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Vordenker. Bandera hat bei seinen Anhängern den Status eines Märtyrers inne. Bis heute ist sein Porträt bei Demonstrationen der ukrainischen Nationalisten allgegenwärtig.

© AFP

Stepan Bandera: Nationalist und Kollaborateur

München 1959: Der KGB tötet Stepan Bandera mit einer Ladung Blausäure. Wer der ukrainische Politiker war – und warum er bis heute verehrt wird.

Es ist ein sonniger Mittag im Oktober 1959, als Stepan Bandera sein Auto in den Innenhof seines Münchner Wohnhauses in der Kreittmayrstraße 7, Bezirk Maxvorstadt, steuert. Doch anders als sonst ist er diesmal ohne Begleitschutz unterwegs. Im Treppenhaus lauert ihm ein KGB-Agent auf, der mit einer in Zeitungspapier gewickelten Giftpistole eine Ladung Blausäure auf ihn abfeuert. Nachbarn, die den kleinen, unscheinbaren Mann nur unter seinem falschen Namen Stefan Popel kennen, finden Bandera später bewusstlos und aus dem Mund blutend auf den Stufen. Noch im Krankenwagen stirbt er.

So endete vor 60 Jahren, am 15. Oktober, das Leben des umstrittenen ukrainischen Exilpolitikers und Nationalistenführers Stepan Bandera. Für die einen war er Nazi-Kollaborateur und Kriegsverbrecher, für die andern „Held der Ukraine" und Freiheitskämpfer. Den Sowjets in Moskau galt er als Staatsfeind Nummer eins, der in Abwesenheit zum Tode verurteilt wurde und deshalb bis zu seinem Tod im Exil in Deutschland leben musste. Bis heute wird er in rechten Kreisen der Ukraine verehrt, wie am Neujahrstag, dem Geburtstag Banderas, wenn bis heute jedes Jahr Hunderte rechte Bandera-Anhänger mit Sturmhauben und brennenden Fackeln durch die ukrainische Hauptstadt Kiew marschieren, um des ukrainischen „Führers“, dem „prowydnik“, zu gedenken. Warum spielt er immer noch eine so große Rolle?

Drei Kriege erlebt er als Kind

Bandera wird 1909 im westukrainische Dorf Staryj Uhryniw, damals noch Teil der Habsburgermonarchie, geboren. Es sind düstere Zeiten. Drei Kriege erlebt Bandera bereits als Kind: Mit dem Ersten Weltkrieg bricht die alte Ordnung des Kontinents zusammen. 1919 wird Galizien, nach einer kurzen Ausrufung der Westukrainischen Volksrepublik, von den Polen eingenommen, die sich wiederum 1920 gegen die Sowjets verteidigen müssen.

Schnell begeistert sich der junge Bandera, der aus einer patriotischen Priesterfamilie der griechisch-katholischen Kirche stammt, einem Hort des ukrainischen Patriotismus, für die ukrainische Sache. Beim Studium in der galizischen Hauptstadt Lemberg schließt er sich den geheimen Zirkeln der Unabhängigkeitsbewegung an, die von den polnischen Behörden brutal unterdrückt wird. Bandera wird mehrmals inhaftiert. Das spornt den Pfarrerssohn aber nur noch weiter an: Man sagt, Bandera habe sich sogar selbst Nadeln unter die Fingernägel gerammt, um sich für Verhöre abzuhärten.

Unter Bandera wird die OUN brutaler

Bandera ist ein begnadeter, charismatischer Redner, aber auch ein radikaler Heißsporn. Schnell steigt er in der Hierarchie der OUN (Organisation Ukrainischer Nationalisten) auf. Unter Bandera wird die Organisation radikaler, brutaler, terroristisch. Sie plant Anschläge gegen die „polnischen Besatzer“. 1934 wird in Warschau der Innenminister Bronislaw Pieracki von einem OUN-Mann erschossen. Als Bandera in Warschau der Prozess gemacht wird, weigert er sich, vor Gericht die polnische Sprache zu sprechen. Spätestens jetzt wird der „prowydnik“ zur Legende unter seinen Anhängern – und schon zu Lebzeiten zu einem Märtyrer. In Galizien lassen seine Anhänger Flugblätter mit seinem Konterfei drucken: „Sterben, aber niemals verraten! Eisen und Blut werden über uns richten!“

Im Prozess wird Bandera zu lebenslanger Haft verurteilt. In den Wirren des Kriegsausbruchs, bei dem sich Hitler und Stalin 1939 Polen aufteilen, kommt er jedoch wieder frei. Die heranrückenden Nazis sieht er weniger als Bedrohung denn als Chance, dass die Ukraine endlich einen unabhängigen Staat unter deutscher Duldung bekommt. Sein Vorbild ist die faschistische Ustaša in Kroatien oder die Hlinka-Partei in der Slowakei. Also kooperiert die OUN bereitwillig mit den Nazis, und im Sommer 1941 marschieren zwei von der Wehrmacht aufgestellte ukrainische Freiwilligenbataillone in Lemberg ein und rufen umgehend einen autonomen ukrainischen Staat aus.

