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Deutscher geht es nicht: Milchkühe vor Mischwäldern.

© Jochen Overbeck

Wanderung durch den Schwarzwald: Jeder Kilometer am Westweg zählt

279 Kilometer, 9000 Höhenmeter, einmal quer durch den Schwarzwald. Zur Belohnung gibt es Bratwursttipps, Weidfelder und den richtigen Flow.

KILOMETER 1
Der Anfang der Wanderung ist denkbar leicht: Vom Pforzheimer Hauptbahnhof, einer Schönheit aus den 50er Jahren mit lichtdurchfluteter Empfangshalle und wuchtigem Wandrelief, geht es leicht bergab in die Stadt.

Die Wanderkleidung? Noch sauber, als würde man Modell für einen Outdoor-Katalog stehen. Der Schritt? Federnd und energisch. Die Kondition? Blendend.

Der Schwarzwald liegt vor einem, aber vor allem in dichten Wolken, aus denen einzelne Tropfen fallen. Zwei, drei Kilometer geht es durch die schläfrige Stadt. Als Berliner fällt einem auf, wie sauber alles ist! Keine Schmierereien, kein Müll auf der Straße.

Es geht an einem Bach entlang, zuerst in Beton eingefasst, bis langsam die Natur beginnt. „Pforte zum Schwarzwald“ steht über dem Wegweiser für den Westweg, Deutschlands ältestem Fernwanderweg. Er zeigt 279 Kilometer bis Basel an, das ist die offizielle Zahl.

Mit gelegentlichen Auf- und Abstiegen zu den Unterkünften und beabsichtigten wie unbeabsichtigten Umwegen werden es nach zwölf Tagen, so sagt’s die Wander-App, etwa 300 sein. Der Weg wird nun zum Pfad. Er springt auf und ab, schlägt Haken, ab und an stellt sich ein kleiner Fels in den Weg.

KILOMETER 37
Plötzlich ist man in der Wildnis. Der Nordschwarzwald möchte sich mit der fernsehfilmhaften Süße, die man mit Deutschlands größtem Mittelgebirge verbindet, nicht gemeinmachen. Stattdessen führt der Weg durch den Kaltenbronn, das größte Hochmoorgebiet der Region.

Der Nebel hängt in den Bäumen, was deren Grün intensiver macht. Mit jedem Schritt verändert es sich, mal satt, mal beinahe schwarz. Bald verläuft der Weg auf Bohlen, zwischen gelben Schilfgräsern und dunklen Tümpeln, die an Augen erinnern.

Am Wegrand blühen Goldrute und Alpkraut, nur einmal reißt die Wolkendecke auf. Im Westen sieht man das Rheintal und als dunkle Schatten die Berge der Vogesen.

KILOMETER 52
Mehr als 50 Kilometer in zwei Tagen, dazu 1300 Höhenmeter, und – besonders fordernd – ein Abstieg von 500 Metern: Wer in Forbach angekommen ist, kämpft mit großer Wahrscheinlichkeit gegen einen Muskelkater und zwei, drei Fußblasen.

Die örtliche Apotheke ist auf derlei Probleme eingestellt. Also Latschenkiefersalbe und Blasenpflaster drauf, Zeit zum Wundenlecken bleibt nicht. Die dritte Etappe ist die erste, auf der der Schwarzwald zeigt, was er von seinen Wanderern erwartet.

Es geht sofort steil bergan, auf einer Strecke von sechs Kilometern wollen 600 Höhenmeter überwunden werden. Der Muskelkater macht sich bei jedem Schritt bemerkbar. Aber man ist nicht allein.

Aus Einzelwanderern wird ein Ensemble, das sich immer neu formiert. Julius aus Stuttgart, Informatiker bei einer großen Maschinenbaufirma. Jean-Pierre aus Martinique, der einen Teil der Strecke mit dem Rennrad zurücklegt, seine Frau transportiert es im Materialwagen.

