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"Unser Sohn starb, als er eine Woche alt war" Wie eine Mutter mit der Trauer umgeht

© Getty Images/iStockphoto · Tagesspiegel

„Unser Sohn starb, als er eine Woche alt war“: Wie eine Mutter mit der Trauer um ihr Kind lebt

Wenn ich gefragt werde, wie viele Kinder ich habe, sage ich: zwei. Ein lebendes und ein totes. Doch die Menschen sprechen nicht gern über den Tod.

Es dauert lange, bis sein Herz stillsteht. Länger als eine Stunde. Ob wir ihn halten wollen, hat der Arzt gefragt, und uns vorgewarnt: Es wird nicht schnell gehen, dieses Sterben. Er erklärte, dass die Seufzer, die wir hören werden, kein Atmen sind, kein Ringen um Luft, sondern ein Reflex. Vielleicht macht es Angst, zu sterben. Selbst wenn er, der in unseren Armen liegt, noch keine Ahnung hat, was sich fürchten überhaupt heißt.

Wir sitzen still wie Statuen. Mit jedem Seufzer, der dem kleinen Körper entweicht, scheint er noch winziger zu werden, noch leichter. Mit jedem Seufzer stirbt unser Sohn, er ist eine Woche alt.

Wenn ich heute gefragt werde, wie viele Kinder ich habe, sage ich immer: zwei. Ein lebendes und ein totes. Ich bringe es nicht übers Herz, meinen ersten Sohn zu verleugnen – und hoffe doch oft, dass keine Nachfragen kommen. Wie alt sind die Kinder denn? Dann sind die meisten erschrocken. Die Menschen sprechen nicht gern über den Tod, über tote Kinder schon gar nicht.

Die Ärztin geht, wir bleiben verwundert zurück: Ist das normal?

Statistisch gesehen sterben in Deutschland von 1000 lebend geborenen Kindern etwa 3,3. Männliche Säuglinge sind häufiger betroffen als weibliche. Im Jahr 2015, als unser Sohn geboren wurde, starben 2405 Kinder vor ihrem ersten Lebensjahr, 1352 innerhalb der ersten sieben Lebenstage.

Als er geboren wird, um 23.59 Uhr in einer Juninacht, ertönt kein Schrei, nichts, Stille. Die Ärztin schlägt ihn in ein grünes Tuch und eilt aus dem Zimmer. Wir bleiben zurück. Erschöpft und verwundert: Ist das normal?

Ist es nicht. „Sie müssen jetzt stark sein“, sagt der Oberarzt, der kurz darauf den Kreißsaal betritt. Und ich denke noch, so einen Satz, den sagen Menschen nur in schlechten Filmen. Bis ich verstehe: Er meint es so. „Es kann sein, dass Ihr Kind stirbt.“ Die Ärzte der Kinderintensivstation kümmerten sich, täten alles Mögliche. Er spricht von Kreislaufzusammenbruch, Herzstillstand.

Das muss ein Irrtum sein

In meiner Erinnerung sagen wir: Okay. Haben wir wirklich okay gesagt?

Er geht. Wir warten. Allein im Kreißsaal mit dem gedimmten Licht für die ersten Minuten eines neuen Lebens, für all das Gekuschel, das normalerweise in diesen ersten Minuten nach einer Geburt stattfindet. Nebenan stirbt unser Kind? Das muss ein Irrtum sein.

20 Minuten reanimieren die Kinderärzte unseren Sohn. 20 Minuten sind eine Ewigkeit. Der Oberarzt kommt, geht – und nimmt meinen Mann mit.

In all den Berichten, die ich in den Monaten nach dieser Juninacht lesen werde, um meine dringendste Frage zu beantworten – warum? –, taucht ein Satz immer wieder auf: Die Geburt ist der gefährlichste Moment im Leben. Weil dieser verrückte und wundersame Vorgang verhältnismäßig undurchschaubar ist. Was genau zum Beispiel Wehen auslöst? Man weiß es bis heute nicht sicher.

