgendwo.

Eine Autostunde außerhalb von Barcelona endet die Leitung nach kaum 80 Kilometern weit vor der französischen Grenze. Im Januar 2019 stoppten die Aufsichtsbehörden das Projekt mangels wirtschaftlichen Interesses: „Die bestehenden Gas-Pipelines zwischen Frankreich und Spanien sind nicht überlastet“, hieß es.

Die EU hat bereits jetzt doppelt so viele Kapazitäten wie nötig

Das gilt auch für alle weiteren Leitungen und Flüssiggas-Terminals in Europa, ergab eine Untersuchung der amerikanischen Organisation Global Energy Monitor (GEM), die weltweit Daten zu Energie-Infrastrukturprojekten erhebt. Demnach verfügt die EU bereits jetzt über doppelt so viel Kapazität für Gasimporte als nötig. Und der Bedarf wird sinken, wie der niederländische EU-Parlamentsabgeordnete Bas van Eickhout von den Grünen versichert. Rund drei Viertel der Erdgasimporte werden für Heizungs- und Prozesswärme verbraucht, darunter fällt auch das Heizen von Wohnraum. Deren Minderung durch Wärmedämmung ist aber ein Kernelement der Klimapolitik.

Selbst die Industrie schreibt inzwischen in ihre EU-Szenarien, dass der Gasverbrauch abnehmen wird – wenn auch nur leicht. Warum also wird dennoch mehr Infrastruktur gebaut?

Wer der Gasindustrie diese Frage stellt, den verweisen deren Repräsentanten auf die „Energiesicherheit“. Ja, derzeit reiche die Kapazität, sagt etwa Jan Ingwersen, Chef beim Lobby-Dachverband Entsog. Aber es gebe Schwachstellen und aus Gründen der Versorgungssicherheit zusätzlichen Bedarf. Gemeint ist, dass womöglich aus politischen Gründen die Lieferungen aus Russland oder Nordafrika ausfallen könnten. Etwa wenn Gaslieferungen als politisches Druckmittel vorübergehend eingestellt werden könnten.

Doch dem widerspricht nun eine neue Studie der französischen Beratungsfirma Artelys, die auch für die EU-Kommission arbeitet. „Die bestehende EU-Gasinfrastruktur genügt, um den Gasbedarf einer Vielzahl von Szenarien zu decken, selbst im Falle extremer Versorgungsunterbrechungen“, konstatieren die Artelys-Experten. Darum seien die meisten der Gas-Infrastrukturprojekte auf der PCI-Liste vermutlich unnötig. „Die EU riskiert Überinvestitionen von 29 Milliarden Euro in unnötige Projekte“, sagt Artelys-Direktor Christopher Andrey.

Um dem Einwand zu entgegen, argumentiert die Industrie nun auch auf einer anderen Ebene: Erdgas, so heißt es jetzt, werde für die „Dekarbonisierung“ der europäischen Industrie benötigt. Und der Lobbyverband Eurogas und die EU-Kommission sprechen unisono gar von „der Dekarbonisierung des Gassektors“.

Airbus will bis 2035 ein Wasserstoffflugzeug bauen.
Airbus will bis 2035 ein Wasserstoffflugzeug bauen.

© dpa/Bildfunk

Das klingt zunächst merkwürdig. Schließlich ist auch Erdgas ein Kohlenwasserstoff, bei dessen Verbrennung unvermeidlich Kohlendioxid frei wird. Doch wenn es nach der Gasindustrie geht, dann soll ihr Produkt auch den großen Teil jenes Brennstoffs liefern, den Manager, Ingenieurinnen und Regierungen als Allheilmittel gegen die Klimakrise preisen: Wasserstoff! Er ist das leichteste unter den Elementen und verbrennt bei hohen Temperaturen zu harmlosem Wasserdampf.

Mit seiner Hilfe könnten Stahl gekocht und Chemikalien aller Art hergestellt werden, ohne Treibhausgase zu emittieren. Er könnte mit Brennstoffzellen schwere LKWs antreiben und sogar Flugzeugtriebwerke befeuern, wie der Airbus-Konzern jüngst ankündigte. Die entscheidende Frage ist bisher jedoch noch nicht beantwortet: Woher soll all der Wasserstoff kommen, um den Energiehunger der Industriegesellschaft zu stillen?