Und der ältere Herr, der einem zweimal entgegenkommt: „Wie haben Sie das denn gemacht?“ Er lacht nur. „Kennen Sie die Geschichte vom Hasen und vom Igel? Sie sind der Hase.“

KILOMETER 116
Am „Hark“ herrscht Postkartenidylle. Das Gehöft liegt zwischen steilen Kuppen, auf denen Kühe weiden. Sie sorgen mit ihren Glocken für den Soundtrack, der ab hier die Wanderung prägt. Der Muskelkater ist verschwunden. Das Wandern wird zum Gang auf Wolken.

Knapp vor der Halbzeit stellt sich das ein, was auch einen Wikipedia-Eintrag besitzt: der Flow, in dem man laut Glücksforscher Miháli Csíkszentmihály „aufgeht und darin seinen freien Ausdruck findet“.

In die Praxis übersetzt: Fuß vor Fuß, alle fünf, sechs Kilometer eine Pause. Kräftige Schlucke aus der Wasserflasche. Ein Müsliriegel. Ein freundliches „Grüßgott“ den Entgegenkommenden.

Beim Checken der GPS-Daten in der App – man braucht sie nicht, die rote Raute, die die Route markiert, hängt alle paar 100 Meter am Baum – bemerkt man: Handyempfang gibt’s nicht. Wieso auch, denkt man sich. Nichts kann wichtiger sein als jetzt genau diese Waldwege entlangzugehen. Also weiter, Fuß vor Fuß. Herrlich.

KILOMETER 153
„Ich fahr’ Sie schnell hoch!“, sagt die Wirtin vom „Rebstock“, dem Hotel im Kurort Schonach. Hoch bedeutet: zur Wilhelmshöhe, wo offiziell die siebte Etappe endet und die achte beginnt. Zwei Kilometer und 100 Höhenmeter spart man sich so. Legitim, aber nach all dem Marschieren fühlt es sich eigenartig an, chauffiert zu werden.

Die Wirtin, eine resolute Endvierzigerin, kommt ins Plaudern. Sie könne nicht klagen, erzählt sie, während sie vor einer Steigung schwungvoll in den zweiten Gang runterschaltet und einen Traktor überholt.

Seit dem letzten Jahr liefe das Geschäft bestens. Selbst wenn die kleinen Einzelzimmer mit ihren in Holz gehaltenen Möbeln und Kunstdrucken an der Wand etwas aus der Zeit gefallen wirken, man abends an seine Kindheitsurlaube in den 80er Jahren zurückdenken muss: Auf der gesamten Strecke sind die Hotels und Wirtshäuser voll. Ist das der Greta-Effekt?

Trotz Wolken beeindruckend: der Schwarzwald.
Trotz Wolken beeindruckend: der Schwarzwald.

© Jochen Overbeck

KILOMETER 176

Warum der Weiler „Kalte Herberge“ seinen Namen trägt, ist umstritten. Eine Legende besagt, dass vor Hunderten von Jahren einmal ein Handwerker auf einer Ofenbank erfror – im Juni.

An diesem Herbsttag kann das im gleichnamigen Berghotel nicht passieren. Der wuchtig, aber anheimelnd anmutende Kasten taucht dunkelgrau geschindelt aus dem Bergnebel auf. Während der Regen an die Fenster des Gastraumes prasselt, sitzt ein Dutzend Wanderer an den Holztischen und lässt es sich schmecken.

Darunter Herr Bergmann. Der Mann, der munter durch die kleine, aber umso dickere Brille blickt, ist ein evangelischer Pfarrer aus dem Fränkischen, der sich als profunder Kenner des deutschen Fernwegenetzes erweist.

Er redet über das Gewicht von Wanderhosen, die besten Bratwürste und den Tod. Auch die Wanderschuhe haben es gemütlich. Sie verbringen die Nacht in einem eigenen Trockenraum auf den Metallstäben eines elektrischen Schuhhalters.

KILOMETER 195
Der Schwarzwald sieht heute aus wie auf dem Gemälde eines Spätimpressionisten. Ein hellgrün hingetupftes Hügelband, das in der Sonne liegt, unterbrochen von dunklen Waldflächen und prächtigen Gehöften. Auf den Weiden grasen Kühe.