Katastrophen waren immer etwas, was anderen passiert

Bei einem meiner ersten Treffen mit meiner Hebamme hatte sie das Modell eines weiblichen Beckens hervorgeholt und mir mithilfe einer Puppe demonstriert, welchen Weg ein Baby in die Welt nimmt. Das sah strapaziös aus, aber nicht lebensgefährlich. Ich hatte Vertrauen – in mich, mein Kind und am Ende auch in die moderne Medizin, die mich in einem Krankenhaus umgeben würde. Eine Schwangerschaft endete in meiner Welt mit einem zerknautschten Neugeborenen in den Armen. Dabei wusste ich natürlich, dass es auch anders sein kann.

Als ich mir zu Beginn der Schwangerschaft ein Buch kaufte, um über alle Entwicklungsschritte meines Kindes informiert zu sein, wählte ich extra eines, das auch ein Kapitel zum Thema Fehlgeburt enthielt. Ich wollte keine mögliche Katastrophe ausklammern, ich dachte nur nicht, dass ich eine erleben würde. Katastrophen waren immer etwas gewesen, was anderen passierte.

An Tränen kann ich mich nicht erinnern. Nicht in dieser Nacht im Kreißsaal. Doch das Gefühl der Hilflosigkeit, unbeweglich noch immer im blutverschmierten Nachthemd, halb sitzend, halb liegend auf dem Gebärbett, das vergesse ich nicht.

Die Koordinaten des Baby-Universums

Die Hebammenschülerin, die bei der Geburt dabei gewesen ist, kommt und bringt mir einen Früchtetee mit Traubenzucker. Sie lächelt und ich denke, dass alles gut wird. Im Rollstuhl fährt mich jemand zu meinem Kind. Da ist es bereits weit nach Mitternacht.

Umringt von Ärzten liegt er auf einem Behandlungstisch, ein Beatmungsschlauch führt in seine Nase, Elektroden kleben an seinem Kopf, sie messen Hirnströme, ein Zugang führt zur Nabelarterie, eine Klammer steckt an seinem Fuß – sie misst die Sauerstoffsättigung in seinem Blut. Er sieht aus, als ob er schläft. Seine kleine Brust hebt und senkt sich, ich gebe ihm einen Kuss auf die Wange. Irgendwer reicht uns eine Faltkarte, darin ein Foto von ihm. Es ist so schnell gemacht, ausgedruckt und hineingeklebt worden, dass darauf die Fingerabdrücke der Person verewigt sind, die es zu früh aus dem Drucker gezogen hat. „Wir wünschen dir ganz viel Glück im Leben“, haben die Ärzte und Hebammen neben das Foto geschrieben. Dazu die Koordinaten des Baby-Universums: 23.59 Uhr, 3050 Gramm, 50 Zentimeter. Es ist das einzige Foto meines Sohnes, das ich nach der Geburt nur noch ein Mal angesehen habe. Um festzustellen, dass ich es nicht ansehen kann.

Es gibt kein Recht auf Glück

Im Geburtsprotokoll ist gegen kurz nach ein Uhr vermerkt: Frau und Mann waren beim Kind, wirken gefasst. Wir haben das später oft gehört: Ihr seid so gefasst. Tatsächlich so oft, dass ich nachgeschlagen habe, was das genau bedeuten soll. Gefasst, Adjektiv, trotz starker seelischer Belastung ruhig und beherrscht. Ich konnte damit nie etwas anfangen. Ich habe damals jede Fassung verloren, im wahrsten Sinn, jeden Halt und jede Gewissheit. Es gibt kein Recht auf Glück, das habe ich verstanden. Manche Dinge hat man nicht in der Hand, auch das.

Bereits nach zehn Minuten der absoluten Sauerstoffunterversorgung, so heißt es, ist bei einem Kind mit bleibenden Schäden zu rechnen. Allerdings ist bei einem Baby nur schwer festzustellen, wie gravierend der Schaden ist. Anders als bei erwachsenen Unfallopfern, die irgendwann aus der Bewusstlosigkeit erwachen und merken, dass sie etwas nicht mehr können, sprechen zum Beispiel. Beim Säugling geben allein seine Reflexe Anhaltspunkte. Schluckt er? Atmet er selbstständig? „Am Ende“, sagt ein Pfleger, „sieht man es erst mit der Zeit. Manche Kinder fahren irgendwann Fahrrad, andere nicht.“

Unser Sohn wacht gar nicht erst auf.

