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Alexander Scheer schmiss nach der elften Klasse die Schule. Disziplin habe er am Theater gelernt, sagt der Schauspieler.

© Mike Wolff

Volksbühnen-Schauspieler Alexander Scheer: „Ich will das Biest reiten“

Schauspieler Alexander Scheer ergatterte Weißburgunder im Kanzleramt, trank tassenweise Whisky und schüttete Tim Renner Bier über den Kopf. Ein Interview.

Herr Scheer, Sie spielen jetzt den ostdeutschen Liedermacher Gundermann, einen singenden Baggerfahrer mit dicker Brille und Zopf. Früher galten Sie als Rock ’n’ Roller Ihrer Generation. Was ist passiert?

Meine Freundin sagte: Chico, du bist doch nur Schauspieler geworden, damit du immer der Coolste bist. Jetzt sei froh, dass du endlich mal eine Rolle spielst, in der du so sein kannst, wie du wirklich bist – uncool.

Im Uschi-Obermaier-Film „Das wilde Leben“ durften Sie der coole Hund Keith Richards sein. Danach haben Sie sogar seine Piratenrolle in „Fluch der Karibik 5“ übernommen.

Wegen des Obermaier-Films habe ich angefangen, E-Gitarre zu spielen. Andere lassen sich doubeln, ich kauf mir ’ne Telecaster. Das Video habe ich auf Youtube gestellt, auf einmal gingen die Klicks aus Amerika hoch. Ich hatte schlechte Laune, weil ich ein Projekt verloren hatte, da kam die Anfrage, ob ich nächste Woche nach Australien fliegen will.

Haben Sie den Stones-Gitarristen mal getroffen?

Ich flog nach L. A. zu Uschi, als Recherche. Der Produzent sagte, er zahle mir den Flug nur, wenn ich es schaffe, Richards zu treffen. Das erste Mal Los Angeles, drei Tage, Uschi sagt, ich kann mir die Karten für das Stones-Konzert im Four Seasons abholen, wo die Band wohnt. Ich irre in der Lobby rum und schreibe einen Brief an Keith, ich müsste ihn sprechen. Er antwortet tatsächlich: Schön von dir zu hören, gut, dich getroffen zu haben. Wir haben uns nie gesehen! Aber ich hatte meinen Wisch. Zurück in Berlin, Christina Weiss lädt zum Abschiedsempfang ein ...

... sie war bis 2005 Kulturbeauftragte des Bundes ...

... ich völlig durch den Wind, eben noch auf dem Sunset Boulevard herumgetänzelt, jetzt im Kanzleramt, und ich muss das Fax an den Produzenten losschicken. Ein Referent hilft mir, komm, das machen wir aus unserem Büro. Am Rand des Faxes von Keith Richards steht jetzt „Kanzleramt Berlin“. Vielen Dank, Frau Ministerin, ich muss jetzt los, mein Papa hat Geburtstag, darf ich ’nen Riesling mitnehmen? Das machen wir anders, antwortet sie, im Büro vom Gerhard gibt es leckeren Weißburgunder. So kam es, dass ich meinem Vater eine Flasche Wein vom Kanzler mitbrachte.

Ihr Gott ist ein anderer: Regisseur Frank Castorf.

Der sagt auch Söhnchen zu mir. Mensch, jetzt läuten sogar die Glocken. Eine Messe für Castorf!

Na ja, die Kirchenglocke schlägt gerade sechs Uhr.

Hätte er aber verdient. Castorf ist jemand, der Texte nimmt, die nicht zusammengehören, sie hemmungslos ineinanderschiebt, und er macht das live. 1200 Seiten „Die Brüder Karamasow“ komponiert er im Moment um. Kein Theater der Welt probt einen achtseitigen Monolog das erste Mal am Tag vor der Premiere.

Klingt erschreckend.

Eine absolute Zumutung! So schlimm war es noch nie, denkst du jedes Mal. Aber dann ziehst du wieder die Handschuhe an, steigst in den Ring und boxt dich mit den Kollegen durch zwölf Runden. Franks Volksbühne war mein Stahlbad.

