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Zu dieser Kuppel in Vorarlberg pilgern nicht nur Wanderlustige.

© Florian Holzherr

Versteckte Kunst in den Alpen: Der kuratierte Himmel

In Lech wollten sie ein Kunstwerk haben, so mächtig wie die Gipfel. Der Lichtkünstler James Turrell hat ihnen eines in den Berg gehauen

Wenn es Waldbaden gibt, muss es auch Himmelsduschen geben. Nur erlebbar mit dem Kopf im Nacken. Und indem man jetzt zum Himmel hinaufblickt, muss man nun auch zwangsläufig zu James Turrells Werk aufsehen. Zu des Lichtkünstlers Arbeit, der sich für seine in der ganzen Welt verteilten sogenannten „Skyspaces“ immer einen Ausschnitt des Himmels leiht.

In Österreichs Alpen, Vorarlberg, 1770 Meter über dem Meer, anderthalb Stunden vom Bodensee entfernt, duckt sich ein Kunstraum in den Berg, unterhalb der Kriegeralpe oder oberhalb des Ortes Oberlech, je nachdem, von wo man kommt. Hinausschauen kann nur, wer vorher in den ortsabgewandten Eingang hineingefunden hat.

Turrell wollte sein Kunstwerk versteckt wissen. Eingehegt in die alpine Landschaft. Erreichbar ohne Seilbahn und zu allen Zeiten, vor allem zu Sonnenauf- und -untergang. Zu Fuß, mit dem Auto oder Fahrrad und im Winter sogar auf Skiern gelangt man in den kleinen, in einen natürlichen Hügel hineingebauten Raum. Das in die Decke geschnittene Oval gibt den Blick frei auf den Himmel. Zweimal am Tag, eine Stunde, bevor die Sonne aufgeht und eine Stunde, nachdem sie untergegangen ist, läuft dort Turrells eigens komponiertes Lichtprogramm.

Künstler Antony Gormley war zuerst da

50 Minuten lang rahmt der Künstler das Stück Himmel immer wieder neu. Die in wechselnden Farben beleuchtete Decke bildet jedesmal ein andersfarbiges Passepartout, sodass auch der Himmel, der jedesmal anders wirkt, Teil des Werks wird. Die Gemeinden Lech und Oberlech gehören im Winter zu den exklusivsten Skiorten der Alpen und liegen im größten zusammenhängenden Skigebiet Österreichs. Früh, sagt Ludwig Muxel, habe man sich für Klasse statt Masse entschieden, und die meisten dieser Klasse sind Stammbesucher und kommen seit Generationen hierher. Ludwig Muxel, Bürgermeister seit 26 Jahren, ist selbst ein Beispiel der Beständigkeit.

Neben seinem Büro schäumt der Fluss, auf dem Tisch blüht ein Alpenveilchen. Jedes Mal, sagt er, sei seine Erfahrung dort oben am Kunstwerk eine andere. Man selbst sei ja auch nicht immer der Gleiche. Er muss ein bisschen ausholen, warum ausgerechnet dieser kleine Ort  mit gut 1500 Einwohnern im vergangenen Jahr dieses außerordentliche Kunstwerk von James Turrell eröffnen konnte. Hätte es vor neun Jahren den britischen Künstler Antony Gormley nicht gegeben, wäre heute der Amerikaner Turrell nicht hier: 100 menschliche Figuren, identische Eisenmänner, jeweils genaue Abbilder des Künstlers selbst, jeweils auf exakt 2830 Metern Höhe eingemessen, hatte Gormley damals in ganz Vorarlberg verteilt. Wer wanderte oder Ski fuhr, sah plötzlich von nah oder aus der Ferne eine menschlich erscheinende Gestalt am Berg.

Man wollte Kunst, aber nicht irgendeine

Als das temporäre Kunstprojekt 2010 eröffnet wurde, waren alle, selbst die ehemaligen Skeptiker, so begeistert, dass sie es am liebsten behalten hätten. Die Euphorie pulverisierte den ursprünglichen Widerstand der Bergbauern. So sehr wollten sie dieses Werk nun für immer haben, dass sie dafür einen Verein gründeten: Horizon Field. Würde man nicht, ganz umweltfreundlich, 100 Hubschrauberflüge sparen, wenn man die eisernen Figuren gar nicht mehr wieder vom Berg abholen müsste?, argumentierten sie. Ein halbes Jahr kämpften sie. Doch das Kunsthaus Bregenz bestanddarauf: Temporär ist temporär. Schließlich erklärt man auch nicht eine limitierte Künstleredition im Nachhinein für unbegrenzt.