Quer durch Galizien wird die Unabhängigkeit gefeiert und Bandera bejubelt: Porträts des Nationalistenführers werden gehisst, mit seinem wachen, reglosen Blick, dem dunklen, schütteren Haar und dem markanten, bartlosen, fast bubenhaften Gesicht. Oft hängt sein Konterfei gleich neben dem von Hitler.

Er wähnt sich am Ziel, doch die Hoffnung trügt

Im Sommer 1941 wähnt sich Bandera am Ziel seiner Pläne. Doch die Hoffnung trügt. Während die Westukrainer noch in Feierlaune sind, trifft sich Bandera im deutsch besetzten Krakau mit Vertretern des Nazi-Regimes. Bandera, der auch ein paar Brocken Deutsch spricht, wirbt für die ukrainische Sache, schmeichelt den Deutschen, den „Eroberern“ des sowjetischen Territoriums und spricht von einer Schicksalsgemeinschaft zwischen Deutschen und Ukrainern. SA-Oberführer Ernst Kundt erteilt den Träumen der ukrainischen Unabhängigkeit eine klare Absage: Nur der „Führer“ oder die Wehrmacht könnten über einen ukrainischen Staat richten. Bandera hält dagegen: „Nur die Ukrainer können politische Entscheidungen in der Ukraine treffen.“ Vergeblich. Helfer für die Unabhängigkeit der ukrainischen „Untermenschen“ sein, das wollen die Nazis nicht. „Es gibt keine freie Ukraine“, lautet das Fazit von Reichskommissar Erich Koch. „Das Ziel unserer Arbeit muss sein, dass die Ukrainer für Deutschland arbeiten und nicht umgekehrt.“

Aus den Verbündeten werden erbitterte Feinde – und Bandera, der Nazi-Kollaborateur, wird zum Volksfeind: Am 5. Juli, nicht einmal eine Woche nach der Ausrufung der ukrainischen Unabhängigkeit in Lemberg, wird Bandera verhaftet, nach Berlin gebracht und im KZ Sachsenhausen eingesperrt, während die UPA, ein militärischer Arm der OUN, in der Westukraine in den Untergrund geht. Zuerst kämpfen sie gegen die Nazis, später gegen die Sowjets. Die ehemals verbündeten OUN-Mitglieder wurden von den Nazis brutal verfolgt, zwei Brüder Banderas nach Auschwitz gebracht und dort zu Tode gefoltert. Es ist vor allem dieser Kampf gegen alle Besatzer, gegen Berlin und Moskau, der den UPA-Kämpfern bis heute in der Ukraine den Heldenstatus als nationale Freiheitskämpfer eingebracht hat.

Und Banderas Rolle? Dass die OUN in Lemberg maßgeblich an pogromartigen Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung beteiligt war, gilt heute als unbestritten. Später ermorden die UPA-Kämpfer 80 000 Polen, darunter viele Zivilisten. Ihr Ziel: eine ethnisch homogene Ukraine. Es sind die zwei dunkelsten Kapitel der ukrainischen Nationalistenbewegung – an denen der „prowydnik“ selbst nicht persönlich teilgenommen hat.

"Tausende Menschenlebern müssen geopfert werden", sagt er

„Seine Abwesenheit enthebt ihn nicht von der Verantwortung“, schreibt Grzegorz Rossolinski-Liebe in der ersten wissenschaftlichen Bandera-Biografie. Bandera trage vielmehr „moralische, ethische und politische Verantwortung“ für die Pogrome; schließlich hatte er in Reden und Dokumenten immer wieder zu Gewalttaten aufgefordert. „Unsere Idee ist so bedeutend, dass dafür nicht nur hunderte, sondern tausende Menschenleben geopfert werden müssen“, sagt er einmal vor Gericht.