Niemand hatte etwas von dem Stress bemerkt, den mein Kind in dieser Nacht hatte

Das Kardiotokogramm, kurz CTG, das während der Geburt dauerhaft um meinen Bauch geschnallt die Herztöne meines Sohnes aufzeichnete, zeigte keine Auffälligkeiten. Eine lokale Betäubung, eine Periduralanästhesie, hatte ich nicht. Ich fühlte mich gut betreut, zu keinem Zeitpunkt hatte ich Anlass, zu glauben: Etwas ist nicht in Ordnung. Den hatte auch niemand anders. Niemand hat etwas von dem Stress bemerkt, den mein Kind in dieser Nacht, in meinem Bauch, hatte.

Um 23.25 Uhr bekomme ich eine Infusion mit Oxytocin, denn meine Wehen sind kurz und das Hormon, auch bekannt als Wehenauslöser und -verstärker, soll helfen.

Um 23.55 Uhr wird im Geburtsprotokoll notiert: Frau ist sehr erschöpft.

Um 23.59 Uhr: Kind schwer deprimiert. Was in unserem Fall bedeutet: im Grunde tot.

In einem Zimmer der Geburtsstation werden für uns zwei Betten zusammengeschoben. Wir sollen nicht zu weit entfernt sein müssen von unserem Kind. Wir fallen in erschöpften Schlaf. Am Ende bleiben wir vier Nächte im Krankenhaus, die uns niemand in Rechnung stellt.

Keiner Hebamme und keinem Arzt habe ich je die Schuld gegeben an dem, was passiert ist. Aber wie kann es sein, dass ich nichts gemerkt habe? Neun Monate lang habe ich das Kind unter meinem Herzen getragen, ich habe jeden Schluckauf registriert, jeden Kick und jede Drehung. Ausgerechnet als er mich braucht, bekomme ich davon nichts mit.

"Freuen Sie sich, ihr Kind kommt bald"

Schuld ist das erste Gefühl, das ich früh am nächsten Morgen spüre. Da habe ich unter Tränen meiner Mutter am Telefon zu erklären versucht, was geschehen ist, und meine Frauenärztin informiert. Ich fühle mich, als hätte ich versagt. Etwas, das Millionen Frauen problemlos schaffen – ein gesundes Kind zur Welt bringen –, war mir völlig misslungen. Hatte ich nicht in den Stunden, als die Wehen heftiger wurden, kurz über einen Kaiserschnitt nachgedacht? Mit großer Wahrscheinlichkeit hätte der meinen Sohn gerettet. Vorbei. Ich fühle mich sehr, sehr schuldig. Dass das Quatsch ist, verstehe ich erst viel später. Was hätte ich merken sollen unter der Geburt, als ich selbst dachte, ich überlebe das hier nicht! Was hätte ich überhaupt merken können?

Die Schwangerschaft war problemlos gewesen, die einzige Sorge meiner Ärztin, dass ich zu viel zunehmen könnte. Gegen Ende prognostiziert sie mir eine eventuell frühere Geburt – und so kommt es dann auch. Drei Wochen vor dem errechneten Termin platzt etwa um 4 Uhr morgens die Fruchtblase. „Freuen Sie sich“, sagt mir die Hebamme im Kreißsaal, als ich nervös anrufe und frage, was ich nun tun solle. „Ihr Kind kommt bald.“

Er sieht bezaubernd aus, trotz allem

Weil keine Wehen einsetzen, soll die Geburt eingeleitet werden. Ich unterschreibe einen Zettel, auf dem sinngemäß steht, dass das Mittel, das ich zu diesem Zweck schlucken werde, kein dafür zugelassenes ist und ich damit einverstanden bin. Ein sogenannter Off-Label-Use. Es handelt sich um Cytotec, ein Medikament, mit dem Magengeschwüre behandelt werden und das den Wirkstoff Misoprostol enthält. Das ist ein Prostaglandin, eine hormonell wirksame Verbindung, die unter anderem Wehen auslösen kann. Die Methode gilt als modern und schonend. Sie wird auch für Abtreibungen genutzt.