Zwischen 2008 und 2013 injizierten Forscher des Geoforschungszentrums Potsdam Kohlendioxid 650 Meter tief unter den Brandenburger Boden.
Zwischen 2008 und 2013 injizierten Forscher des Geoforschungszentrums Potsdam Kohlendioxid 650 Meter tief unter den Brandenburger Boden.

© Nico Schmidt

Zwar ist es technisch kein Problem, den Stoff aus der Aufspaltung von Wasser mit Elektrizität aus sauberen Energiequellen zu gewinnen. Doch völlig offen ist, ob und wann es je genügend Strom aus der erneuerbaren Wasser-, Wind und Solarkraft geben wird, um den gigantischen Bedarf zu stillen. Eben diese Lücke möchten Gazprom, die norwegische Equinor und die angeschlossenen Gasnetzbetreiber füllen.

Der nötige Wasserstoff, so behauptet ihr Dachverband Entsog, ließe sich am schnellsten mit Erdgas gewinnen, das vor allem aus Methan besteht, dem einfachsten aller Kohlenwasserstoffe. Das könnte mit Strom aus Gaskraftwerken geschehen oder mit der als Dampfreformierung bezeichneten Methode, die den Wasserstoff direkt aus dem Methan löst.

Aber ganz gleich wie, es fallen die gleichen großen Mengen Kohlendioxid an. Fachleute unterscheiden daher „grünen Wasserstoff“ aus sauberen Stromquellen vom „blauen Wasserstoff“ aus klimaschädlichem Erdgas, dessen Abgas nachträglich eingefangen werden muss.

Kohlendioxid soll unter der Erde gespeichert werden

Die Lösung, so verheißen die Gas-Apologeten, sei das Abfangen und Speichern des Kohlendioxids unter der Erde, vielleicht sogar in den leergepumpten Gasfeldern unter der Nordsee. Ein Verfahren, das meist mit dem englischen Kürzel CCS (Carbon Capture and Storage) benannt wird.

Würde sich das durchsetzen, wäre der Absatz für die Gasindustrie gesichert, bis der letzte Kubikmeter abgepumpt ist. Doch ob das Klima damit zu schützen wäre, ist fragwürdig. Das Problem beginnt schon bei der eigentlichen Förderung aus dem Untergrund. Dabei wird im großen Stil Methan freigesetzt, ergab eine ganze Reihe von Studien. So stellten Forscher der amerikanischen Umweltorganisation Environmental Defense Fund (EDF) anhand von Messungen an den Bohrlöchern fest, dass die amerikanische Öl- und Gasindustrie pro Jahr 13 Millionen Tonnen Methan freisetzt – 60 Prozent mehr, als sie bis dahin angegeben hatten. Allein die Menge des entwichenen Gases könnte genutzt werden, um ein Jahr lang zehn Millionen Häuser zu heizen. Im vergangenen Herbst entdeckten die Satelliten der Europäischen Weltraumorganisation riesige Methanwolken, die aus der Jamal-Pipeline austreten, die Erdgas von Sibirien nach Europa transportiert. Mitte Juli dieses Jahres teilten Forscher der Stanford University mit, dass der weltweite Methan-Ausstoß einen neuen Höchststand erreicht habe. Methan trägt aber dramatisch zum Klimawandel bei. Nach Angaben des Weltklimarates wirken Methanmoleküle als Treibhausgas 86-mal stärker als Kohlendioxid.

Partner. Russlands Präsident Putin und der damalige Bundeskanzler Schröder besiegelten 2005 den Bau der Ostseepipeline Nord Stream 2.
Partner. Russlands Präsident Putin und der damalige Bundeskanzler Schröder besiegelten 2005 den Bau der Ostseepipeline Nord Stream 2.

© Itar-Tass/Vladimir Rodionov

Nicht minder fragwürdig ist der Plan, dass bei der Wasserstoffherstellung anfallende CO2 im Untergrund zu deponieren. Davon kündet ein unscheinbares Schild, das rund 40 Kilometer westlich von Berlin am Rande eines Maisfelds steht. „Pilotstandort Ketzin – Forschungsprojekt Complete zur CO2-Speicherung“, ist darauf in ausgeblichenen Buchstaben zu lesen.