Die Frauen kommen bei ihm nicht gut weg. Sie sind selten mehr als Schlampen oder Huren.

Muss man nicht so sehen. Frank ist immer offensiv mit seinem Sexismus umgegangen. Bei uns hatten die Frauen die kürzesten Röcke und die höchsten Absätze, aber auch die schärfsten Texte. Wir mussten ganz schön rudern neben Granaten wie Sophie Rois und Kathi Angerer.

Das verrückteste Erlebnis mit dem Ensemble?

Das Gastspiel mit „Kean“ im Pariser Odéon. Fünfeinhalb Stunden Aufführung, vier Kilo Text, keine Drehbühne. Da kriegst du Kilometergeld. Schon eine Show ist grenzwertig, wir spielten sechs Abende hintereinander! Nach dem dritten waren wir Wracks, ich kam kaum noch ’ne Treppe hoch.

Und dann haben Sie ...

Moment, geht ja weiter! Am letzten Abend hatte nun wirklich keiner mehr Kraft. Das wird unser Untergang. Vorhang auf, wir rennen raus, geben noch mal Gas, und ab der ersten Sekunde ist unser Timing messerscharf, jede Pointe zündet, 1200 Pariser brüllen, die Schmerzen sind vergessen. Da mobilisierten sich Kräfte, die nicht mehr hätten vorhanden sein können. Die Energie kam direkt aus dem Saal, reine Elektrizität! Das ganze Theater katapultierte sich in den Weltraum, an diesem Abend spielten wir bis zum Mond. Halbe Stunde Applaus, ich konnte nicht mehr laufen, bin nur noch geschwebt. Wir haben danach tassenweise Whisky getrunken, um irgendwie schlafen zu können. Hat nichts gebracht. Mein Körper voller Adrenalin und Endorphine sagte: Scheer, hast du nichts Härteres?

„Tim Renner war kein Punk“

Der Rocker. Scheer bei der Deutschlandpremiere von "Gundermann" in der Lichtburg in Essen.
Der Rocker. Scheer bei der Deutschlandpremiere von "Gundermann" in der Lichtburg in Essen.

© imago/Eibner

Woher kommt die Lust an der Verausgabung?

Fragen Sie Marathonläufer, warum die sich das antun. Danach bist du im Eimer, aber du weißt, was du gemacht hast. Lichthupe, Vollgas. Wenn du schon Überholspur fährst, bretter durch. Hältst du an der Raststätte, kannst du einpacken.

Dagegen helfen Aufputschmittel.

Finde ich unsportiv. Theater ist Teamsport, da ziehst du dich gegenseitig hoch, musst aufeinander achtgeben, ganz schnell, zack, und du hast dir den Arm verdreht. Doping bei der Arbeit geht nur im Messebau und meinetwegen in der Musik. Beim Spielen soll bitte die Arbeit der Rausch sein. Im Film ist das selten der Fall. Ich möchte nicht das eine gegen das andere stellen, aber ich will das Biest reiten. Bei Castorf haben wir gelernt, es muss Rock ’n’ Roll sein, wir spielen den ganzen Song.

Als er gehen musste, waren Sie sauer auf den damaligen Kulturstaatssekretär Tim Renner. Dabei sollte er Ihnen als Typ gefallen: Ex-Punk, macht Ostler wie Rammstein groß, Quereinsteiger in der Politik.

Ich habe sein Buch über die Historie des Vinyls mehrfach verschenkt, interessantes Werk. Dass er ein Punk war, halte ich für ein Gerücht. Und die Demotapes von Rammstein sollen bei Renners auf dem Klo gelegen haben, bis seine Frau sagte, hör dir das doch mal an.

Also gossen Sie ihm ein Bier über den Kopf.

Ich habe ihn zwei Mal gewarnt. Vor zwei Jahren fragte er mich backstage nach einem Rammstein-Konzert, was er nach der Castorf-Kündigung machen solle. Ich habe ihm geraten, sich am besten nicht in unserem Theater blicken zu lassen. Ein halbes Jahr später spielt die Band Bilderbuch in der Volksbühne, und wer feiert dort, als wäre nichts gewesen? Meine Freundin hielt mich zurück, das Bierglas war schon in der Hand. Ich fragte ihn: Was zur Hölle machst du hier?

