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Täglich strömen tausende Touristen zum Markusplatz und dem Dogenpalast, um den Themenpark Veniceland zu besichtigen.

© imago/Frank Brexel

Venedig: Wie die letzten Venezianer versuchen, die Lagunenstadt zu retten

Ein ungleicher Kampf. 33 Millionen Touristen pro Jahr treffen auf 56 000 Einheimische. Diese protestieren gegen Plastikflaschen, Uferschäden und gierige Festlanditaliener.

Heute morgen lag diese riesige Karte im Briefkasten: You only live once! Absender eine internationale Immobilienkette, die Traumwohnungen in Venedig anbot. Das „amazing 2-rooms-pent-house on Giudecca-Island, stunning view over Venice: Euro 800 000“. Oder das „totally restored 50 sqm apartment near St. Mark’s Square, ideal as investment: Euro 250 000“.

Früher war man in Venedig daran gewöhnt, dass ab und zu ein Makler anrief und fragte, wer in der Nachbarschaft seine Wohnung zu verkaufen gedenke, heute machen die Makler weder den Versuch, auf Italienisch zu kommunizieren, noch anzurufen. Sie gehen davon aus, dass in der Stadt keine Venezianer mehr leben, sondern nur noch Airbnb-Kunden: Touristen, die davon träumen, in Venedig eine Wohnung zu kaufen, die man selbst gewinnbringend an Touristen vermietet.

Auf Facebook wirbt „Rent it! Venice“ damit, die Verwaltung von Ferienwohnungen zu übernehmen – Werbung, Begleitung der Touristen vom Vaporetto bis zum Apartment und Endreinigung inklusive. Wenn man die nötigen Angaben gemacht hat, kann man Buttons anklicken und sich den „maximalen monatlichen/jährlichen Verdienst“ ausrechnen – bei minimalem Einsatz. Um in Venedig eine Ferienwohnung zu vermieten, reicht es, einen Vordruck auszufüllen und eine geringe Verwaltungsgebühr zu zahlen. Jeden zweiten Tag wird eine Wohnung offiziell in ein B&B verwandelt.

Inzwischen gibt es hier nur chinesische Taschengeschäfte

Schwarz natürlich noch viel mehr, inzwischen wird praktisch jede vierte Wohnung an Touristen vermietet. Kontrollen? Keine. Weshalb nicht nur die Mailänder Erben der soeben verstorbenen venezianischen Großtante die Wohnung vermieten, sondern auch viele venezianische Hotelbesitzer, Stadträte, ja sogar Bürgermeister, die das Ferienwohnungsbusiness nicht etwa bekämpfen, sondern Teil von ihm wurden.

Und den übrigen 56 000 Venezianern (vor 60 Jahren waren es noch mehr als 160 000) bleibt nichts anderes, als die Touristen in der Wohnung nebenan mit dreisprachigen Merkzetteln aufzufordern, ihre Mülltüten morgens bitte selbst in die Gasse hinunterzubringen – und sich ansonsten auf die Lebensumstände in Veniceland einzustellen. Wer einen Arzt braucht, muss nach Mestre fahren, in Venedig gibt es nur chinesische Taschengeschäfte und pakistanische Ein-Euro-Läden, Muranoglas-Anhänger und Wackelgondeln.

Die letzten Venezianer existieren nur noch als literarischer Topos – und als Statisten in diesem Themenpark, wo sie den jährlich 33 Millionen Touristen im Weg stehen. 90 Prozent sind Tagestouristen, mordi-e-fuggi, Beißrein-und-hau-ab-Touristen, die nicht wegen Tiepolo, sondern wegen des Selfies auf dem Markusplatz kommen. Und die in der Stadt kein Geld, nur leere Plastikflaschen hinterlassen.

Die letzten Adligen verlassen kaum mehr das Haus

Tourismusexperten sprechen vom Venice model, wenn sie ein ausdrucksstarkes Bild dafür suchen, wie der Massentourismus eine Stadt vernichtet. Die Bürgermeisterin von Barcelona verkündete, dass ihre Stadt „nicht wie Venedig enden sollte“, wofür sie vom venezianischen Bürgermeister heftig gerügt wurde.