Um neun Uhr am nächsten Morgen stehen wir in der Kinderintensivstation am Bett unseres Sohnes, der klein und blass vor uns liegt, entschlossener Gesichtsausdruck, die Hände zu Fäusten geballt, völlig verkabelt. Ein Schlauch führt in sein rechtes Nasenloch (für die Beatmung), ein etwas dünnerer in das linke (die Magensonde). Sie sind mit braunen Pflasterstreifen fixiert, sodass seine Nase nicht zu erkennen ist. Er sieht bezaubernd aus, trotz allem.

Sie kühlen den Jungen, um Schäden im Gehirn einzudämmen

Wir starren auf Bildschirme und lesen Kurven, die uns nichts sagen. Nur der Name des Medikaments, das in seinen kleinen Körper tropft, den erkennen wir: Morphium. Sie kühlen ihn. Für 72 Stunden, während draußen, hinter den Jalousien, Sommerhitze herrscht. Damit mögliche Schäden im Gehirn eingedämmt werden können, haben sie uns gesagt. Nach 72 Stunden wärmen sie ihn wieder auf, dann muss sich zeigen, was sein kleiner Körper leisten kann. Es klingt entsetzlich: aufwärmen. Es ist entsetzlich.

Ein Arzt erklärt uns, dass unser Sohn einen massiven Sauerstoffmangel während der Geburt erlitten hat, irgendwann in der letzten Dreiviertelstunde, vielleicht sogar die ganze Dreiviertelstunde lang. Wir verstehen nicht. Er sagt: Entweder Ihr Kind ist extrem schwer behindert – oder es stirbt.

Ich sitze an seinem Bett und verspreche ihm das Leben, verspreche, dass ich ihn tragen werde, wenn er nicht laufen kann. Erkläre, dass es nicht schlimm ist, wenn er nicht wird sehen können, weil so viel Wesentliches mit Augen allein gar nicht wahrnehmbar ist; dass wir uns auch ohne Worte verstehen werden, falls er niemals sprechen kann. Ich gehe mit dir zur Physiotherapie, kleiner Mann, zur Ergotherapie, zur Logopädie, zum therapeutischen Reiten, zum Delfinschwimmen und zur Musiktherapie. Ich überlege so lange, bis mir keine Therapien mehr einfallen.

"Das schaffe ich nicht"

Ich sitze an seinem Bett und entwerfe im Kopf Todesanzeigen. Welche Farbe für die Karte? Zum Aufklappen oder einfach? Mit Foto oder ohne? Und was soll darauf stehen? Ich halte seine kleine Hand und entschuldige mich still. Seine Brust hebt sich im Rhythmus des Beatmungsgeräts. Wenn ich meinen Zeigefinger in seine Faust stecke, hält er ihn fest. Merkt er, dass ich da bin?

„Das schaffe ich nicht“, habe ich unter Tränen dem Kinderarzt gesagt.

Schaffen wir das, wenn er nicht laufen kann?, frage ich meinen Mann.

Das schaffen wir.

Wenn er nichts sehen kann?

Schaffen wir.

Wenn er nicht schlucken und also nichts essen kann?

Auch das.

Wenn er nichts hören kann?

Schaffen wir.

Wenn wir niemals wissen, ob er spürt, dass wir ihn umarmen, küssen und streicheln?

Wir weinen. Schaffen wir das? Schafft er das? Sollte er es schaffen?

Bekannte schicken SMS

Wir haben während der Schwangerschaft über Behinderung gesprochen. Spätestens als auch bei uns die Frage anstand: Pränataldiagnostik oder nicht? Die Definition für ein „lebenswertes“ Leben fiel uns fast leicht: Lachen, Freunde, Freude. In der Woche während unser Kind auf der Intensivstation liegt, verschieben wir die Grenze immer weiter – bis zum Luftholen, zum eigenständigen Atmen. Schafft er das, dann kann er den Rest uns überlassen.