Dann trafen Sie ihn noch einmal nach der Vorführung eines Rammstein-Films im Foyer des Theaters.

Da sagte selbst meine Freundin: Go! Ich habe seither nie wieder für ein Bier an der Volksbühne zahlen müssen. Aber offen gesagt: Für das, was Herr Renner zu verantworten hat, ist ein Bier über den Kopf eindeutig zu wenig.

Der Castorf-Nachfolger Chris Dercon hat aufgegeben, nun soll der Kultursenator einen neuen Intendanten finden.

Klaus Lederer muss was riskieren, er braucht allerdings jemanden, der von Theater ein bisschen Ahnung hat. Es ist schmerzhaft, sieben Monate Intendanz und mehrere Millionen Euro hat es gekostet, um das einflussreichste Theaterschiff der Gegenwart auf Grund laufen zu lassen. Diesen Tanker wieder auf volle Fahrt zu kriegen, das dauert.

Wie haben Sie sich nach der letzten Vorstellung in der Kantine verewigt?

Na ja, die Lampen sind jetzt alle verbogen.

Verschwunden ist der Schriftzug „Ost“ vom Dach. War das Theater ostig?

Gundermann sagt was Schönes: Ich meine mit Sozialismus keine Ideologie, ich meine einfach das Gegenteil von Egoismus. Im Osten hast du kein Geld gehabt, und wenn, war’s nichts wert, weil du nichts kaufen konntest. Unser Schriftzug hieß Anfang der 90er Jahre auch: Wir sind nicht käuflich.

Und Gundermann lieferte den Soundtrack für dieses Lebensgefühl?

Damals kannte ich ihn mehr von Plakaten, er hat öfter im „Frannz“ gespielt. Wie der aussah, das Fleischerhemd, die Hosenträger, das ging gar nicht. Diesen Ostrock, vor allem den Sound, fand ich schlimm. DX7-Synthesizer, verhallte Saxofone und Schlagzeug mit viel Wumms. Manchem Ostler hat er gut durch die schwierige Zeit der Wende geholfen. Mir nicht. Ich war ja zwei Mal 14, einmal im Osten, einmal im Westen ...

... Sie meinen das Wendejahr zwischen Herbst 1989 und Herbst 1990 ...

... und in dieser Zeit war ich heiß auf Westplatten, hab mich mit Stones und Zappa eingedeckt. Aber ein Liedermacher mit dünnem Haar, nee! Meine Generation ist ja dual sozialisiert. Aus der russischen Zone direkt rein ins Vergnügen. Wie Hippies rannten wir zur Love-Parade, hörten gleichzeitig House und Hendrix.

„Berghain ist mir zu uniform geworden“

Alexander Scheer als Edmund Kean 2008 in der Volksbühne.
Alexander Scheer als Edmund Kean 2008 in der Volksbühne.

© imago/Drama-Berlin.de

Erinnern Sie sich an Ihr erstes Mal im Technoclub?

Ich mochte die Musik erst überhaupt nicht. Die zwei Rhythmusmaschinen, es klang alles gleich. Mich faszinierte aber die freie Form. Ein Akkord, kein Refrain, es mäandert minutenlang, dann kickt wieder die Bassdrum. Es war die Zeit, als Berlin die freieste Stadt des Planeten war. Du steigst in eine Klappe auf der Torstraße und landest in einem Club auf einem Geisterbahnhof. Da musst du dir Moves einfallen lassen, musikalisch war das ja eintönig. Ekstase durch Monotonie. Mich hat dieses nächtelange Tanzen körperlich befreit, diese Lust am Feiern. Natürlich mischte sich die eine oder andere Substanz dazu.

Sie haben Ecstasy-Pillen eingeworfen.

Das war nicht das Erste. Man hat angefangen zu rauchen, damit man kiffen kann. Und die erste E, ja, sensationell.