Es ist Sonntag, die Wege sind voll. Im Tal liegt ein Golfplatz. Der gehört zur Gemeinde Titisee, die auf der Wanderung deplatziert wirkt: so viele Menschen! Ein endloser Strom von Touristen schiebt sich durch eine kleine Fußgängerzone, vorbei an Kuckucksuhrengeschäften, Schinkenständen und einem Ganzjahresweihnachtsmarkt.

Zum Glück biegt der Weg nach einem kurzen Kilometer ab, rechts geht es einen Bergrücken hinauf und damit zurück in die Einsamkeit. Zwei ältere Herrschaften haben versucht, ihn mit ihren schweren Pedelecs zu bewältigen. Jetzt stehen sie ratlos in der Steigung und kommen nicht weiter.

KILOMETER 228
Der Regen, der bisher zuverlässig an jedem zweiten Tag fiel und manchmal durchaus kontemplativ war, ist über Nacht zu einem Starkregen angeschwollen, der drei Tage anhalten wird. Auf der sogenannten Königsetappe, die über den Feldberg führt – den höchsten Berg des Schwarzwalds –, ist dieses Wetter eine Zumutung.

Aus dem Weg, der sich steil und felsig Richtung Feldberg-Gipfelplateau schraubt, ist längst ein Bach geworden. Auf knapp 1500 Metern liegt die Temperatur nur noch bei fünf Grad. Der kalte Wind erzählt vom Winter, die Nässe legt sich um den Körper. Sie kriecht am Hals in die Regenjacke, an den Füßen in die Schuhe, schafft es sogar unter die Mütze.

In der St. Wilhelmer Hütte versuchen die Wanderer, ihre klamme Kleidung am Kachelofen zu trocknen. Es riecht nach nassem Hund. Aber so fordernd der Weg ist, so sehr bereitet er Freude.

Er führt durch sogenannte Weidfelder, nährstoffarme Hochwiesen, auf denen Borstgras und Bärwurz wachsen. Im Herbst explodieren sie in Gelb- und Rottönen. Dazwischen stemmen sich Latschenkiefern gegen den Wind.

KILOMETER 285
Es ist interessant, wo Füße überall schmerzen können. An den Ballen etwa, an der Ferse und am Spann. Dazu kommen zahlreiche Blasen – das ist bei drei Tagen mit immer wieder durchnässten Socken kaum vermeidbar – sowie ein blutunterlaufener Zehennagel.

Und wieso ist dieser Rucksack plötzlich so schwer? Die letzten Kilometer des Westwegs sind die härtesten. Man sieht Basel im Tal liegen, aber die Stadt möchte nicht näher rücken.

Das Laufen gerät zum Humpeln. Dann endlich der Badische Bahnhof, an dem der Westweg endet. Eine gute Viertelstunde entfernt liegt das Hotel Krafft, eines der schönsten der Stadt. Im Zimmer 401 schrieb Hermann Hesse seinen „Steppenwolf“.

Ein Exemplar findet sich in der Nachttischschublade, ebenso lohnend ist der abendliche Logenblick aus dem Fenster. Der Rhein fließt dunkel, während von der anderen Flussseite die Türme des Basler Münsters grüßen. Selten war es schöner, angekommen zu sein.

HINKOMMEN
Von Berlin gibt es stündliche Bahnverbindungen nach Pforzheim, Tickets im Sparpreis ab 29,90, ohne Reduktion 153 Euro.

UNTERKOMMEN
Jugendherberge Pforzheim, ab 22,50 Euro pro Kopf, jugendherberge.de

Kalte Herberge Vöhrenbach, ab 74 Euro im Doppelzimmer, kalte-herberge.de

Hotel Krafft, Doppelzimmer ab 178 Euro, krafftbasel.ch

RUMKOMMEN
Der Westweg ist durchgängig mit einer roten Raute auf weißem Grund ausgeschildert. Informationen zu den einzelnen Etappen auf westweg.info.

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