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In den Industrieländern boomt der Unterwäschemarkt. Im Bild das Magasin-Kaufhaus in Kopenhagen.

© imago/Dean Pictures

Unterwäsche von Calvin Klein: String und Push-up haben ausgedient

Mädchen im Park, Macker im Fitnessstudio: Alle tragen Unterwäsche von Calvin Klein. Über einen Stoff, der die Gesellschaft zusammenhält.

Im kürzlich vergangenen Sommer tauchten vier an einem Vormittag auf. Gleich morgens joggte ein junger Mann vorbei, dessen nackter, obszön durchtrainierter Oberkörper wirkte, als halte er sich stets für ein Instagram-Posting bereit, ein Eindruck, der noch dadurch verstärkt wurde, dass sein Torso in das weiß kontrastierende Bündchen einer gut sichtbaren Unterhose mündete. Auf dem Rückweg lagen dann zwei Teenie-Mädchen, die ohne Zigaretten und mit T-Shirts in die Schule gehört hätten, auf der braunen Grünfläche eines Parks, rauchten und sonnten sich in BHs. Später im Café sprach man mit einem Freund darüber, dass einem heute schon drei begegnet seien, sie das eh ständig täten, und überhaupt verbinde nichts mehr unsere Gesellschaft so sehr wie sie: die einfarbige baumwollene Unterwäsche von Calvin Klein.

„Ja, sicher“, sagte er und lachte.

„Was trägst du denn, bitte?“

„Keine Ahnung.“ Er stand auf und zog sein Hemd hoch. „Na gut“, sagte er. Auf dem Bund seiner Unterhose stand: „Calvin Klein“.

Präsident Clinton nannte seine Werbung „empörend“

Wer die 80er und frühen 90er Jahre miterlebt hat, den überrascht es nicht, dass Boxershorts, Höschen und BHs das Logo von Calvin Klein ziert. 1982 gründete der amerikanische Designer seine Unterwäschelinie, und die eindeutig zweideutigen Werbekampagnen mit den Weltstars jener Zeit machten den Namen Calvin Klein zum Synonym für Sex, eigentlich: für den Moment vor dem Sex.

Die Plakatwand mit Kleins erstem Unterwäschemodel, dem Stabhochspringer Tom Hintnaus, verursachte Staus am Times Square; für Poster des Rappers Marky Mark, heute als Schauspieler Mark Wahlberg bekannt, und Kate Moss in Calvin-Klein-Wäsche schlugen Fans die Scheiben von Werbetafeln ein. So schlau vermarktete Klein das Lebensgefühl jener Jahre – den Hedonismus, das Alles-ist-erlaubt, den Sex –, dass seine Tochter Marci in einem Interview klagte: „Jedes Mal, wenn ich mit einem Mann ins Bett gehe, sehe ich den Namen meines Vaters.“

Ja, das waren die 80er und die 90er Jahre, und im Rückblick steht für sie kaum eine Marke so wie Calvin Klein.

Für alle, die Ende der 80er Jahre oder später auf die Welt kamen, waren Calvin-Klein-Unterhosen eher etwas, das man mal bei den cooleren Vätern sah, wenn sie im Sommer den Wagen wuschen – aber es blieben halt die Unterhosen von Vätern. Vielleicht waren es das Kokain und der Alkohol, die Kleins einst todsicheren Stildetektor in dieser Zeit verwirrten. 1995 veröffentlichte sein Unternehmen einen Fernsehspot, der so weit Richtung Kinderpornografie ging, dass Präsident Clinton die Werbung „empörend“ nannte und Klein sie zurückzog.

Heute feiert das Label sein großes Comeback

In den folgenden Jahren war er in Rechtsstreits verwickelt, spekulierte mit Wertpapieren und ging fast pleite. Ein Lizenzvertrag mit dem Textilhersteller Warnaco rettete Klein, doch der Deal führte bald zu einer peinlichen Schlammschlacht. In Amerikas größter Late-Night-Show bezeichnete der Designer die von Warnaco produzierten Klein-Kleidungsstücke als hässliche Ramschware, in Outlets verschleudert. Ein Designer, der Kleidung kritisierte, obwohl sein Name darauf stand: Wahnsinn. 2003 verkaufte Klein seine angeschlagene Firma und zog sich zurück.