Wir dürfen unseren Sohn wickeln, ganz vorsichtig. Wir dürfen ihn sogar mal im Arm halten, inklusive aller Kabel und nur nachdem wir versprochen haben, ihn wirklich lange halten zu wollen – der Aufwand, ihn aus dem Bett zu heben und auf einem Kissen in einem Arm zu drapieren, ist so groß. Als unser Sohn „aufgewärmt“ ist, ziehen wir ihm einen Body an – so gut es mit all den Kabeln geht –, auf dem ein Löwe abgebildet ist. Eine Freundin, die wir informiert haben, sagt allen engen Bekannten Bescheid. Täglich schicken sie uns SMS und „positive Energie“, ich beginne Milch abzupumpen und hoffe, dass sie wirkt wie ein Zaubertrank.

In dieser Woche sind wir ständig auf der Intensivstation, in diesen ruhigen, abgedunkelten Räumen, in denen Zeit so eine wichtige Rolle spielt, weil ihr Vergehen bedeutet, dass die vielen Frühchen wieder ein paar Tage geschafft haben; in denen Zeit andererseits irgendwie stehen zu bleiben scheint. Jedenfalls für uns. Wenn wir abends auf die Straße vor das Krankenhaus treten, wundere ich mich manchmal über die Helligkeit, die Geschwindigkeit der vielen Autos und Busse, überhaupt darüber, dass die Welt nicht stehen geblieben ist vor Schreck. Oft habe ich das Gefühl, es bin gar nicht ich, die das alles erlebt, sondern irgendwer anders, so unwirklich erscheint es mir. Dabei erinnern mich Schmerzen ständig daran, dass ich gerade ein Kind bekommen habe. Mir tut alles weh, laufen, sitzen, stehen.

Er schafft es nicht.

Normalität auf der Intensivstation

Die Untersuchung am Morgen, eine Woche nach der Geburt, ergibt: Unser Sohn wird nicht leben können. Wir sind früh aufgestanden, um dabei zu sein, und sitzen vor der geschlossenen Tür des Untersuchungsraumes, in dem unser Kind in einer Röhre liegt und durchleuchtet wird. Wir sitzen da wie ganz normale, besorgte Eltern und trinken wässrigen Kaffee aus braunen Plastikbechern. Es ist das Normalste, was wir seit Tagen machen, und ich wünsche mir, dass sich die Tür nicht mehr öffnet, weil dann, so oder so, nichts mehr normal sein wird.

Schweigend laufen wir hinter den beiden Pflegerinnen her, die unseren Sohn in seinem Bett zurück auf die Station schieben, unten herum, durch die Katakomben der Klinik. Beton, Leuchtstoffröhren, ein Mann, der den Boden reinigt – und neugierig ins Bettchen schaut, in dem, klein und zart, unser Baby liegt. Es sieht so erschöpft aus. Oder bilden wir uns das ein, weil wir es sind?

Die Ärzte auf der Intensivstation warten darauf, was die Neurologen zu den Untersuchungsergebnissen sagen. Wir warten auf die Übersetzung durch den Oberarzt. Eine Stunde, zwei Stunden.

Wir liegen rum, dösen und weinen

Am Morgen habe ich eine große Tasche gepackt, fast so, als gingen wir zum Strand. Mit einer Decke darin, mit Essen und Trinken. Weil das Wetter so schön ist, breiten wir die Decke auf dem Rasen im kleinen Park auf dem Klinikgelände aus. Da liegen wir rum, dösen und weinen.

Alles, was im normalen Krankenzimmer nicht zu besprechen ist, wofür ein Raum benötigt wird mit einer Tür, die verschlossen ist, kann nichts Gutes sein. Wir wissen es ja schon.

„Aus ethischen und moralischen Gründen können wir Ihnen nur dazu raten, die Beatmung abzustellen“, sagt der Arzt mit leiser Stimme. Er sagt, das Stammhirn unseres Sohnes sei zerstört. Zerstört durch die ewig langen Minuten ohne Sauerstoff. Unwiederbringlich. Ich bekomme keine Luft mehr. Auch ich kann nicht atmen, das ist nur gerecht, denke ich.

Was hat die Ethikdebatte mit meinem Leben zu tun? Auf einmal alles.