Als die Republik Venedig 1797 fiel, beschlossen die meisten Patrizierfamilien, sich nicht mehr fortzupflanzen, damit künftig niemand von ihnen der Erniedrigung einer Fremdherrschaft ausgesetzt sei. Die wenigen Adligen, die heute noch in Venedig leben, verlassen kaum mehr das Haus. „Venedig“, sagte einst der Conte Marcello, „ist ein alter, vermodernder Baum, auf dem Schmarotzerpflanzen so lange gedeihen, bis sie ihn aufgefressen haben.“ Ein anderer Adliger ging noch weiter: Bewusst politisch inkorrekt nannte der Conte Ranieri da Mosto die Abwanderung von 100 000 Venezianern in bezahlbare Wohnungen auf dem Festland „Deportation“.

Ist Entvölkerung nicht das Schicksal aller historischen Zentren der Welt – Rom, Mailand, Paris? Das war jedenfalls die Meinung des langjährigen venezianischen Philosophen-Bürgermeisters Massimo Cacciari, der im fernen Jahr 1994 die Weichen für Venedigs Zukunft stellte: „Privatizzare Venezia“ hieß sein Manifest, in dem er Investoren garantierte, für ihre Projekte sämtliche Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen. Gesagt, getan.

Engagierte Bürger sind korrupten Politikern ein Dorn im Auge

Großen Kreuzfahrtschiffe fahren mehrmals täglich in die Lagunenstadt ein.
Großen Kreuzfahrtschiffe fahren mehrmals täglich in die Lagunenstadt ein.

© imago/allOver

Heute wird das Rathaus im Palazzo Farsetti auch „Ca’ Farsetti Real Estate“ genannt. Nichts macht schneller reich als der Federstrich eines venezianischen Bürgermeisters. Kaum hat er seine Unterschrift unter die veränderten Nutzungsbestimmungen eines Gebäudes gesetzt, schon explodiert der Gewinn. So geschehen bei dem damaligen Bürgermeister Giorgio Orsoni und dem Fontego dei Tedeschi neben der Rialtobrücke. Dank seiner Unterschrift konnte die einstige deutsche Handelsniederlassung und spätere venezianische Hauptpost für 53 Millionen Euro an die Benetton-Gruppe verkauft werden – die das Renaissancegebäude in ein Einkaufszentrum verwandelt und an den französischen Luxuskonzern LVMH des Multimilliardärs Bernard Arnault verpachtet hat. Ein Schnäppchen: Der Marktwert wurde auf 124 Millionen Euro geschätzt.

Ginge es nach dem Willen der in Venedig herrschenden politischen Klasse, könnten die Venezianer gar nicht schnell genug aussterben. Dann würde sich endlich niemand mehr über den touristischen Fundamentalismus beschweren, dann würde klaglos hingenommen, wenn auch der letzte Gemüsehändler das Feld für Luxusboutiquen räumt, wenn fußballfeldgroße Werbeplakate vor Renaissancefassaden gehängt, die Paläste und die Inseln der Lagune verhökert werden und die Luft vom Feinstaub und den hochgiftigen Benzopyrenen der Kreuzfahrtschiffe verpestet wird.

Ohne die letzten Venezianer gäbe es nicht die renitenten Facebook-Gruppen und Bürgerinitiativen, die dagegen kämpfen, dass Uferbefestigungen zerstört und die Gassen verstopft werden, weil Monsterschiffe, Billigfluglinien, Reisebusse und Adria-Ausflugsboote Millionen Besucher in die Stadt spülen. Millionen, die zwei, drei Stunden lang mit Kopfhörern wie betäubt hinter einem Führer herlaufen, der sie vom Markusplatz zur Rialtobrücke dirigiert.

Die Mose-Hochwasserschleuse ist ein Monument der Bestechlichkeit

Ohne die letzten Venezianer könnte die Mafia endlich ungestört in Venedig ihr Geld waschen, wo sie nicht nur mit Immobilien handelt, sondern auch die legendären Strände der Hotels „Excelsior“ und „Des Bains“ gepachtet hat – und der Staatsanwaltschaft zufolge zu ihren Vertrauten die Spitzen der venezianischen Gesellschaft zählt: einen ehemaligen Bürgermeister und venezianische Beamte wie den stellvertretenden Hafenmeister.

Ohne die renitenten letzten Venezianer wüsste niemand, dass der italienische Kulturschutzbund Italia Nostra seit Jahren verlangt, den Touristenfluss online zu steuern, mit Voranmeldungen für Gruppen, und ebenso beharrlich wie vergeblich Steuererleichterungen für Wohnungsbesitzer fordert, die an Venezianer vermieten.