Wo ein glatt gespachtelter Eingang das Tor zum Himmel ist.
Wo ein glatt gespachtelter Eingang das Tor zum Himmel ist.

© Florian Holzherr

Lech, sagt Muxel in seinem Bürgermeisterbüro, war angefixt. Man wollte jetzt Kunst, aber nicht irgendeine. In diesem noblen Ort hat man sich schließlich noch nie treiben lassen. Als einzige Region in Österreich beschränken sie die Zahl der Wintersportler: Nach dem 14000. Skifahrer werden keine Liftpässe mehr verkauft, früher waren es bis zu 20000. Wenn einen nicht Masse, sondern Qualität interessiert, gilt dieses Prinzip selbstverständlich auch für die Kunst. Sie wollten ein Werk, das zu ihnen passt, sagt der Bürgermeister. Etwas Höherwertiges, kein Kunsthandwerk. „Nicht Allerweltskultur, sondern richtig dolle Kultur.“ Sie kamen schnell auf James Turrell, Star der internationalen Kunstszene. Turrell will nicht einfach ein Werk gut beleuchten. Für ihn ist das Licht selbst sein Material, die Kunst. Damit ist er einzigartig.

Einige Standorte gab es in Lech zur Auswahl

James Turrell ist in einer streng religiösen Quäker-Familie aufgewachsen, er hat Mathematik und Astronomie studiert. Sobald er mit 16 Jahren seinen Flugschein gemacht hatte, verdiente er sich sein Geld zunächst mit Botenflügen. Er sei immer wieder davon beeindruckt gewesen, wie er allein in der Maschine seinen Wahrnehmungen ausgeliefert war: wenn er in eine Nebelwolke eintrat und plötzlich der Horizont verschwand.

Die sogenannten „Skyspaces“ von James Turrell sind in der ganzen Welt verteilt.
Die sogenannten „Skyspaces“ von James Turrell sind in der ganzen Welt verteilt.

© Florian Holzherr

Derjenige, der vielleicht am meisten darüber nachgedacht hat, wie man den internationalen Kunststar in die österreichischen Berge locken kann, ist Otto Huber, Vorstand des Vereins Horizon Field. Huber, der erzählt, wie man über Verbindungen zu einem Galeristen einen direkten Draht zu Turrell bekam. Wie der Lichtkünstler vor sechs Jahren Lech besuchte, wo man ihm einige Standorte für sein Werk zur Auswahl gab – den Flexenpass, den Rüfikopf und Tannegg. Letzterer überzeugte ihn. Ein Hügel bot sich an, denn das Kunstwerk sollte sich, wie man hier sagt, „harmonisch mit der Landschaft verbringen“. Kaum Lichtverschmutzung, also ein starkes Himmelsleuchten. Außerdem eine bedeutungsvolle Sichtachse: Zur Sonnenwende am 21. Juni sieht man vom Eingang aus die Sonne direkt über dem Biberkopf aufgehen.

Kein anderer Skyspace hat eine fahrbare Kuppel

30 kunstsinnige Leute der zuständigen Genossenschaft stimmten sofort zu, das Grundstück für die Kunst aus ihrem zu lösen. Dann begann das Abenteuer des Baus. Kein anderer Skyspace auf der Welt hat eine Kuppel, die man auch öffnen oder schließen kann, sagt Huber, die bei Regen oder Schnee elektronisch gesteuert über Schienen fährt. Eine Notwendigkeit angesichts der extremen Wetterverhältnisse in den Alpen. Ebendiese Exponiertheit, die Widerstände der Natur, die baulichen Komplikationen hätten Turrell gereizt, sagt Huber, und das Projekt für den Künstler noch interessanter gemacht.

Das in die Decke geschnittene Oval gibt den Blick frei auf den Himmel.
Das in die Decke geschnittene Oval gibt den Blick frei auf den Himmel.

© Florian Holzherr

Am Ende konstruierten Ingenieure aus dem Eisenbahnbau und ein Schiffsbauer eine fahrbare Kuppel, die das Gewicht von zwei Meter dickem und nassem Neuschnee aushält: 3,4 Tonnen. Außerdem durfte der Mechanismus nicht einfrieren. Damit man kontrollieren kann, ob sich beispielsweise Tiere in den Eingang verirren, hängt eine Kamera in der gegenüberliegenden Fichte.

