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Schritt für Schritt. Jeder Mensch findet sein Tempo, weiß der Berggötte. Wenn er denn nur auf seinen Körper hört.

© Hanne Bahra

Wandern mit Berggöttes: Über Stock und Liechtenstein

Wem das Matterhorn noch zu hoch ist, kann in den Alpen des Kleinstaats prima üben. Ehrenamtliche Bergführer helfen – beim Aufsteigen und Aussteigen.

Herbert Wilscher steht am Rande der Einkaufsmeile von Vaduz und verteilt Wasserflaschen. Die Abnehmer? Neun mehr oder weniger sportlich anmutende Wanderwillige aus Deutschland und Österreich, den beiden touristischen Haupteinzugsgebieten des Miniaturstaates.

Manch einem davon ist angesichts der in den kommenden Tagen anstehenden Routen etwas mulmig zumute. Aber manchmal muss man eben hoch hinaus, um wieder den Überblick zu bekommen. Raus aus dem gewohnten Trott, die eigenen Grenzen ausloten, Kräfte messen.

Wilscher, selbst von eher gemütlicher Statur und mit freundlichen braunen Augen, beruhigt die Gruppe und lächelt milde. „Es kommt nicht auf Höhenmeter an, nicht auf Leistung, sondern auf die Begegnung mit der Natur.“ Der gebürtige Österreicher ist Bergführer aus Leidenschaft. Ein Berggötte. Der Begriff aus dem Liechtensteiner Dialekt bedeutet so viel wie Bergpate.

Herbert Wilscher hat sich in diesem Sommer mit fünf anderen Berggöttes und Berggöttas zusammengetan, um das zum größten Teil aus Bergen bestehende Land, das ein Drittel seines Bruttoumsatzproduktes als Finanzplatz erwirtschaftet, aber nur drei bis fünf Prozent als Reiseland, ein gastlicheres Image zu geben. „Mit solch einem individuell zugeschnittenen Programm hoffen wir auf mehr Sommergäste“, erklärt auch das Liechtensteiner Tourismusbüro.

Die Paten führen kostenlos über die Wanderwege

Dass die Anfänger am Berg sich für die Liechtensteiner Alpen als Reiseziel entschieden haben, liegt wohl auch an dem überschaubaren Maß des Landes von 160 Quadratkilometern. Vom Matterhorn und Großglockner in den Nachbarländern Schweiz und Österreich mag mehr Glamour ausgehen, aber für den Anfang wählt man lieber etwas Kleineres. Die Paten sollen beim Einstieg zum Aufstieg helfen.

„Ein Pate steht für tiefe Verbundenheit zwischen Bergführer und Wanderer“, sagt Herbert Wilscher. Diese Verbundenheit ist durchaus persönlich geprägt. „Wir sind so verschieden wie die Bedürfnisse der Wanderer“, erklärt er das Konzept der Berggöttes, die jeden, der in einem Liechtensteiner Hotel logiert, kostenlos über die insgesamt 400 Kilometer Wanderwege führen.

Herbert Wilscher ist der Gesellige, Gemütliche, dem das gemeinsame Gehen wichtiger ist als der Gipfel, wie er beim Aufbruch erklärt. 120 Meter über ihm thront auf einem Felsen das Schloss Vaduz, die Residenz des Fürsten, um ihn herum schwärmen Japaner, die sich vor dem Tourismuszentrum auf einer Thron-Attrappe gegenseitig fotografieren. Rot-blaue Fahnen mit Fürstenhut wehen für die konstitutionelle Erbmonarchie.

Am Schloss Vaduz kommt man gleich bei der ersten Etappe vorbei.
Am Schloss Vaduz kommt man gleich bei der ersten Etappe vorbei.

© imago

Fünf Stunden, neun Kilometer und 400 Höhenmeter

Auf geht’s. Der Bus erklimmt die kurvige Bergstraße. Nur etwa eine halbe Stunde vom urbanen Zentrum des Landes entfernt, empfängt uns auf 1500 Metern Höhe die blumige Bergwelt der Gaflei, auf der Ende des 19. Jahrhunderts der erste Kurort Liechtensteins stand. Heute nur noch ein Sonnenplateau mit großartiger Aussicht auf die Schweizer Alpen, soll hier demnächst eine Kurklinik für Burnout-Patienten entstehen. „Es entspannt eben nichts mehr als der Anblick der Berge“, meint Herbert Wilscher und bereitet uns an der Wandertafel auf den heutigen Weg vor.

