zum Hauptinhalt
Der neue Trakt des Klinikums ist erst vier Jahre alt.

© Jonas Bickelmann

„Standort bewusst ausgetrocknet“: Wenn das einzige Krankenhaus während Corona dichtmacht

Im Havelberger Klinikum gab es sogar eine brandneue Intensivstation. Doch dann legte der private Betreiber in Sachsen-Anhalt den Betrieb lahm. Eine Spurensuche.

Von Jonas Bickelmann

Der Wind pfeift über den Domplatz von Havelberg, fegt die Haare der Demonstranten in alle Richtungen, nimmt manchen fast das Gleichgewicht. Mehr als zwanzig Menschen haben sich versammelt, obwohl sie Abstand zueinander halten, wirkt die Gruppe neben dem mächtigen Kirchenbau klein.

Ganz vorne steht Sandra Braun, 55 Jahre, rahmenlose Brille, blonde Kurzhaarfrisur. Sie ist die Hauptrednerin, alle hören gebannt zu. Viele ehemalige Kolleginnen sind gekommen, ein paar Anwohner, Lokalpolitiker. Drei Polizisten passen auf.

Die Protestierenden stimmen zum Abschluss ein Lied an. Ihre Blätter mit dem Text müssen die Menschen fest in den Händen halten, damit der Wind sie ihnen nicht aus den Fingern reißt: „Woher soll’n wir denn Hilfe kriegen? Nach Stendal oder Kyritz fliegen? Im Notfall willst du auch gerettet werden. Und nicht vor dem Altenheim sterben.“

Sandra Braun kämpft für das Krankenhaus in Havelberg, einer Stadt mit sechseinhalbtausend Einwohnern, ungefähr zwei Stunden von Berlin in Sachsen-Anhalt. Braun hat in der Klinik 38 Jahre lang Menschen gesund gepflegt. Zur ersten Demonstration Anfang des Jahres versammelten sich 600 Leute. Jetzt sind es viel weniger, die Hoffnung schwindet.

[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

„Der Landkreis hat uns geopfert“, sagt Braun. Der müsste die Liegenschaft zunächst kaufen, damit das Land finanziell fördern kann. Die Verhandlungen sind jedoch kompliziert, fast aussichtslos. Der Betreiber KMG machte das Krankenhaus dicht, mitten in einer globalen Pandemie. Der Grund: Es rechnete sich nicht. Auf eine Tagesspiegel-Anfrage reagiert das Unternehmen nicht.

Anfang des Jahres kamen noch hunderte Teilnehmer zu den Demos, zuletzt haben viele resigniert.
Anfang des Jahres kamen noch hunderte Teilnehmer zu den Demos, zuletzt haben viele resigniert.

© Jonas Bickelmann

Die Klinik von Havelberg ist kein Einzelfall. Das Gesundheitswesen hat keinen Platz für die kleinen. Alle fürchten in der Pandemie um die Kapazitäten der Kliniken. Aber bis heute gibt es staatliche Millionen-Förderung für Klinikschließungen.

Von 1991 bis 2018 fiel in Deutschland eins von vier Krankenhausbetten weg, hat das Statistische Bundesamt ermittelt. Nach der Wende gab es noch 666.000 Plätze, im Jahr 2018 waren es nur noch 498.000. Etwa eine von fünf Kliniken schloss. Aber: Die Zahl der Intensivbetten wurde um mehr als ein Drittel erhöht. Trotzdem fürchten viele Menschen, dass sie keine schnelle Hilfe mehr bekommen.

Die leere Klinik liegt in Sichtweite direkt neben dem Dom, durch die dunklen Fenster sieht man nur noch Notausgang-Schilder leuchten, der Empfang ist verwaist, Plastikblumen stehen noch im Fenster. Das Gebäude ist langgestreckt, besteht aus mehreren Teilen. Die Patienten lagen zuletzt in einem schlichten Flachbau.

Sandra Braun, 55, arbeitete fast 40 Jahre lang im Krankenhaus Havelberg.
Sandra Braun, 55, arbeitete fast 40 Jahre lang im Krankenhaus Havelberg.