Wir klären das Prozedere. Gestorben wird, wenn wir es sagen. Am Abend bitte. Er bekommt ja noch Besuch. Meine Eltern und mein jüngerer Bruder sind unterwegs, zwei meiner Schwägerinnen waren schon da und auch ein Cousin meines Mannes. Ich kann ihnen allen nicht genug danken für ihren Mut, dass sie meinen Sohn begrüßt und verabschiedet haben. So war er nicht nur Teil von uns, sondern von unserer Familie.

"Es wird leichter mit der Zeit", sagt ein Pfleger, "besser wird es nicht."

Die Pflegerinnen kniepeln ihm das Klebeband von der Nase, sie ziehen die Magensonde und andere Schläuche, zuletzt den für die Beatmung. Sie heben das Kind aus dem Bett und legen es mir in den Arm, mein Mann sitzt rechts neben mir. Das Morphium stellen sie ihm nicht ab, damit er keine Schmerzen spürt, falls er welche hat.

Er tut mir so leid.

Als er gestorben ist, waschen wir ihn, wir ziehen ihn an, wir knuddeln ihn. „Es wird leichter mit der Zeit“, sagt der Pfleger, der uns dabei begleitet, und nimmt uns zum Abschied in den Arm. „Besser wird es nicht.“

Wir fahren nach Hause und stellen die Babyschale unbenutzt in die Ecke. Was jetzt?

Die Traurigkeit legt sich wie eine schwere Decke über alles. In einer Art Tagebuch, das ich zu der Zeit schreibe, notiere ich, dass meine Schultern schmerzen, als läge Gewicht darauf. Ich schreibe, wie schlimm das Aufwachen morgens ist, weil nur dieser eine Gedanke im Kopf liegt: Mein Kind ist tot. Meine Trauer manifestiert sich später in vielen Ängsten: in Flugangst, Verlustangst, Angst vor Menschenmengen und kleinen Räumen, Angst vor Geschwindigkeit.

Musik zu hören, wird unerträglich

Nachts wache ich auf, weil ich glaube, die Tritte meines Sohnes im Bauch zu spüren. Ich kann nicht mehr telefonieren und schalte mein Handy aus. Musik zu hören, was ich sonst liebe, wird mir unerträglich. Ich habe keinen Hunger. Ich trage dieselben Klamotten tagelang. Ich mache einen Termin mit einer Trauerbegleiterin und sage ihn wieder ab.

Jeder, der uns sieht, weint. Manche noch bevor sie überhaupt „Hallo“ sagen. Ich werde Expertin im Trösten. Wenn jemand vor mir steht mit diesem Glanz in den Augen, kann ich selber keine Träne mehr verdrücken. „Wir weinen gerne mit dir“, hat mir eine Freundin geschrieben. Aber das funktioniert nicht. Ich bin kein Gesellschaftsweiner. Entweder ich – oder die anderen. Meistens die anderen. Und dann tröste ich. „Du bist so stark“, sagen die dann. Ich bin nicht stark, ich weiß nur keine Alternative.

Die Beerdigung findet an einem Donnerstag statt

An einem Abend stellt eine Freundin ein großes Paket vor die Tür. Wann genau das war, kann ich heute nicht mehr sagen. In den Wochen nach dem Tod meines Sohnes verliere ich mein Zeitgefühl. Die Tage vergehen, aber mit mir hat das nichts zu tun. In dem Paket sind eine Quiche, ein Schraubglas mit kleinen Tomaten, Gebäck, Salat. Diesmal weine ich vor Rührung. Und dann essen wir.

Die Beerdigung findet an einem Donnerstag statt. Es ist der einzige Tag in diesem Juli, an dem es regnet, so habe ich es damals notiert. Der Himmel ist grau und wolkenverhangen und es ist so kalt, dass ich eine dicke schwarze Strumpfhose anziehe. Ich binde mir die Haare zum Zopf. Das Schminken habe ich mir abgewöhnt. Damals schreibe ich auf: In Gedanken habe ich schon mehrfach einen Brief an die Kosmetikfirma entworfen. Sehr geehrte Damen und Herren, Ihre Wimperntusche in Schwarz brennt in Kombination mit Tränenflüssigkeit in den Augen, deren Lider rot werden und jucken, wenn besagte Tusche nicht sofort abgewischt wird. Unter diesen Umständen halte ich den Verkaufspreis von rund 15 Euro für nicht gerechtfertigt.