Fünf Stunden, neun Kilometer und 400 Höhenmeter stehen uns bevor. Es fängt ganz harmlos an. Der Berg ruft mit Murmeltierpfiffen. Begleitet von Frühnebelschwaden und Kuhglockengebimmel wandern wir vorbei am Mittelpunkt Liechtensteins, den ein 4,5 Tonnen schwerer Felsbrocken auf der Alp Bargälla in etwa 1800 Metern Höhe markiert, Richtung Alpspitz.

Erst allmählich gewinnt der von Legföhren gesäumte Weg, einer der höchsten Wanderwege Liechtensteins, an Steigung und wird zur Generalprobe für Kondition und Schuhe.

Die Wandertruppe zerfällt nach und nach in drei Untergruppen, wobei die Kondition offensichtlich eher vom Gewicht als vom Alter abhängig zu sein scheint. In 1942 Metern haben schließlich alle das erste Gipfelkreuz erreicht. Atemlos zunächst noch vom Aufstieg, dann vom Ausblick auf das Bergpanorama mit der Drei-Schwestern-Kette Richtung Norden, dem alpinen Wahrzeichen Liechtensteins.

Sind alle schwindelfrei?

Überschaubar. Liechtenstein ist gerade mal 160 Quadratkilometer groß, Berge zum Klettern aber gibt es reichlich.
Überschaubar. Liechtenstein ist gerade mal 160 Quadratkilometer groß, Berge zum Klettern aber gibt es reichlich.

© Hanne Bahra

Auf der anderen Seite des Berges endet jäh das saftige Grün der Wiesen, und vor uns liegt der so legendäre wie steinige Fürstensteig, einer der ersten alpinen Panoramawege. Der Klassiker für alle Bergwanderer Liechtensteins. Immer wieder klackert Geröll in die Tiefe dieser sich ständig verändernden Steinwüste, in die Fürst Johann II. 1898 einen schmalen Steig in die Felswand sprengen ließ. Schmal und schroff am Abgrund, gesichert nur durch ein Handseil. Stellenweise geht es über Tritte und Leitern. „Ich hoffe, ihr seid alle schwindelfrei“, sagt Herbert Wilscher. Wer weiß das schon so genau.

Am Abend treffen wir schließlich im Berggasthaus Sücka ein. Jetzt nur noch ein „Weiza“ aus der Liechtensteiner Brauerei, ein Teller Käsknöpfle, dem Liechtensteiner Nationalgericht aus Mehl, Eiern, Wasser, Salz und Pfeffer – und ein Bett.

Der nächste Tag beginnt mit Muskelkater und Berggötte Nikolaus Büchel. Kariertes Hemd, Brille, sanftes Gesicht. Knapp zehn Kilometer, 850 Meter bergauf, 150 Meter wieder runter, liegen vor uns. „Der Weg ist das Ziel“, beruhigt uns der 53-jährige Präsident der Vereinigung der Liechtensteiner Berggöttes und Berggöttas.

Der ehemalige Unternehmer, einst auch Trainer des Liechtensteiner Ski-Teams und der Streif-Ikone Marco Büchel, entdeckte nach einem Burnout das Wandern als Therapie. Jetzt ist er auf dem Weg der Achtsamkeit. „Jeder Mensch findet sein eigenes Tempo, wenn er nur auf seinen Körper hört“, weiß Büchel. So 40 bis 45 Schritte in der Minute wären im Allgemeinen ein gutes Maß.

Der letzte Aufstieg bringt einige an physische Grenzen

Zeit, die Natur zu genießen. Und Geschichten zu hören. Ein kleines Stück des Weges begleitet uns Sabrina. Die 29-jährige Kommunikationsdesignerin tritt hinter einem Bergtunnel aus dem Nebel wie ein Geist der Vergangenheit und erzählt uns eine der zahllosen Bergsagen. Mit solch heimatverbundenen Performances will die blonde Geschichtenerzählerin etwas für das durch starke Ab- und Zuwanderung gefährdete Identitätsgefühl ihres Landes tun. In Liechtenstein kommen auf 37 000 Einwohner noch mal so viele Arbeitsplätze, die meisten Einpendler stammen aus der Schweiz.