Dem hält Kai Struve, Historiker an der Universität Halle entgegen: „Die Bedeutung Banderas wird sowohl im Positiven wie im Negativen maßlos übertrieben.“ Dass Bandera schon zu Lebzeiten zu einer Legende gemacht wurde, mache seine „erinnerungsgeschichtliche Rolle viel größer als jene, die er historisch tatsächlich gespielt hat“. Dass Bandera 1959 auf so spektakuläre Weise vom KGB ermordet wurde, besiegelte seinen Ruf als Märtyrer für die ukrainische Sache. Struve ist Mitglied der deutsch-ukrainischen Historikerkommission, die 2015 gegründet wurde, um mit Konferenzen und Stipendienprogrammen den internationalen Forschungsstand über die Ukraine zu verbessern, bei dem bis heute noch allzu oft die verengte Sicht Moskaus dominiert.

Bandera war ein charismatischer Redner – aber auch ein radikaler Heißsporn.
Bandera war ein charismatischer Redner – aber auch ein radikaler Heißsporn.

© mauritius images / Archive PL /

Während Bandera für die Westukrainer zum Symbol für den „nationalen Befreiungskampf“ gegen Nazis, Polen und Sowjets wurde, kanzelte Moskau jede ukrainische Regung nach mehr Unabhängigkeit als faschistisches Erbe der „Banderisten“ ab. „Die radikalen ukrainischen Nationalisten haben viele Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs begangen“, räumt Struve ein. „Dennoch hat die sowjetische Propaganda ein sehr verzerrtes Bild von ihnen gezeichnet und damit nicht zu historischer Aufklärung beigetragen, sondern sie immer nur als Waffe gegen die ukrainische Unabhängigkeit eingesetzt.“

Bandera kann man also als strammen Faschisten, Opportunisten, Freiheitskämpfer gegen die Sowjets, Ideologen der ukrainischen Unabhängigkeit oder gar selbst Opfer des Nazi-Terrors sehen. Es sind die jeweiligen Versatzstücke seiner Biografie, die Anhänger wie Gegner Banderas ins Feld bringen, ohne zugleich davor zurückzuschrecken, ganze Stränge seiner Biografie zu ignorieren. Ein Umstand, der politischen Sprengstoff birgt – bis heute.

Auf dem Rathaus prangt sein Porträt

Das zeigte sich zuletzt bei den Maidan-Protesten vor fünf Jahren. Monatelang gingen im Winter 2013/14 Tausende Ukrainer in Kiew für ein geplatztes EU-Assoziierungsabkommen und gegen das alte korrupte System auf die Straße. Im Fahnenmeer aus Blau-Gelb, den Nationalfarben der Ukraine, und der Europa-Flagge mischten sich immer wieder die schwarz-roten Banner („Blut und Boden“) der Nationalisten, die Bandera auch heute noch verehren. Nach der geschlagenen „Revolution der Würde“ prangte auf dem Kiewer Rathaus das Porträt Banderas, wie zum Beweis des Sieges. Seit dem Maidan wird der westukrainische Nationalistenführer wieder als Freiheitsheld gefeiert, als Symbol gegen die russische Aggression auf der Krim und im Donbass. Straßen werden nach Bandera umbenannt, Slogans der UPA-Kämpfer („Ruhm der Ukraine“) gehören mittlerweile zum patriotischen Standardrepertoire.

Die russischen Staatsmedien hingegen nutzten das Konterfei Banderas, um die ukrainischen Staatsbürger auf der Krim und im Donbass, aber auch die eigene Bevölkerung in Russland auf den Kampf gegen eine vermeintliche „Kiewer Junta“ einzuschwören.

„Das Bild, das Russlands Propaganda oder prorussische Propagandisten vom Maidan zeichneten, hat mit der Realität nichts zu tun“, schreibt jedoch der Historiker Wilfried Jilge in der Zeitschrift „Osteuropa“. Es solle vielmehr alte Ressentiments der Russen gegen die Ukrainer wecken. Denn anders, als in staatlichen russischen Medien dargestellt, verstand sich die breite Masse der Maidan-Bewegung nicht als nationalistisch, anti-russisch oder gar antisemitisch, sondern als demokratisch, offen und tolerant. Die Parteien, die sich explizit auf das radikale Erbe Banderas beziehen, wie der „Rechte Sektor“ und „Swoboda“, haben es zuletzt nicht geschafft, in die Werchowna Rada, das ukrainische Parlament, einzuziehen.

1500 Menschen folgten dem Sarg

Banderas Anhänger aber ziehen weiter durch die Straßen. Wie damals, am 20. Oktober 1959.

Fünf Tage nach seiner Ermordung wird Stepan Bandera auf dem Münchner Waldfriedhof begraben. Ein Trauerzug von 1500 Menschen folgt dem Sarg, in die blau-gelbe Fahne der Ukraine gehüllt. Das Bild unterscheidet sich wenig. Banderas Anhänger tragen Kreuze, Kränze und Fackeln.

Simone Brunner

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