Wir sind viel zu früh fertig und stehen unentschlossen im Flur, auf dem Balkon – und setzen uns doch noch einmal in die Küche. Bis mein Mann „wollen wir?“ fragt und ich nicke. Er sieht müde aus, die Anstrengung der vergangenen Wochen hat ihm tiefdunkle Ringe unter die Augen gemalt. Müde und schick, im schwarzen Anzug, mit Krawatte. „Viele Paare mögen es heutzutage, Blütenblätter mitzubringen“, hat die Bestatterin Tage zuvor zu uns gesagt. „Besorgen Sie sich doch welche, zur Dekoration.“

Mich macht alles so wütend, dass ich jeden, der mir begegnet, boxen möchte. Inklusive der Bestatterin, die ja auch nur ihren Job macht; die es wagte, sich mit einem Katalog voller Kindersargbilder an unseren Esstisch zu setzen und sinngemäß zu fragen: Was stellen Sie sich vor? Wir wollten keine Blütenblätter und besorgen am Ende doch welche, weil wir denken, es muss so sein.

Mein Mann greift auf den Küchenschrank, wo unsere Salatschüssel steht. Sie ist aus Glas, groß und schwer. Rosenblütenblättersalat. Die Floristin im Laden um die Ecke rupft routiniert einen Strauß Rosen für uns kahl, zwei langstielige weiße kaufen wir noch dazu. Sie ist ganz betroffen – und plötzlich haben wir es überhaupt nicht mehr eilig.

Es kommen keine Gäste, wir wollten keine

Ich durchwühle meine Tasche nach Teelichtern und dem kleinen Windlicht, das ich gestern noch gekauft habe. „Viele Paare“, hatte die Bestatterin gesagt, „bringen eine kleine Kerze mit. Am besten Sie kaufen eine Laterne, dann geht die Flamme nicht sofort aus.“ Doch ich habe nur dieses kleine Windlicht und natürlich wird die Flamme ausgehen, besonders bei diesem Wetter. Wir haben auch keine Gäste, wollten keine haben.

„Trauer macht müde“, sagt die Bestatterin und müde ist gar kein Ausdruck für das, was ich bin. Ich bin erschöpft und gleichzeitig unruhig. Vor allem aber aggressiv. Am Tag vor der Beerdigung, mitten in Kreuzberg, habe ich beinahe einen Mann angefahren, der langsam die Straße überquerte. Ich war so sauer auf ihn, dass ich weiterfuhr, ganz langsam, bis er mit seinen Händen auf die Motorhaube schlug.

Ein schlichtes Modell aus hellem Holz

Die Bestatterin erwartet uns schon, sie steht auf den Treppen der Friedhofskapelle. Unsere Leiche kommt durch den anderen Eingang. Die Kapelle bucht man automatisch mit, 15 Minuten Andacht, 50 Euro, das gehört zum Paket dazu. Wir sind unsicher: Müssen wir nun 15 Minuten stehen bleiben? Wir stellen die Salatschüssel auf einem der Stühle ab und dann stehen wir dort tatsächlich 15 Minuten, starren auf den kleinen Sarg (wir haben uns für ein schlichtes Modell aus hellem Holz entschieden) und das flackernde Windlicht davor und sind fast überrascht, als der Friedhofsgräber plötzlich im Seiteneingang steht, schwarze Schirmmütze über weißem Bart, und uns ohne Worte zu verstehen gibt: Das war’s.

Mein Mann trägt den Sarg den ganzen langen, schmalen Pfad hinauf zum Grab, Schritt um Schritt. Ich gehe hinter ihm, die verdammten Blütenblätter vor dem noch immer sichtbaren Babybauch, in der Salatschüssel, die dem Anlass so wenig angemessen ist. So wie ich. Ich bin auch nicht angemessen. Das alles hier ist nicht angemessen. So funktioniert das Leben nicht.

