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Nicht mehr arbeitsfähig: Im Jahr 2017 erreichten die Krankschreibungen wegen psychischer Leiden einen Höchststand.

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Update

Überlastung, Depressionen, Angststörungen: Arbeitsausfälle wegen psychischer Probleme mehr als verdreifacht

Immer mehr Arbeitnehmer wurden in den vergangenen 20 Jahren wegen psychischer Probleme krankgeschrieben, zeigt eine Studie. Frauen sind besonders betroffen.

In den vergangenen 20 Jahren hat sich die Zahl der Krankschreibungen wegen psychischer Probleme mehr als verdreifacht. Zu diesem Befund kommt eine Langzeit-Studie der Krankenkasse DAK-Gesundheit, die dafür die Daten ihrer 5,7 Millionen Versicherten seit 1997 ausgewertet hat. Allerdings ist die Zahl der Fehltage nach stetigem Anstieg im vergangenen Jahr erstmals wieder ein wenig gesunken.

Wie viele Beschäftigte melden sich wegen psychischer Störungen krank?

Im vergangenen Jahr blieb jeder 18. Arbeitnehmer mit der Diagnose einer psychischen Störung von der Arbeit fern. Hochgerechnet seien folglich bundesweit 2,2 Millionen Menschen deshalb krankgeschrieben worden, heißt es in der Studie. Seelenleiden lagen damit im vergangenen Jahr auf dem dritten Platz aller Krankheitsarten, die zu beruflichen Ausfallzeiten führten. Die Statistiker verbuchten in den vergangenen zwei Jahrzehnten einen stetigen Anstieg solcher Diagnosen. Der Höhepunkt war im Jahr 2017 erreicht, wo im Schnitt jeder Versicherte wegen psychischer Probleme für 2,5 Tage bei der Arbeit ausfiel. 1997 waren es nur 0,7 Krankheitstage.

Laut der Studie betrug die Zahl der Krankheitstage mit solcher Diagnose im vergangenen Jahr 236 pro 100 Versicherte. Das ist ein Minus von 5,6 Prozent, denn im Jahr 2017 betrug die Zahl der Ausfalltage mit dieser Diagnose noch 250. Der leichte Rückgang bedeute aber keine Trendwende, sagte ein DAK-Sprecher dem Tagesspiegel. Er sei „wohl eher auf normale Schwankungen zurückzuführen“.

Welche psychischen Leiden werden am häufigsten diagnostiziert?

Die meisten Ausfalltage in Sachen Psyche gehen auf das Konto von Depressionen. Hier kamen im vergangenen Jahr 93 Fehltage auf 100 Versicherte. Allerdings haben vor allem die sogenannten Anpassungsstörungen rapide zugenommen: Seit dem Jahr 2000 haben sich die darauf zurückzuführenden Ausfallzeiten fast verdreifacht – auf jetzt 51 Fehltage je 100 Versicherte. Es folgen neurotische Störungen (23 Fehltage) und Angststörungen (16 Fehltage).

Auch die wegen unklarer Definition umstrittene Burnout-Diagnose wird dem Report zufolge wieder häufiger gestellt. Womöglich liegt das daran, dass die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Burnout nun offiziell als ein die Gesundheit beeinflussendes Syndrom eingestuft hat. Es entstehe aufgrund von chronischem Stress am Arbeitsplatz, der nicht erfolgreich verarbeitet werde. Die Fehltage mit dieser Burnout-Diagnose beliefen sich 2018 auf 5,3 je 100 Versicherte. 2017 waren es 4,6.

Gibt es diagnostische Unterschiede hinsichtlich Geschlecht und Alter?

Ja. Frauen waren 2018 knapp doppelt so oft wegen seelischer Leiden krankgeschrieben wie ihre männlichen Kollegen. Sie kamen auf 298 Fehltage je 100 Versicherte, die Männer lagen bei 183. Mit steigendem Alter nimmt die Zahl von Ausfalltagen aufgrund der Psyche bei beiden Geschlechtern kontinuierlich zu. Am niedrigsten ist die Quote bei den sehr jungen Beschäftigten, am höchsten bei den mehr als 60-Jährigen. In dieser Altersgruppe kommen berufstätige Frauen auf 464 Ausfalltage, Männer auf 324.

In welchen Berufsgruppen sind psychische Erkrankungen besonders verbreitet?

Hier ragen vor allem zwei Berufsfelder heraus: die öffentliche Verwaltung und das Gesundheitswesen. Bei den Verwaltungsangestellten kamen auf 100 Beschäftigte 358 Fehltage wegen psychischer Probleme – ganz oben stehen hier nicht-verbeamtete Lehrer. Bei der hohen Quote im Gesundheitssektor (321 Fehltage) fallen vor allem ausgelaugte Pflegekräfte ins Gewicht.

Am wenigsten betroffen sind Beschäftigte der EDV-Branche (195) und des Nahrungs- und Genussmittelsektors (174). Ersteres könnte mit dem vergleichsweise niedrigen Alter von Computer-Spezialisten zu tun haben. Letzteres dürfte aus DAK-Sicht darauf zurückzuführen sein, dass die Bereitschaft, sich wegen der Psyche krankschreiben zu lassen, in Gastronomie und Einzelhandel womöglich geringer ausgeprägt ist.

Gibt es regionale Unterschiede?

Ja, sehr auffällige. In den süddeutschen Ländern ist die Zahl der Fehltage wegen psychischer Probleme deutlich geringer als in den Stadtstaaten oder im Osten. An der Spitze thront das Saarland, hier kamen im vergangenen Jahr auf 100 Versicherte 312 Fehltage mit entsprechender Diagnose – gefolgt von Bremen mit 281 und Berlin mit 280. Hohe Quoten haben auch die Ostländer Brandenburg (276), Mecklenburg-Vorpommern (258) und Sachsen-Anhalt (256).