© Jonas Bickelmann

Es war eines der kleinsten Krankenhäuser Deutschlands, nur 37 Betten gab es noch. Seit dem 1. September kann niemand mehr behandelt werden. Im Inneren sind die Türen verschlossen, die Pinnwand leer, der Stationenplan hängt noch, obwohl es keine Stationen mehr gibt.

Krankenschwester Sandra Braun hat nach der Demo Zeit für einen Rundgang um die Klinik. Stundenlang könnte sie erzählen. Sie fing 1982 an, im Havelberger Krankenhaus zu arbeiten, mit 17. Es war ein anderer Staat, eine anderes System.

[Warum die Charité-Ärzte die Meldung vom Impfstoff auch besorgt - lesen Sie hier die T+-Geschichte.]

Ungefähr 170 Betten hatte das Haus, viermal mehr als zuletzt. „Damals fanden wir darin eine Berufung, den Menschen zu helfen, es war noch Zeit für die Patienten“, sagt sie. Ärztinnen und Pflegekräfte saßen in der Mittagspause zusammen, redeten vom Westfernsehen: Dallas, Denver Clan. „Da war Vertrauen. Wir waren ein Kollektiv, eine echte Gemeinschaft.“

Sandra Brauns Spiegelbild in einem Fenster des seit Jahren leerstehenden Altbaus.
Sandra Brauns Spiegelbild in einem Fenster des seit Jahren leerstehenden Altbaus.

© Jonas Bickelmann

Sandra Braun ist im Dienst, als sie im Radio erfährt, dass ihr Krankenhaus zumacht. „Wir waren erschüttert, mussten uns erst mal setzen.“ Nach der Schließung hat sie schnell andere Arbeit gefunden, Pflegekräfte werden überall gesucht. Aber das Ende der Klinik will sie nicht hinnehmen, einen ganzen Stapel mit Dokumenten hat sie gesammelt, dicker als ein Telefonbuch.

Zuletzt nahm Sandra Braun das Mittagessen in der Klinik allein zu sich, in der längst geschlossenen Cafeteria im Untergeschoss. Mittagspause mit der Kollegin ging nicht, weil dann niemand mehr auf der Station gewesen wäre.

Noch 2016 wurde eine neue Intensivstation gebaut

Für anderes war Geld da: Noch 2016 wurde in Havelberg eine neue Intensivstation gebaut, mit Beatmungsplätzen, wie sie für Coronapatienten gebraucht werden. Aber die Station wurde nie genutzt, stand leer, berichtet Braun: „Unglaublich!“ Jetzt wird daraus ein Speisesaal. Die Betreiber wollen im ehemaligen Krankenhaus ein Pflegeheim einrichten. Obwohl es davon schon mehrere in der Gemeinde gibt. Intensivbetten: Fehlanzeige.

Als im Frühjahr Bilder von überfüllten Krankenhäusern in Italien um die Welt gingen, war schnell klar: Das Gesundheitswesen darf nicht an seine Grenzen geraten. Deshalb wurden hierzulande mehrere Schließungspläne gestoppt.

Das katholische Krankenhaus im saarländischen Lebach sollte Ende Juli keine Patienten mehr aufnehmen, die Landesregierung jedoch forderte den Aufbau einer Corona-Station mit 42 Betten. Auch in Zweibrücken in Rheinland-Pfalz wurde in der Pandemie eine Klinik wiedereröffnet.

Havelberg ist Hansestadt, der alte Dom steht wie eine Burg über der Stadt, vom Vorplatz öffnet sich ein weiter Blick. Das Panorama zieht viele Touristen an, auch mit Booten können sie in einem kleinen Flusshafen anlegen. Aber um ein Krankenhaus aufzusuchen, müssen die Havelberger jetzt mindestens eine halbe Stunde fahren, viele deutlich länger. „Bis sie ankommen, sind sie schon tot“, sagt ein Mann bei der Demo.

