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In vielen Supermärkten müssen Gäste nun einen Einkaufswagen oder -korb nehmen, damit die Mitarbeiter einen Überblick über die Anzahl der Gäste behalten können.

© dpa

Unmut in der Corona-Krise: Warum ich einen Zettel habe, auf dem ich die Kritik für die Zukunft notiere

In der Krise läuft nicht alles perfekt, aber vieles ziemlich gut. Deswegen sind Spott und Undankbarkeit oft fehl am Platz. Eine Kolumne.

Eine Kolumne von Hatice Akyün

Ich möchte mich entschuldigen. Dafür, dass ich zu Beginn der Corona-Krise viele hart kritisiert habe, das Falsche oder nicht genug zu tun. Es hat einige schlaflose Nächte gebraucht, mir einzugestehen, dass meine Kritik nicht angebracht war.

Denn während ich in meinem kuscheligen Arbeitszimmer saß, machten ÄrztInnen, PflegerInnen, PolitikerInnen, LehrerInnen, PolizistInnen, KassiererInnen und viele andere in systemrelevanten Berufen die Arbeit. Selbstkritik und Selbstreflexion kommen in Ausnahmesituationen meistens verzögert.

Innehalten, neu bewerten

Das Innehalten führte bei mir dazu, die Dinge aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten. Zum Beispiel, dass es auch für die Polizei nicht angenehm ist, durch die Parks zu gehen und friedlich sitzende Menschen zu bitten, aufzustehen.

Auch der Supermarktangestellten wird es nicht leichtfallen, zum hundertsten Mal freundlich darauf hinzuweisen, dass ein Einkaufskorb benutzt werden muss, damit sie den Überblick über die Anzahl der Menschen im Laden behält.

Kein Traum, aber viel Einsatz

Lassen Sie mich aber damit beginnen, den Lehrerinnen und Lehrern zu danken. Seit zwei Wochen versorgen sie uns Eltern mit Lernstoff für unsere Kinder. Manche technisch hoch versiert, indem sie per Videokonferenz den Unterricht abhalten, andere mit klassischen Emails, in denen sie Arbeitsblätter und Aufgaben versenden.

Die Lehrkräfte selbst müssen Hunderte Emails und Dokumente, die sie zugeschickt bekommen, sortieren und bearbeiten. Nein, es läuft nicht alles perfekt, manches nicht einmal gut, aber warum sollte es das?

Wir alle durchleben eine Situation, die wir uns vor ein paar Wochen nicht mal im Traum hätten vorstellen können. Ich schaffe es nicht mal, Ordnung in meinen überschaubaren Mini-Alltag zu bekommen, hatte aber die Erwartungshaltung, das andere spielend ein ganzes Land organisieren sollten.

Verantwortung übernehmen und dann nur Spott ernten?

Wäre ich Gesundheitsministerin, müsste ich die Gesamtlage im Blick haben. Wäre mein Job Außenministerin, müsste ich Bürger aus allen Teilen der Welt nach Hause holen. Und als Finanzministerin wäre ich verantwortlich dafür, Geld zu verteilen. Aber würde ich es auch machen wollen?

Jeden Tag bis zur Erschöpfung arbeiten und am Ende nur Spott und Undankbarkeit ernten? Nein, dafür fehlte mir die Kraft. Es wird nicht alles richtig gemacht, aber vieles wird im Vergleich zu anderen Ländern auch nicht falsch gemacht. Wenn ich mir die Welt anschaue, bin ich gerade sehr froh darüber, Bürgerin der Bundesrepublik Deutschland zu sein.

Grautöne

Diese Krise hat keine schwarze und weiße Seite, sondern eine Palette von unendlich vielen Grautönen. Und was ich sehe ist, dass in dem Grau eine Menge Farbe steckt. Es ist nicht alles strahlend, aber dennoch einigermaßen geordnet und aufs Funktionieren ausgerichtet. Denken Sie mal einen Moment darüber nach, an wie vielen Dingen wir schon im Kleinen tagtäglich scheitern.

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Ich habe das beruhigende Gefühl, in dieser Krise gut regiert zu werden. Die entscheidende Frage für die Zukunft werden wir uns sowieso erst später stellen müssen: Waren wir eine solidarische Gemeinschaft in diesen Zeiten?

Plan für die Zeit danach

Seit gestern hängt ein Zettel in meinem Arbeitszimmer, auf dem ich notiere, was ich alles kritisieren werde, sobald wir diese Krise hinter uns haben. Ganz oben steht: Wie konnten wir es zulassen, dass unser Gesundheits- und Pflegewesen auf Gewinn ausgerichtet ist, ohne dass wir als Gesellschaft dagegen aufbegehrt haben?

Darüber wird zu reden sein. Bis dahin aber gilt zumindest für mich: Einfach mal den Mund halten, wenn man keine Ahnung hat.

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