Sie sagen selbst von sich, Sie seien suchtaffin.

Na ja, Ost-Berlin damals, brauchen wir nicht drüber reden. Gefährlich wurde es 1996, als „Trainspotting“ in die Kinos kam. Da hatten wir alles durchprobiert, im großen Stil kam Heroin wieder in die Stadt. Gott sei Dank war ich da schon raus, weil ich bereits am Off-Theater spielte. Aber sonst, die 90er Jahre, hallo?

Der Filmemacher Andreas Dresen, der mit Ihnen „Gundermann“ gedreht hat, ist bei einem Begriff wie „Ost-Identität“ skeptisch. Was denken Sie?

Ich bin in zwei Staaten aufgewachsen und hege zu keinem ein Heimatgefühl. Ich habe Kindheitserinnerungen an ein Land, das DDR hieß. Und ich suche immer nach meinen Wurzeln. Ist doch klar, der Osten war vorbei, und plötzlich soll alles ganz anders gewesen sein. Die Hälfte der Lehrer, die noch unterrichten durften, weil sie nicht bei der Stasi waren, mussten uns den ganzen Quark noch mal andersrum erzählen.

Haben Sie die Jugendweihe trotzdem mitgemacht?

Die letzte in der DDR, Frühjahr 1990, im Kongresszentrum am Alexanderplatz, Karat spielte die Musik. Meine Mama meinte: Ist doch ein schönes Jackett. Die Ärmel hingen mir bis hier, wir hatten das Ding drei Jahre vorher gekauft. Nach der Wende waren alle überfordert, besonders die Eltern. Als ich nach der elften Klasse die Schule schmiss, meinten sie: „Wir wissen auch nicht, wo es gerade langgeht. Finde raus, was du willst, und geh deinen Weg.“ Ich habe meinen Führerschein gemacht und ausgeschlafen. Um 14 Uhr drehte ich mit dem Trabi meine Runden und holte meine Kumpels von der Schule ab. Abends bin ich ins Kino gerannt, drei Mal die Woche. New Hollywood, Nouvelle Vague, die Klassiker von Lang und Murnau, Western von John Ford.

Sie fummeln die ganze Zeit an Ihrer Kette rum. Auch im Film kämpfen Sie öfter mit den Dingen. In „Viktor Vogel“ mit der Kaffeemaschine, in „Sonnenallee“ öffnen Sie dem Mädchen die Tür ...

... als gerade das Asthmakraut reinknallt. Gibt es ein Adjektiv für Slapstick? Ich habe vielleicht ein Talent dafür, weil ich als Junge die Stummfilme liebte, die Akrobatik eines Buster Keaton.

Konnten Sie schon in der Schule nicht stillsitzen, oder kam das erst nach den Drogen?

Ganz schön frech! Meine Mutter meint, nach meiner Geburt hätte ich nicht geschrien, sondern gleich erzählt. Es stimmt, wenn ich rede, kann ich nicht stillsitzen. Disziplin habe ich am Theater gelernt. Ich pauke zu Hause Texte, während andere in die Kneipe gehen.

Und am Wochenende ab ins Berghain.

Ist mir zu uniform geworden: die Girls in Netzstrümpfen und Bikini, die Boys oben ohne mit schwarzer Badehose. Neulich war ich wieder da, trug Weste und Hut, der Barmann gab mir gleich einen aus, weil der einen knallgelben Stretch-Irgendwas anhatte und wir uns daran erinnerten, wie früher die Individualität gefeiert wurde.

Erkennen Sie Ihren Spielplatz Berlin-Mitte noch?

Ich hab in vielen Städten gewohnt, gelebt hab ich nur in einer. Mein Blick auf Berlin wird immer ein zärtlicher bleiben. Du sitzt in der Straßenbahn, plötzlich siehst du die Punks wieder, auf der Kastanienallee neben dem Prater, das Haus war schwarz, ein fauler Zahn. Dann überblendet das Bild, du bist zurück im Heute, am Soho House in der Torstraße. Und du denkst, die einzigen Ostler da drin sind die Jungs, die in der Küche arbeiten.

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