Die Gegend um Havelberg ist dünn besiedelt

Das nächste Klinikum liegt in Kyritz, hinter der brandenburgischen Grenze. Ohne Auto muss man zwei bis dreimal umsteigen, ist mehr als eine Stunde unterwegs. Auch das Kyritzer Krankenhaus gehört zur KMG-Gruppe. Die bietet jetzt ein kostenloses Shuttle dorthin an – es fährt aber nur zweimal am Tag.

Viele der Straßen von Havelberg sind an diesem windigen Novembertag leer. Die Gegend ist dünn besiedelt, aber auch hier werden Menschen krank, passieren Unfälle: In der Dämmerung springen fünf, sechs Hirsche über die Landstraße. Am Ortsrand hat die Bundeswehr einen Standort, das Panzerpionierbataillon 803 ist hier stationiert. Über die Straße joggen ein paar Soldaten, man erkennt sie an den cyan- und marineblauen Sportanzügen.

Blick vom Domplatz über Havelberg
Blick vom Domplatz über Havelberg

© Jonas Bickelmann

Braucht Deutschland zentrale Großkliniken oder lokale Krankenhäuser? Corona stellt diese Frage neu. 2019 sprach sich eine Studie der Bertelsmann-Stiftung dafür aus, von den 1400 bestehenden deutschen Krankenhäusern mehr als die Hälfte zu schließen, 200 Betten seien für eine Klinik das „absolute Minimum“.

Das lange verfolgte Ziel der Zentralisierung hat auch zu etwas geführt, das Sandra Braun als „Wahnsinn“ bezeichnet. „Die werden doppelt und dreifach belohnt, dass sie uns plattgemacht haben.“ Es gibt in Deutschland ein staatliches Förderprogramm für die Schließung von Krankenhäusern. Das Geld kommt zur einen Hälfte von den Krankenkassen, zur anderen von den Bundesländern.

Über sechs Millionen Euro soll KMG im Fall Havelberg bekommen, sagt der linke Landtagsabgeordnete Wulf Gallert. Sandra Braun und die anderen Demonstranten singen vor dem Dom: „Ist Geld der Grund, warum ihr wirklich geht? Wo uns im Notfall doch Hilfe zusteht.“

400 Millionen Umsatz macht der Betreiber

Dass ein Klinikum ausgerechnet in der Pandemie schließt, kann sie nicht verstehen. Die Havelberger Belegschaft wollte ihren Beitrag leisten, um Corona einzudämmen. „Wir haben angeboten, dass wir eine Drive-in-Teststelle einrichten“, sagt sie. „Aber KMG hat das nicht gewollt, wir sollten ja nicht angenehm auffallen und die Schließung damit gefährden.“ Währenddessen habe das Krankenhaus 560 Euro Tagespauschale für jedes Bett bekommen, das für Coronapatienten freigehalten wurde. Auch zu diesem Vorwurf: Keine Stellungnahme von KMG.

Das Havelberger Krankenhaus gehörte früher dem Kreis. 2002 kaufte es KMG. Das Bad Wilsnacker Unternehmen mit Dependance an der Friedrichstraße in Berlin betreibt ein Dutzend Kliniken in Ostdeutschland. Es wurde nach der Wiedervereinigung gegründet, 2019 machte KMG 400 Millionen Euro Umsatz.

In dieselbe Zeit wie die Privatisierung der Klinik in Havelberg fällt eine folgenschwere Umstellung der deutschen Krankenhausfinanzierung: Seit 2003 gibt es für bestimmte Diagnosen feste Beträge, sogenannte Fallpauschalen. Deshalb lohnt es sich, möglichst viele Patienten zu behandeln. Kritiker halten das System für gefährlich. „Wir vergleichen es immer mit der Feuerwehr: als würde man die nach der Zahl und der Schwere der Brände finanzieren und nicht dafür, einfach da zu sein“, sagt der Havelberger Abgeordnete Wulf Gallert am Telefon.