Ohne die letzten Venezianer hielte man die 7,6 Milliarden teure Mose-Hochwasserschleuse für eine technologische Errungenschaft und nicht für ein Monument der Bestechlichkeit, das an den gewaltigen, parteiübergreifenden Korruptionsskandal erinnert, in dessen Folge der Bürgermeister 2014 zusammen mit 34 Spießgesellen festgenommen wurde, darunter Exminister, Staatssekretäre, hohe Verwaltungsbeamte, Finanzgeneräle, eine Europaparlamentarierin und der ehemalige Ministerpräsident des Veneto.

Venedigs Schicksal wird vom Festland bestimmt

Mose, ein mobiles Sperrwerk, soll Venedig vom Hochwasser schützen.
Mose, ein mobiles Sperrwerk, soll Venedig vom Hochwasser schützen.

© imago/Independent Photo Agency

Schmiergelder von über einer Milliarde Euro sind laut Anklage für ein pharaonisches Projekt geflossen, das vermutlich nie in Betrieb genommen wird. Für Venedig kein Verlust, weil die Schleuse lediglich Hochwasser ab 110 Zentimetern verhindern soll, alle anderen Hochwasser aber weiter ungehindert in die Stadt fließen würden.

Ohne die letzten Venezianer wüsste auch niemand, dass die korrupte Kaste aus Politikern, Funktionären und Unternehmern die milliardenschwere Hochwasserschleuse über Jahrzehnte verbissen gegen billigere und umweltschonendere Alternativen verteidigt hat. Man hätte einfach nur die seit den 1950er Jahren angelegten Kanäle wieder auffüllen müssen – ausgebaggert für Erdöltanker und auch für Kreuzfahrtschiffe –, schon wäre eine wesentliche Ursache des Hochwassers beseitigt.

Durch die Schleuse soll nicht Venedig vom Hochwasser geschützt werden, sondern der Hafen und damit die Kreuzfahrtindustrie, deren Liegegebühren nach Rom fließen. Um dieses Milliardengeschäft zu sichern, soll nun ein neuer Kanal gebaggert werden, damit die Kreuzfahrtschiffe von hinten in die Stadt gelangen können, ohne dass jeder Passant ein Foto von dieser Ungeheuerlichkeit online stellen kann.

In die Stadt kommt man nur, um abzustimmen

Man könnte sich jetzt fragen: Warum wählen die Venezianer dann eine politische Klasse, die ihre Interessen gar nicht vertritt? Tatsache ist, dass das Schicksal Venedigs seit Jahrzehnten keineswegs von den Venezianern bestimmt wird, sondern vom Festland, wo die Mehrheit der Wähler lebt: Den 56 000 Venezianern stehen 180 000 Bewohner des Festlands gegenüber, von Mestre bis Chirignago-Zelarino, die ihr Geld in und an Venedig verdienen. Selbst die Gondolieri leben schon lange nicht mehr in Castello, sondern in Mogliano Veneto. Auch alle Stadträte und Bürgermeister Luigi Brugnaro wohnen auf dem Festland.

Nach Venedig kommt man nur, um abzustimmen. Und deshalb werden die letzten Venezianer wieder einmal den Versuch machen, über ihr Schicksal selbst zu entscheiden und mit einer Volksabstimmung zu erzwingen, die Zwangsehe Venedigs mit dem Festland aufzulösen. Stimmberechtigt sind die Bewohner Venedigs und des Festlands, bereits vier Mal wurden die Trennungsbefürworter überstimmt. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt.

Das Magazin „Merian – Venedig“ ist im Zeitschriften- und Buchhandel erhältlich ist.
Das Magazin „Merian – Venedig“ ist im Zeitschriften- und Buchhandel erhältlich ist.

© Cover: promo

Der Text stammt aus dem Magazin „Merian – Venedig“, das im Zeitschriften- und Buchhandel erhältlich ist. Petra Reski hat gerade ihren neuen Krimi veröffentlicht: „Bei aller Liebe“ (Hoffmann und Campe).

Reisetipps für Venedig

ANKOMMEN

Ryanair und Easyjet fliegen von Schönefeld täglich, ab 70 Euro ohne aufgegebenes Gepäck.

HERUMKOMMEN

Verschonen Sie diesmal die Lagunenstadt und fahren Sie besser nach Padua, 40 Kilometer entfernt.

Dort gibt es Italiens größten Platz, den 88 000 Quadratmeter großen Prato della Valle aus dem 18. Jahrhundert, weniger Touristen – und viel mehr Einheimische als in Venedig.

Petra Reski

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