Und so überrascht es, dass sein Name die einstige Omnipräsenz wiedergewonnen hat. Ja, wahrscheinlich ist der Schriftzug „Calvin Klein“ heute sichtbarer denn je. Auf Instagram sammelt das Hashtag #mycalvins 600 000 Beiträge, die Stars oder Unbekannte in Calvin-Klein-Unterwäsche zeigen.

Über Justin Bieber, der auf dem Bilderonlineportal 100 Millionen Abonnenten hat, gibt es die Geschichte, dass er – ohne dafür bezahlt zu werden – Fotos von sich und seinen geliebten Calvins postete, bis er für die nächste Werbekampagne des Unterhosenherstellers posieren durfte. Als Anfang des Jahres die fünf Kardashian-Jenner-Schwestern in BHs und Höschen für Calvin Klein warben, wurde der Spot auf Youtube zum meistgesehenen Werbeclip. Ein Video, das die Leute nicht sehen mussten, sondern sehen wollten.

Bloß warum?

Ohne Körbchen, Schleifchen, Riemchen

Calvin Kleins Unterwäsche für Frauen hat in den 80er Jahren seine Assistentin Kelly Rector erfunden.
Calvin Kleins Unterwäsche für Frauen hat in den 80er Jahren seine Assistentin Kelly Rector erfunden.

© Illustration: Irvandy Syafruddin

Models sehen in jeder Unterwäsche gut aus. Einen vernünftigen Grund für Calvin-Klein-Wäsche gibt es nicht. Sie ist meist schwarz, grau oder weiß, aus Baumwolle, und von dem Stoff setzt sich ein Gummiband mit dem Logo ab. Normale Unterwäsche, die Konkurrenten wie Hugo Boss ziemlich genau so anbieten. Und doch hat Calvin Klein diesen irren Erfolg.

Der beschränkt sich auch nicht auf die Präsenz in Social Media. Obwohl die US-Textilindustrie seit Jahren leidet, weil die Amerikaner immer weniger ihres Einkommens für Kleidung ausgeben, ist der Umsatz von Calvin Klein – und den erwirtschaftet das Unternehmen zu einem Gutteil mit Unterwäsche – 2016 in den USA um drei Prozent gewachsen, im Ausland gar um zwölf.

Ähnlich wie Reebok und Champion profitiert die Marke vom 90er-Jahre-Revival in der Mode. Große Schriftzüge, wie sie Klein einst für Unterwäsche populär machte, prangen wieder auf der Kleidung. Stars wie Lady Gaga und Nicki Minaj wärmten zudem einen anderen Trend jener Jahre auf: Unterwäsche als Oberbekleidung. Von den Konzertbühnen dringt die Botschaft in die Welt, dass es ausreicht, einen BH als Oberteil zu tragen. Kim Kardashian beweist, dass eine Korsage auch im Alltag ganz gut aussieht. Unterwäsche ist mehr als Unterwäsche, nämlich ein Kleidungsstück, um gesehen zu werden. Dafür steht Calvin Klein seit seiner Gründung.