Beim Schlusslicht Bayern dagegen betrug die Zahl 193. Auch Beschäftigte in Baden-Württemberg blieben mit 214 Ausfalltagen auf 100 Versicherte vergleichsweise selten wegen psychischer Probleme zuhause. Eine mögliche Erklärung ist die wirtschaftliche Situation. Im Süden der Republik ist die Arbeitslosenquote deutlich niedriger. Jedoch dürfte auch die Versorgungssituation eine wichtige Rolle spielen. Bei gutem Behandlungsangebot (und kurzen Wegen) landen Patienten schneller beim Arzt oder Psychiater – und werden dementsprechend öfter krank geschrieben.

Haben sich Fehltage mit anderer Diagnose verringert?

Tatsächlich gingen Fehltage mit anderen Diagnosen seit dem Jahr 2000 zurück. Bei Kreislauf-Erkrankungen um 30, bei Verdauungsstörungen um 14, bei Muskel-Skelett-Problemen um acht Prozent. Und Experten berichten von einer Diagnose-Verlagerung hin zu psychischen Störungen. Beispiele sind das Reizdarmsyndrom oder die berühmten Rückenschmerzen, die mitunter auch auf seelische Belastung zurückzuführen sind. Interessant ist, dass Fehltage wegen der Psyche mit dem Auftreten von Grippewellen korrelieren. In Jahren von gehäuften Grippeerkrankungen würden „eher weniger Menschen aufgrund psychischer Probleme krankgeschrieben“, bestätigt ein Kassensprecher.

Was sind die Gründe für die vielen Fehltage wegen psychischer Leiden?

Aus der Sicht der Gewerkschaften ist es vor allem die Situation am Arbeitsplatz: gestiegener Stress und Zeitdruck, Arbeitsverdichtung, ständige Erreichbarkeit und Unsicherheit durch prekäre Jobs. „Der Gesetzgeber muss endlich handeln und darf nicht weiter tatenlos zuzusehen, wie Millionen Beschäftigte durch schlechte Arbeitsbedingungen einem Gesundheitsrisiko ausgesetzt sind“, sagt Annelie Buntenbach vom DGB-Vorstand. „Bislang verweist die Bundesregierung schulterzuckend auf die Arbeitgeber.“ Die Schutzlücke im Arbeitsschutzgesetz müsse „endlich geschlossen werden mit einer wirksamen Anti-Stress-Verordnung, die eine flächendeckende und systematische Gefährdungsbeurteilung in den Betrieben und Unternehmen“ zur Folge habe.

[Mehr zum Thema: Depression – "Ich lasse mir mein Leben nicht versauen"]

„Arbeitsstress macht krank“, betont auch Jutta Krellmann, Arbeitsmarktexpertin der Linkspartei. Das dürfe „nicht heruntergespielt werden“. Nötig seien neben einer Anti-Stress-Verordnung flächendeckende Arbeitsschutzkontrollen und ein besserer Schutz von Betriebsräten. Und die Grünen-Politikerin Maria Klein-Schmeink fordert „Rahmenbedingungen, „die eine gesunde Lebensweise und Zeiten des Miteinanders ermöglichen und Arbeitsprozesse entschleunigen“. Hier seien die besonders die Arbeitgeber gefragt. Nicht hinnehmbar seien zudem Wartezeiten von mehr als drei Monaten für ein Erstgespräch beim Psychotherapeuten.

Hat sich die Zahl psychischer Störungen tatsächlich erhöht?

Der Neurologe und Psychologe Michael Linden von der Berliner Charité bestreitet das vehement. Die Quote der Betroffenen sei „über die Zeit hin und auch international sehr stabil“, sagt er. Nicht die Zahl psychischer Störungen habe zugenommen, sondern die entsprechender Diagnosen. Teils gehe das darauf zurück, dass Ärzte durch die Kassen dazu aus finanziellen Gründen angehalten würden. Teilweise sei die „Krankheitsschwelle“ nach unten verschoben worden, teils werde auch besser diagnostiziert.

DAK-Chef Andreas Storm ist ebenfalls skeptisch. Er führt die gestiegene Zahl von Fehltagen auch auf einen offeneren Umgang mit solchen Erkrankungen psychischen Problemen zurück. „Vor allem beim Arzt-Patienten-Gespräch sind psychische Probleme heutzutage kein Tabu mehr“, sagt er. Daher werde auch bei Krankschreibungen offener damit umgegangen.

Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde und die Gesetzlichen Unfallversicherung stimmen zu: Die Enttabuisierung psychischer Erkrankungen habe wesentlichen Anteil am Anstieg der Krankmeldungen. Dazu kommt ein banaler Statistik-Faktor: Mit der höheren Zahl von Beschäftigten und insbesondere von älteren Berufstätigen steigt nun mal auch die Zahl psychisch bedingter Fehltage.

Hilfsangebote

Haben Sie dunkle Gedanken? Wenn es Ihnen nicht gut geht oder Sie daran denken, sich das Leben zu nehmen, versuchen Sie, mit anderen Menschen darüber zu sprechen. Das können Freunde oder Verwandte sein. Es gibt aber auch eine Vielzahl von Hilfsangeboten, bei denen Sie sich melden können.

Die Telefonseelsorge ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr erreichbar. Die Telefonnummern sind 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222.

Weiterhin gibt es von der Telefonseelsorge das Angebot eines Hilfe-Chats. Außerdem gibt es die Möglichkeit einer E-Mail-Beratung. Die Anmeldung erfolgt – ebenfalls anonym und kostenlos – auf der Webseite. Informationen finden Sie unter: www.telefonseelsorge.de

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