In der Corona-Pandemie zählt eigentlich jedes Krankenbett, macht vielleicht sogar den entscheidenden Unterschied. Paulus Kirchhof von der Universität Birmingham argumentiert etwa, in Deutschland seien auch deshalb proportional deutlich weniger Menschen als in Großbritannien gestorben, weil das dezentrale deutsche Gesundheitssystem besser auf eine Pandemie vorbereitet war als der britische National Health Service. Überkapazitäten seien nötig, schreibt der Mediziner, um für Katastrophen gerüstet zu sein.

Heute geht Sandra Braun davon aus, dass die KMG-Gruppe schon lange auf eine Schließung hinarbeitete. „Richtig verarscht wurden wir, all die Zeit, da war ein Plan“, sagt sie.

Aktivistinnen wenden sich an Sozialministerin

Linken-Politiker Gallert glaubt, dass KMG genauso wie andere Klinikbetreiber um das Monopol in der Region kämpfen. „Sie möchte die komplizierten, teuren Fälle alle mit einem geringen Angebot für sich behalten. Die haben den Standort bewusst ausgetrocknet, um Kyritz zu stärken“, sagt Gallert. Wenn ein anderer das Krankenhaus übernehme, sei das nicht im Interesse der KMG. Die Johanniter hatten sich ins Spiel gebracht, hoffen wohl auf Patienten für ihr Haupthaus in Stendal. Der KMG-Konkurrent folgt derselben Logik, schloss 2017 das Krankenhaus in Genthin. „Alle verhalten sich systemkonform“, sagt Gallert.

Gerade haben die Aktivistinnen sich per Brief an ihre Sozialministerin gewandt, an Petra Grimm-Benne von der SPD. Die möge einer Schließung nicht zustimmen. Und sie haben den Landkreis verklagt, weil er seine Pflicht verletze, die Gesundheitsversorgung zu garantieren.

Sandra Braun steht wie keine andere für den Kampf um das Krankenhaus. Beim Einkaufen werde sie angesprochen, „man kann sehen, dass die Bevölkerung zu uns hält, hinter uns steht“, sagt sie.

Um den Plan, dass der Kreis Stendal das Krankenhaus kauft, steht es schlecht. Die Forderungen der KMG waren sehr hoch. Und das Unternehmen wollte Vorgaben machen, was in Havelberg angeboten werden darf. „Zwischen den Vorstellungen von KMG und dem, was der Landkreis als Kaufsumme und als Kaufbedingungen leisten kann, liegen nach jetzigem Stand Welten“, teilt Landrat Patrick Puhlmann (SPD) mit.

CDU hält Investitionen in Krankenhäuser für „unbezahlbar“

Dass ein privates Haus an die Kommunen zurückgeht, kann auch klappen. In Crivitz, Mecklenburg-Vorpommern, unterstützt das Land den Kauf mit sechs Millionen Euro. Auch im brandenburgischen Perleberg gibt es noch ein kommunales Krankenhaus. Es ist beliebt: Sandra Brauns Enkel kam dort zur Welt.

Von irgendwo muss das Geld kommen, um kleine Häuser zu erhalten. Noch im Januar schlug Landesministerin Petra Grimm-Benne 700 Millionen Investitionen für die Krankenhäuser vor. Das sei „unbezahlbar“ kam es vom Koalitionspartner CDU zurück. Nächsten Juni wird in Sachsen-Anhalt gewählt, Kliniken sind den Menschen wichtig. Eine Umfrage des katholischen Krankenhausverbandes ergab im Sommer, dass mehr als neun von zehn Deutschen sich wünschen, nicht weit bis zum nächsten Klinikum fahren zu müssen.

Auf dem Land erfüllt sich dieser Wunsch immer seltener. „Es bedeutet für Havelberg ganz viel, wenn das Krankenhaus fehlt“, sagt Sandra Braun. Im Frühjahr erst verlor die Stadt ein großes Ferienheim, um das Gymnasium fürchten die Bürger schon lange. Bei ihrem Krankenhaus hat die letzte Hoffnung sie an diesem stürmischen Tag auf den Domplatz gebracht. „Augen auf“, singen sie im Wind. „Sonst geh’n wir hier alle drauf.“

Zur Startseite