Hier wurde erstmals unter europäischem Festland jene Technologie erprobt, auf die Europas Gaskonzerne nun hoffen. Zwischen 2008 und 2013 injizierten Forscher des Geoforschungszentrums Potsdam Kohlendioxid 650 Meter tief unter den Brandenburger Boden. Trotz Befürchtungen von Bürgerinitiativen gab es in jenen Jahren keine Zwischenfälle. Das Gas blieb im Boden.

„Die Injektion damals lief sicher und zuverlässig“, erinnert sich die Projektleiterin Cornelia Schmidt-Hattenberger. Ketzin könnte „als Blaupause für größere nationale CCS-Projekte dienen“, meint sie. Doch die gibt es bislang nicht. Die Forscher beendeten ihr Projekt. Weitere 21 CCS-Projekte in Europa wurden eingestellt, nicht zuletzt deshalb, weil bisher nur 60 bis 80 Prozent des Treibhausgases abgetrennt werden können, wie das Umweltbundesamt feststellte.

Nur wenige europäische Regierungen wollen derzeit überhaupt CCS-Versuche ermöglichen. Allen voran die norwegische, deren Volkswirtschaft auf die Gasförderung angewiesen ist, setzt noch auf die Technologie. Jüngst kündigte sie an, ein Großprojekt mit 1,6 Milliarden Euro zu finanzieren. CCS ist teuer, sehr teuer sogar. Die norwegischen Ingenieure schätzen die Kosten auf 250 Euro pro Tonne CO2. Das entspricht dem zehnfachen des heutigen Preises im EU-Emissionshandel.

Laut DIW lässt sich der Strombedarf komplett mit Erneuerbaren decken

Claudia Kemfert, die Energieökonomin des DIW, rechnet sogar mit Kosten von bis zu 440 Euro pro Tonne. „CCS ist teuer, ineffizient und verlängert nur das Geschäftsmodell der fossilen Energieträger. Es lohnt sich nicht, Erneuerbare sind günstiger“, schlussfolgert sie. In einer Studie zeigte Kemfert mit einem Team europäischer Kollegen auf, dass sich der mit dem Klimaschutz steigende Strombedarf in Europa vollständig und kostengünstig mit erneuerbaren Energien decken lässt, auch um den benötigten Wasserstoff zu gewinnen.

Doch dieser Fakt taucht in den Plänen der EU-Kommission und denen der Bundesregierung nicht auf. Öffentlichkeitswirksam publizierten die im Sommer eine europäische und eine deutsche Wasserstoffstrategie. Darin betonen die Regierungen die Bedeutung von Wasserstoff aus erneuerbaren Energiequellen. Doch im EU-Papier wird ausdrücklich auf „Wasserstoff auf fossiler Basis“ gesetzt.

Umgesetzt werden soll die EU-Strategie nun auch von einer Plattform namens „Clean Hydrogen Alliance“. Diese soll erarbeiten, welche Wasserstoff-Vorhaben künftig finanziert werden. Doch interne Dokumente, die Investigate Europe vorliegen, zeigen, dass dem Gremium neben Dutzenden von Industrievertretern nur vier zivilgesellschaftliche Organisationen angehören. Stattdessen sitzen auch hier wieder die Gaskonzerne mit am Tisch.

Zur Rechtfertigung verweisen deren Akteure gerne auf den IPCC, den Weltklimarat der UNO, der auch den Einsatz von CCS für notwendig hält, um eine klimaneutrale Lebensweise zu erreichen. Aber dessen Wissenschaftler planen die Nutzung von der unterirdischen Lagerung von Kohlendioxid vor allem als Möglichkeit, der Atmosphäre zusätzlich CO2 zu entziehen.

„Wenn CCS nur als Entschuldigung dafür genutzt wird, weiter fossile Energieträger zu nutzen, wird unser System irgendwann zusammenbrechen“, erklärt der ehemalige Vize-Weltklimaratschef Jean-Pascal van Ypersele.