Den alemannischen Singsang der Erzählerin noch im Ohr, wandern wir weiter, vorbei an Wasserfällen, über Bäche und steil ansteigende Wiesen voller Enzian. Mild scheint der Tag zur Neige zu gehen, doch der letzte Aufstieg zur Hütte bringt einige von uns noch einmal an physische Grenzen.

Erschöpft aber glücklich erreichen wir die Pfälzerhütte auf dem Bettlerjoch, wo wir auf den Berggötte Michael Bargetze treffen, drahtig, mit Tattoo am muskulösen Oberarm, brennendem Blick und flammendem Herzen für alles, was höher als 2000 Meter ist. Bargetze kennt alle 32 Alpengipfel des Landes persönlich. Das Bergebesteigen liegt ihm im Blut. Seit 600 Jahren ist seine Familie hier ansässig. Schon als Bub war er in den Bergen unterwegs.

Wir sitzen am Felsenrand und baumeln mit den Füßen

Nach dem Frühstück am nächsten Morgen betreten wir einen der schönsten Panoramawege, den Fürstin-Gina- Steig, der seinen höchsten Punkt auf dem Augustenberg findet. Auf einem blumenübersäten Grat zur Bergbahn in das Liechtensteiner Skizentrum Malbun zeigt der sportliche Bergbezwinger Bargetze seine zarte Seite. „Wandern ist kein Wettkampf, es macht glücklich, wenn man sich persönliche Ziele steckt und mit sich selbst zufrieden ist“, sagt er. Und „immer auf die Qualität des nächsten Schrittes achten.“ Bergwandern als Lebensmetapher.

Am vierten Tag gelingt es Berggötta Rosaria Heeb nur mit einiger Überredungskunst, uns noch einmal auf die Berge zu bringen. Verwegen ein Kopftuch über das dunkle Haar gebunden, geht sie voran. Schon als Kind hat sie mit den Eltern die Berglandschaft erkundet, heute wandert sie auch oft mit ihren beiden Söhnen von Berg zu Berg. Jetzt sprüht sie vor Unternehmungslust und lockt mit einem Aussichtspunkt auf dem Hahnenspiel, von dem aus wir beinahe alles noch einmal sehen können, was wir in den letzten Tagen erwandert haben. Es geht über Wiesen, Stock und Stein. Kein Weg ist erkennbar. Rosaria Heeb geht am liebsten jenseits ausgewiesener Pfade.

Die Mühe wird belohnt. Die Aussicht ist ehrfurchteinflößend. Wir sitzen am Felsenrand und baumeln mit den Füßen. Wir atmen Weite, die wir uns mitunter mühsam erwandert haben. Als Rosaria Heeb dann noch das Alphorn auspackt und es einigen von uns gelingt, dem alten Zirbenholz ein paar Töne abzuringen, klingt das zwar schräg, dennoch wie eine kleine Siegesmelodie.

Reisetipps für Lichtenstein

ANREISE

Mit dem Auto über München via A96, in Österreich auf die A14, Ausfahrt Feldkirch. Mit dem Flugzeug bis Zürich, von dort mit dem Zug circa 1,5 Stunden nach Sargans. Von dort mit dem Bus nach Vaduz (www.liemobil.li).

WANDERN
Treffpunkt ist der Berggötte/Berggötta-Turm in Malbun jeweils um 9 Uhr, Gruppenstärke maximal zehn Personen. Termine auf

www. tourismus.le. Anmeldungen am Vortag bis 10 Uhr unter 00423 / 239 63 63 oder info@liechtenstein.de.

ÜBERNACHTUNG
Im Berggasthaus Sücka, DZ/F mit Dusche und WC 110 CHF, kann man ein letztes Mal seine E-Mails über W-Lan checken.

Telefon 00423 / 263 25 79, www.suecka.li

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