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Eine Klasse für sich. Die Besserwisserin braucht keinen Kurs. Der Kurs braucht sie.

© imago/Westend61

Sprachkurs-Schüler: Vom Streber bis zum Verliebten: eine Typologie

Der eine erzählt zum dritten Mal von seinem Bretagne-Urlaub 1973, die andere verwechselt Arrivederci mit Amatriciana. Im Sprachkurs begegnen sich fremde Welten.

Die Stille

Wenn alle nacheinander vorlesen sollen, bricht ihr der Schweiß aus. Hoffentlich muss sie nicht anfangen. Kanji, Hiragana und Katakana: Die unbändige Masse an japanischen Schriftzeichen verschwimmt vor ihren Augen, Striche und Bögen fliegen durcheinander. Sie starrt auf die Tischplatte, wünscht sich, sie könnte es der Seidenraupe gleichtun und sich einen schützenden Kokon spinnen. Warum nochmal hat sie sich für den Kurs angemeldet? Die Japaner gelten als besonders zurückhaltend, oft schüchtern – ein ganzes Volk, das so tickt wie sie. Nun aber sitzt sie erst einmal vor diesem Sprach- und Schriftungetüm und beobachtet die anderen, wie sie Silbe um Silbe meistern, sie stolz ausführen wie Festtagskimonos. Dem Lehrer fällt es kaum auf, dass die Stille immer stiller wird, ihren Namen hat er auch in der 17. Stunde noch nicht verinnerlicht. Doch eines Tages wird sie sich trauen, ganz gewiss. Sie wird sich melden, losplappern, ihren Kokon verlassen.

Die Langsame

Die Kinder sind ja aus dem Haus seit ein paar Jahren, als Beamtin im Baudezernat ist sie unkündbar, und mit den Freundinnen will sie noch was erleben. Sie hat Zeit. Viel Zeit. Eine Reise nach Pisa, Siena und Florenz soll es sein. Deswegen der Italienischkurs, obwohl sie in der Schule schon mit Englisch Probleme hatte. Gewissenhaft erledigt sie die Hausaufgaben, aber verwechselt trotzdem stets Arrivederci mit Amatriciana. Alle im Kurs lächeln ihr dann nett zu. Sie weiß, dass dieses Lächeln gespielt ist, dass die anderen von ihr genervt sind, weil sie für das Ausfüllen des Lückentextes doppelt so lang braucht. Aber das ist ihr egal. Ihr ist sogar egal, wenn sie in Siena versehentlich Spaghetti all’Arrivederci bestellt. Sie geht zum Sprachkurs, weil es ihr dort gefällt – und die nette Hannelore auch immer kommt. Auch nix versteht. Sie haben ja Zeit.

Die Besserwisserin

Sie braucht keinen Kurs. Der Kurs braucht sie. Wenn die Besserwisserin mit kraftvoller Dagmar-Berghoff-Gedenkstimme antwortet, haben die Schüler, pardon, Mitschüler Sendepause. Was sie sagt, hat Gewicht, deswegen auch die bedeutungsvoll hochgezogenen Augenbrauen. Und da, ein Lächeln umspielt ihre strengen Züge – wie wohltuend es ist, sich selbst reden zu hören nach dem ganzen einfältigen Geplapper und Gestotter! Sie bemüht sich nicht mal, das Augenrollen zu unterdrücken. Wer eine falsche Antwort gibt, nicht richtig betont, löst bei der Besserwisserin einen Automatismus aus: Wie eine Gouvernante am Hof von Queen Victoria zischt sie die korrekte Konjugation durch den Raum, noch bevor der Kursleiter etwas sagen kann. Überhaupt, der! (Augenrollen) Völlig überfordert, wenn man die Besserwisserin fragt. Hat man gar nicht? Na und, gern geschehen.

Der Streber

Fünf Minuten vor Unterrichtsbeginn liegt seine Ausrüstung bereit, parallel oder im rechten Winkel zueinander: Das Vokabelheft, der Ordner mit den Arbeitsblättern, das einsprachige und das zweisprachige Wörterbuch, Textmarker (grün für Merksätze, gelb für Grammatikregeln, pink für „falsche Freunde“), das Lineal (für die Textmarker). Die Schulzeit gab seinem Leben eine nie wiedererlangte Ordnung, Sprachkurse sind sein Methadon, Lehrerlob sein Kick. Dafür macht er alles, auch die Übungen unter der Hausaufgabe. Sein neues Faible: Weitere Materialien mitbringen zu Themen, bei denen die anderen schon in der vergangenen Woche weggedämmert sind. Öffentliche Verkehrsmittel in Spanien, ein Bourbonenkönig anno dunnemals, eine Abhandlung über die Flora auf der Iberischen Halbinsel. In der Oberstufe hätte man einem wie ihm die Meinung gegeigt. Aber jetzt?