Das Vorhaben der Gasindustrie, Erdgas zu dekarbonisieren, basiert somit auf einer fragwürdigen Annahme: dem flächendeckenden Einsatz von CCS. Einer Technologie, die bisher nirgends unter dem europäischen Festland eingesetzt wird. Lediglich an zwei Offshore-Standorten in Norwegen wird CO2 im Boden gespeichert. Wenn Erdgas aber nicht dekarbonisiert werden kann, wird angesichts der Klimaziele der Ausstieg aus dem fossilen Energieträger umso drängender.

Solche Widersprüche löst die Bundesregierung nicht auf. Zur Frage, ob Investitionen in neue Gasinfrastruktur nicht den Klimazielen zuwiderlaufen, erklärte sich Bundesklimaministerin Svenja Schulze für nicht zuständig. Energieminister Peter Altmaier ließ über einen Sprecher mitteilen, die kritischen Einschätzungen würden nicht geteilt und Erdgas werde „eine wichtige Rolle für die Erreichung der europäischen Klimaziele in den nächsten Jahren sowie für einen planbaren Übergang zu grünen Gasen (z.B. Wasserstoff) spielen.“

Nirgendwo sind so viele Terminals geplant wie in Deutschland

Dementsprechend laufen die Ausbaupläne weiter. Welche Projekte in Deutschland gebaut werden, regelt der Netzentwicklungsplan (NEP) Gas. Wie in Brüssel sind auch hier die Gaskonzerne beteiligt. In der Folge sind in keinem anderen europäischen Land so viele Flüssiggas-Terminals geplant wie in Deutschland – mit Kapazitäten von mehr als 18 Milliarden Kubikmetern Erdgas pro Jahr.

Entlang der Nordseeküste werben gleich drei Städte um Investoren für einen solchen Terminal, unterstützt durch die der Bundesregierung. Die beschloss im vergangenen Sommer, dass die möglichen Investoren ihre Umschlagterminals fast kostenlos ans Gasnetz anschließen können. Für die Netzbetreiber sind die zusätzlichen Leitungen kein Problem. Denn die Kosten stellen sie den Gasverbrauchern über die Netzentgelte in Rechnung. Bleibt es dabei, dann werden die Verbraucher letztlich bis zu 120 Millionen Euro für Terminals zahlen, berechnet die Deutsche Umwelthilfe.

In Schleswig-Holstein, wo die Grünen mit Union und FDP regieren, setzt sich sogar die Umweltpartei für den Bau eines Flüssiggasterminals ein. Die Investoren in Brunsbüttel, wo das Projekt am weitesten gediehen ist, könnten so 50 Millionen Euro an Landesmitteln bekommen. Landrat Stefan Mohrdieck setzt nun auf eine Investitionsentscheidung „im nächsten Jahr“. Doch der mögliche Investor, ein Konsortium um den niederländischen Energie-Riesen Gasunie, will sich nicht festlegen. „Die finale Investitionsentscheidung wird getroffen, wenn für den Bau und Betrieb notwendige Voraussetzungen erfüllt sind“, sagt ein Sprecher.

Der Gaskonzern spielt auf Zeit

Der Gaskonzern und seine Partner spielen offenkundig auf Zeit. Und das mit gutem Grund. Denn beim Streit ums Gas geht es auch um etwas, das noch immer mehr zählt als Klimaschutz oder wirtschaftlicher Nutzen: die Geopolitik.

Dafür steht in Europa wie kein anderes Projekt die deutsch-russische Ostseepipeline Nord Stream 2 vom russischen Vyborg nach Greifswald. Der ehemalige Bundeskanzler Schröder hatte das Projekt, das die Kapazität für Gasimporte aus Russland verdoppeln wird, 2005 mit Präsident Putin besiegelt. Die Mehrheit der EU-Staaten hat sich von Anfang an gegen die Pipeline ausgesprochen. Aber die Bundesregierung hält mit Russlands Staatskonzern Gazprom und den deutschen Netzbetreibern vehement daran fest. Und genauso vehement bekämpfen US-Politiker das Vorhaben. Dabei geht es auch auf amerikanischer Seite um wirtschaftliche Interessen. Die US-Gasindustrie braucht dringend neue Kunden in Europa. Den Unternehmen droht wegen des Preisverfalls eine Massenpleite.