Die Ikone des Calvin Kleins der Gegenwart ist der BH

In den Industrieländern boomt noch aus anderen Gründen der Unterwäschemarkt: Viele Konsumenten nehmen so schnell zu, dass sie ständig größere Modelle brauchen, heißt es in der Marktanalyse eines Beratungsunternehmens; zugleich machen andere so oft Sport, dass sie ihre Wäsche zwei Mal am Tag wechseln. Mit Raf Simons hat Calvin Klein seit zwei Jahren einen der bekanntesten Modemacher der Welt als Chefdesigner. Ihm ist der scheinbare Widerspruch geglückt, das Image der Marke aus den 90er Jahren beizubehalten und es gleichzeitig ins Gegenteil zu verkehren: Mit raffinierten Marketingkampagnen hat er es perfekt dem Zeitgeist angepasst. Der bisexuelle Klein bewarb seine Unterwäsche früher mit hypermaskulinen Athleten, Männern wie Hintnaus und Wahlberg. Dieses Männlichkeitsideal verkörpert Calvin Klein bis heute, indem die Marke Kraftprotze wie den Oscar-Gewinner Mahershala Ali zu ihren Models macht. Vor allem hat Raf Simons jedoch erkannt, dass vielen Teenagern Männlichkeit als Konzept heute egal ist.

Die Ikone des Calvin Kleins der Gegenwart sind deshalb auch nicht die Boxershorts, es ist der BH. Ein einfaches Bustier, ohne Körbchen, Schleifchen, Riemchen, Steinchen und andere Verniedlichungen. Reality-TV-Star Khloé Kardashian trug es auf dem Foto, mit dem sie letztes Jahr ihre Schwangerschaft verkündete; das Supermodel Gigi Hadid räkelte sich mit ihm im Bett; und die bisexuelle Rapperin Princess Nokia sang über all die Frauen mit kleinen Brüsten und kleinen Bäuchen und machte mit dem Video zu ihrer Hymne „Tomboy“ das Tragen des Kleidungsstücks endgültig zu dem, was es schon immer sein sollte: einem Akt der Emanzipation.

Calvin Kleins Unterwäsche für Frauen hat in den 80er Jahren nicht der Designer selbst erfunden. Seine Assistentin Kelly Rector, die er bald darauf heiratete, schlug ihm vor, seine Männerschlüpfer als Frauenhöschen zu verkaufen. Irgendwie sei es sexy, die Unterwäsche des Freundes zu tragen, meinte Rector, und ganz sicher viel bequemer. Im Zeitalter von „Baywatch“ und des Strings war Komfort aber nicht das allerwichtigste Kriterium für Frauenunterwäsche.

Reizwäsche gilt nicht mehr als Symbol der Selbstermächtigung

Erst in den letzten Jahren haben immer mehr Frauen immer weniger Lust, in unbequemer Wäsche herumzulaufen. Im ersten Quartal 2017 brach in den USA und Europa der Absatz mit gepolsterten BHs wie Push-ups um 50 Prozent ein, während der mit funktionalen Modellen wie Bustiers und Sport-BHs um 120 Prozent stieg. Sogar Victoria’s Secret, der Inbegriff extravaganter Unterwäsche, brachte kürzlich eine Kollektion heraus, die in ihrer Schlichtheit nicht zufällig den Modellen von Calvin Klein ähnelte.

Die Marke ist dabei schon wieder viel weiter. Vor allem junge Frauen sehen Reizwäsche nicht als Symbol der Stärke, und sie zu tragen, ist für sie kein Akt der Selbstermächtigung, als den es einst Stars wie Madonna inszenierten. Wer heute String und Push-up trägt, beweist seine Fremdbestimmtheit, das Gefälligsein für ein patriarchales System.

Mit jeder Kollektion werden Calvin Kleins Bustiers daher noch ein bisschen bequemer, und die Frauenhöschen nähern sich immer weiter den Männershorts an: Diese werden noch kürzer, die Höschen immer länger. In den 80er Jahren versprach Calvin Kleins Unterwäsche ihren Trägern, sexy sein zu dürfen. 2018 verspricht sie vor allem Trägerinnen das Recht, nicht mehr sexy sein zu müssen. Wer sich dieses Recht nimmt, gibt sich Macht – und wird umso mehr begehrt.

Ganz sicher wird es nicht mehr lang dauern, bis Männer ihre Freundin fragen: Darf ich mal dein Höschen tragen? Es ist wahnsinnig bequem. Und irgendwie sexy.

Florentin Schumacher

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