Manchmal gibt es keine Antwort

Nächtelang habe ich in diesem Sommer gegoogelt, ob das Medikament zur Geburtseinleitung, ob der Wehentropf, ob beides möglicherweise das Problem gewesen sein könnten. Ich las von Fällen einer Überstimulation der Gebärmutter, von Wehenstürmen und von vielem, was ich gar nicht verstand. Im Regal lag unterdessen die Mappe mit dem Geburtsprotokoll und seitenweise Aufzeichnungen des CTGs, aus denen ich wieder und wieder herauszulesen versuchte, wo ein Fehler hätte sein können. Knapp drei Wochen nach der Geburt haben wir einen Termin im Krankenhaus – um mit den Ärzten noch mal über alles zu sprechen. Keiner der drei anwesenden kann uns sagen, was passiert ist. Ich beginne zu verstehen, dass es auf die Frage Warum? manchmal keine Antwort geben kann.

Dann machen wir Witze

Ich kann nicht mehr schlafen, ab 1 Uhr liege ich jede Nacht wach. Ich mache einen weiteren Termin mit einer anderen Trauerbegleiterin – und dieses Mal sage ich ihn nicht ab.

Wir zählen unsere Toten: drei Großmütter, vier Großväter, Tante, Großtante, ein guter Freund, die kleine Tochter meiner Freundin, der kleine Sohn von Freunden, noch ein Freund, ein ehemaliger Klassenkamerad, ein Onkel, noch eine Tante. Dann machen wir Witze, was alle zusammen erleben könnten, mit unserem Sohn.

Wir beschließen, die Wickelkommode in der Zimmerecke nicht abzubauen, sondern stehen zu lassen.

Ein halbes Jahr nach seiner Geburt, im Dezember, besuche ich meinen Sohn auf dem Friedhof, als mich von hinten eine Frau anspricht. Sie erzählt, dass sie acht Kinder hat. Ihr Ältester ist Vater von einem Sohn geworden, der dort hinten begraben liegt. Sie zeigt mir ein Foto vom Baby. Ich zeige ihr auch eines und hoffe, dass sie mich dann alleine lässt. Doch sie bleibt und schweigt kurz und geht nicht.

„Was machst du mit dem Namen von deinem Kind?“, fragt sie mich, und ich verstehe nicht, was sie meint.

„Wirst du ihn noch einmal benutzen?“

Den Namen?

„Ja“, sagt sie. „Darf man das?“

Und ich verstehe noch immer nicht, bis sie erklärt: Der Enkel trug den Namen ihres Mannes, seines Großvaters, eine Familientradition. Nun ist der Enkel tot.

Neun Monate später wird sein Bruder geboren

Plötzlich muss ich lachen. Was für ein Pragmatismus, welch irdisches Problem. Nein, sage ich ihr, mein Sohn trägt seinen Namen, weil er für ihn bestimmt war. Aber natürlich, warum soll das nicht gehen, den Namen dem nächsten Kind wieder zu geben. Sie verabschiedet sich und ich bleibe lächelnd am Grab zurück.

Zum ersten Mal seit seinem Tod wünsche ich mir wieder ein Kind. Glaube ich nicht mehr, dass es Verrat an ihm ist. Auf dem schmalen Weg hinunter zum Ausgang des Friedhofs überlege ich mir Namen für seine Geschwister.

Neun Monate später wird sein Bruder geboren. Wenn wir heute gemeinsam auf den Friedhof gehen, bringt er ihm manchmal ein Spielzeugauto mit – das er beim nächsten Besuch gegen ein anderes eintauscht. Er weiß, dass er einen Bruder hat.

Wieso das uns passiert ist, warum es überhaupt passieren musste? Die Fragen stelle ich nicht mehr. Nur eine beschäftigt mich noch immer: Wie hat er ausgesehen mit offenen Augen? Mein Mann weiß es. Er war bei ihm, als sein Herz wieder schlug, zwanzig Minuten nach der Geburt, als er kurz ankam, um sich sofort wieder zu verabschieden. Er gibt mir geduldig immer dieselbe Antwort: müde.

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