So führt die Konfrontation zu einem paradoxen Ergebnis. Um dem Druck aus den USA zu begegnen, bietet Bundesfinanzminister Olaf Scholz an, den Bau von zwei LNG-Terminals an der Nordseeküste mit bis zu einer Milliarde Euro aus Steuergeld zu unterstützen, um den Import aus den USA zu erleichtern. „Im Gegenzug“, schrieb Scholz, sollen „die USA die ungehinderte Fertigstellung und den Betrieb von Nord Stream 2 erlauben.“

Dabei braucht Europa weder das eine noch das andere, konstatiert Felix Matthes, Energiechef des Öko-Instituts. Die vorhandenen 20 Flüssigkeitsterminals in Europa seien aktuell und absehbar nur zur Hälfte oder weniger ausgelastet. Gleichzeitig werde der Gasimport schon infolge der bereits beschlossenen Klimaschutzmaßnahmen um ein Fünftel sinken.

Daher ist es höchst unwahrscheinlich, ob das Gas aus Russland oder den USA überhaupt genug Abnehmer findet. Und das gilt auch für das Gas aus Europas zweitem geostrategischen Hotspot, dem östlichen Mittelmeer. Dort inszenieren der türkische Präsident Recep Erdogan und der griechische Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis seit Wochen einen bizarren Streit, für den sie am 19. August sogar zwei ihrer Kriegsschiffe kollidieren ließen. Der Konflikt begann damit, dass die Türkei ein Forschungsschiff in eine Meeresregion zwischen Kreta und Zypern entsandte, die Griechenland als Staatsgebiet gilt. Erdogan hofft darauf, dass dort – genauso wie südlich von Zypern – weitere Erdgaslager zu finden sind. Unter Vermittlung von Kanzlerin Merkel wendeten die beiden Regierungen die Eskalation zwar zunächst ab. Aber gleichzeitig mischte sich Frankreichs Präsident Emmanuel Macron ein und bot den Griechen Waffenhilfe.

Das überhaupt Kohlenwasserstoffe gefunden werden, ist nicht sicher

Dabei sei die Wahrscheinlichkeit, dass in diesem Gebiet Kohlenwasserstoffe gefunden werden, gering, erklärt der zyprische Industriefachmann Charles Ellinas, der seit vielen Jahren für die Gasförderung in der Region arbeitet. Und selbst wenn, werde eine Förderung voraussichtlich unwirtschaftlich sein, weil der Klimaschutz die Nachfrage senke.

Da ist man in Portugal schon weiter. Dort entschied die Regierung Anfang September, künftig keine Erdgasförderung mehr zu genehmigen. „Ich denke, die Erschließung von Erdgasreserven ist heute sinnlos, Gas ist nicht nötig für den Übergang“, sagte João Galamba, Staatssekretär für Energie, im Gespräch mit Investigate Europe. Portugal setze stattdessen auf die Wasserstoffgewinnung aus Solarkraft. Der Export nach Deutschland soll schon bald beginnen.

INVESTIGATE EUROPE ist ein journalistisches Team aus neun Ländern, das gemeinsam Themen von europäischer Relevanz recherchiert und die Ergebnisse europaweit veröffentlicht. Neben den Autoren haben Cécile Andzejewski, Wojciech Ciesla, Thodoris Chondrogiannos (Reporters United Greece), Daphne Dupont-Nicet (Investico), Ingeborg Eliassen, Juliet Ferguson, Maria Maggiore, Jef Poortmans und Elisa Simantke an dieser Recherche zum Thema Erdgas gearbeitet. Das Projekt wird von der Schöpflin-Stiftung, der Rudolf-Augstein-Stiftung, der Hübner & Kennedy Stiftung, der Fritt-Ord Stiftung, der Open Society Initiative for Europe, der Gulbenkian Foundation, der Adessium Stiftung und privaten Spendern unterstützt. Diese Recherche wurde zudem vom Investigative Journalism for Europe (IJ4EU) Programm gefördert. Mehr Hintergründe zur Recherche gibt es hier.

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