Das gesamte Kunstwerk ist über ein Handy steuerbar

Während der Bauarbeiten, sagt Huber, haben sie festgestellt, wie viele echte Freunde Lech habe. „Das geht weit über die Beziehung zu einem Urlaubsort hinaus.“ Denn natürlich wurde alles teurer als geplant, sie benötigten 1,5 Millionen Euro. Feriengäste finanzierten das Projekt mit. Sie konnten sich für 1000 Euro einen Spenderstein kaufen, in den der eigene Name eingraviert wurde. Eine argentinische Großfamilie, die seit drei Generationen zum Skilaufen nach Lech kommt, hat allein 20 Steine übernommen.

Im Prinzip ist das gesamte Kunstwerk, sind die Türen, der Kuppelmechanismus und das Lichtprogramm vollautomatisiert und über ein Handy elektronisch steuerbar. Seit der Eröffnung vor gut einem Jahr trägt der örtliche Elektriker das Handy immer bei sich in der Tasche.

In Arizona wühlte sich Turrell in einen Vulkankrater

Der Raum ist an diesem Abend gefüllt mit Menschen, die konzentriert nach oben sehen. Nur die Farben wechseln, während es zunehmend schwerer wird zu glauben, dass das immer anders erscheinende Stück Himmel echt und nicht etwa auch eine Projektion ist. Von tief unten, quasi aus einer unterirdischen Höhle heraus in den Himmel gucken – diese Idee fasziniert Turrell seit den 70er Jahren. Damals entdeckte er vom Flugzeug aus einen erloschenen Vulkankrater in Arizona. Er kaufte das Land, taufte den Ort „Roden-Krater“ und baut ihn sich seitdem als ein ungeheures, ungeheure Summen verschlingendes begehbares Kunstwerk aus. Turrell wühlte sich in den Krater, versah ihn mit Gängen, Lichtinstallationen und Öffnungen, denn auch hier sollten der echte Himmel und sein Licht Teil der Kunst sein. Seitdem muss man bei Turrell immer erst ganz tief in etwas hineinsteigen, bevor man von dort aus – magischer Lichteffekt – quasi ins All sehen kann. Das Gewirr aus unterirdischen Sälen und unvermuteten Ausblicken muss nach allem, was man darüber lesen kann, überwältigend sein.

Jede Farbe in der Installation verändert auch den Blick nach oben.
Jede Farbe in der Installation verändert auch den Blick nach oben.

© Florian Holzherr

Daneben existieren die sogenannten Skyspaces. In Schottland beispielsweise gibt es einen auf einem nicht ausgeschilderten Privatgelände. Diese Skyspaces in aller Welt erscheinen gegen den Krater wie glatt gespachtelte, zivile Versionen einer rauen, archaischen Urform im erloschenen Vulkan. Doch bevor man sich endgültig in die menschenfeindliche Landschaft Arizonas wünscht, fällt einem ein, dass auch hier draußen in der hochalpinen Welt die Kompromisslosigkeit der Natur sehr wohl zu finden ist. Mit ihren nicht verhandelbaren Bedingungen, den Gefahren, die sich nur Geübten ankündigen, den Wetterumschwüngen und Lawinenabgängen.

Der Ort hat etwas Sakrales

Otto Huber hat bemerkt, dass in den letzten Jahren ganz andere Menschen in die Berge gehen, latent etwas suchend, Läuterung vielleicht. Beim Wandern müsse man ja die Atmung anpassen, seine Kraft einteilen, sich auf die Umgebung konzentrieren. „Das hat etwas von Wellenreiten, etwas Spirituelles.“ Dieses Bedürfnis nach Klarheit und Transzendenz erfüllt auch Turrells Ort der Konzentration. Die Menschen in Lech bekamen hier ein Kunstwerk, das die läuternde Wirkung der Berge verstärkt.

Nach 45 Minuten unter Turrells Himmelsloch wird der Nacken steif. Die Sonne ist längst untergegangen. Dies ist keine typische Körperhaltung zur Kunstbetrachtung. In dieser Position bewundert man sonst nur Fresken an Kirchendecken. Gerade denkt man, dass schon allein aus der Andachtshaltung des Körpers eine Empfindung des Sakralen entsteht – da sind tatsächlich Glocken zu hören. Sie gehören den Kühen von der Weide nebenan. Ist das jetzt Turrells Ironie oder die eigene?

Ende des Farbspiels unter dem Himmelsausschnitt, man tritt wieder ins Ganze, unter das vollkommene, inzwischen sternenprangende Himmelsgewölbe. Die Berge im Westen zeichnen eine Zackensilhouette in das Restglimmen des Tages.

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