Der Gezwungene

Deutschland ist für ihn kein Urlaubsziel, er lebt jetzt hier. Und ein Gesetz in seiner neuen Heimat verpflichtet ihn zu diesem Kurs. Er musste lange auf den Platz warten. Eine Stunde Anfahrt von seinem Containerdorf am Rand der Stadt bis zur alten Schule, wo vormittags der Unterricht stattfindet, fünf Mal in der Woche vier Stunden. Von 25 Personen wird die Hälfte durchfallen. Seine Mitschüler: Ein Afghane, der erst kürzlich lesen gelernt hat. Ein syrischer Ingenieur, der Arabisch, Englisch und Französisch beherrscht. Ein Assad-Anhänger. Daneben ein Folteropfer des Regimes, das manchmal seine Narben zeigt. Hingucken kann der zum Sprachkurs Gezwungene nicht. Sein Blick haftet ohnehin am Handy, die App zur Wohnungssuche immer geöffnet. Nach dem Unterricht lässt er den Lehrer die Antworten der Vermieter übersetzen. So lernt er automatisch die Regeln der Verneinung.

Der Verliebte

Nur eine Geschichte kann er ohne zu stocken erzählen, sonst wäre der Verliebte nicht hier. Sie haben sich auf einer Zugfahrt durch Italien kennengelernt, er hat sofort geschworen, Arizona zu verlassen, um mit Olga die russischen Winterabende zu verbringen. Seine Mutter freute sich: Niemals lernt sich eine Sprache so leicht, wie von der Liebe befeuert, manch einer verliebt sich eigens dafür. Die Lehrerin soll mit ihm üben, wie er Olgas Hüften lobt, und mit welchem Trinkspruch er ihre Familie beeindruckt. Der Verliebte quält sich durch die russische Deklination, die Zischlaute wollen dem amerikanischen Mund nicht gelingen, und wenn er sagt, dass er sie liebt, fängt Olga an zu lachen. Er tröstet sich mit dem Film „Tatsächlich Liebe“, in dem Colin Firth seiner Haushälterin in grauenhaftem Portugiesisch einen Antrag macht. Die Frau sagt am Ende auch ja. Und Olga spricht ohnehin perfekt Englisch.

Der Lehrer

Wie ist er bloß hier gelandet? Das fragt sich der Lehrer manchmal, wenn seine Schützlinge über ihren Aufgaben brüten und es draußen dunkel wird. Jeden Abend gibt er zwei 90-minütige Englischkurse hintereinander und hat sich bis heute nicht entschieden, wann dinner time ist. Davor, gegen halb fünf, oder danach, gegen halb elf? Die Frage zermürbt ihn, ein Magengeschwür ist die Folge. Er hätte gern einen 9-to-5-Job. Lustig, vor sowas war er ja einst aus seinem südenglischen Kaff nach Berlin geflohen. Um sein Leben zu ändern, müsste er Deutsch lernen, aber zu einem Kurs kann er sich nicht aufraffen. Im Alltag kommt er gut zurecht, selbst die Supermarktkassierer sprechen Englisch. Und die, die es nicht können, sitzen irgendwann in seiner Klasse. He, she, it, das „s“ muss mit. Versteht am Ende jeder, dann geht es in die nächste Kursstufe. Nur der Lehrer bleibt.

Der Chaot

Er dachte, es sei eine gute Idee, den Kurs am frühen Morgen zu wählen. Wenn er in den um sieben Uhr ginge, wäre er um halb neun fertig und damit pünktlich in der Uni. Der Polnischkurs würde ihn quasi zwingen, aufzustehen. Jetzt ist es mal wieder sieben Uhr an einem Kursmorgen, und er sucht eine zweite Socke zur braun-weiß-geringelten. Er fischt eine andere aus dem Wäschekorb, sprintet zum Bus, der die Sprachschule um fünf nach halb acht erreicht, rennt durchs Gebäude, wie war nochmal die Raumnummer, er will im Handy nachschauen, Akku leer. Jetzt öffnet er einfach jedes Zimmer, um kurz nach acht hat er seine Klasse gefunden. Er schleicht sich rein, kramt im Rucksack nach dem Polnisch-Buch, er hatte es doch extra auf den Küchentisch gelegt. Ob er seine Hausaufgabe gemacht habe?, fragt die Lehrerin. Welche Hausaufgabe?, antwortet er.

Der Pensionär

Fast 40 Jahre hat er eine Notarkanzlei geleitet. Für den Ruhestand hat er sich einen genauen Plan gemacht: Den Garten symmetrisch anlegen, das Opern-Abo ausnutzen und sein Schulfranzösisch aufpolieren. Vor 14 Jahren, kurz nach der Pensionierung, meldete er sich in der Sprachschule an. Er hat viele Lehrer kommen und gehen sehen, bei manchen Mitschülern weiß er gleich: Der bleibt nicht lange – zu jung, zu sprunghaft, wechselt dann doch zu Koreanisch oder Hot Yoga. Der Pensionär ist eine Konstante. Es stört ihn nicht, dass er manche Arbeitsblätter zum dritten Mal vor sich hat. Seine Mitschüler stört, dass er zum dritten Mal vom Bretagne-Urlaub 1973 berichtet. Gerade hatten sie über die Gelbwesten diskutiert, aber von derlei ephemerem Kram lässt sich der Pensionär nicht unterbrechen. Er hat die Anekdoten im ersten Kurs erzählt, er wird sie weiterhin in aller Ausführlichkeit erzählen. Wer sich daran stört, kann ja zum Hot Yoga gehen.

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