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Luftaufnahme des vorbildlichen Göttinger Stadtforstes mit Bismarckturm.

© Stefan Rampfe/p-a

Spaziergang mit der Oberförsterin: Göttingen zeigt, wie man den Wald am besten nutzt

Abholzen kann jeder. In Göttingen wird der Stadtforst als grüne Lunge begriffen und wirtschaftlich nur geringfügig ausgebeutet.

In der Nacht hat es geregnet. Aber das Wasser ist schnell verdunstet, und auf den Wegen im Göttinger Stadtwald zeigen Risse, wie trocken der Boden eigentlich ist. Vogelgezwitscher ist zu hören, sonst herrscht Stille. Rechts und links vom Weg vermodern umgestürzte Bäume: Totholz, das gar nicht tot ist, sondern idealer Lebensraum für Pilze, Käfer und andere Kleintiere. Brutvögel finden Nistgelegenheiten in den Höhlen alter Stämme. Im Mulm, dem verfaulten und zu Pulver zerfallenem Holz, können sich Insektenlarven entwickeln – eine prall gefüllte Vorratskammer für Vögel und andere Insektenfresser. Zwischen den Stümpfen sind junge Triebe aus dem Erdreich geschossen. Eine Eule, die sich wohl gestört fühlt, fliegt auf und zieht mit lautlosem Flügelschlag durch die Baumkronen davon.
„Hier bekommen Sie einen ganz guten Eindruck von unserem Konzept der naturnahen, ökologischen Waldbewirtschaftung“, sagt Lena Dzeia. Naturnahe, ökologische Waldbewirtschaftung klingt gut, aber was heißt das konkret? „Keine Kahlschläge, keine Pestizide, nur einzelne Bäume werden entnommen, und das möglichst schonend.“

Der Stadtwald misst 1700 Hektar

Dzeia leitet seit dem vergangenen September die Göttinger Forstverwaltung, sie ist quasi die Oberförsterin Göttingens, verantwortlich für den knapp 1 700 Hektar großen Stadtwald. Etwa 70 Prozent der Bäume sind Buchen. Auf dem kalkhaltigen Boden wachsen außerdem Ahorne, Eschen, einige andere Laubbaum-Arten sowie ein paar Fichten und Lärchen. Mischwälder wie dieser gelten, anders als Monokulturen, als einigermaßen anpassungsfähig an den Klimawandel und seine Folgen.
Inmitten des bewaldeten Gebietes liegt das Kerstingeröder Feld. Die 200 Hektar große, schon vor rund 600 Jahren gerodete und später zeitweise als Truppenübungsplatz genutzte Freifläche gilt als Refugium für etliche geschützte Pflanzen-, Vogel- und Insektenarten. Mehr als 400 der 750 noch in Niedersachsen lebenden Schmetterlingsarten konnten Wissenschaftler hier nachweisen. Auf zwei abschüssigen Wiesen wachsen Orchideen.
Das Kerstlingeröder Feld und der größte Teil des Stadtwaldes stehen unter Naturschutz. Drei Bereiche, insgesamt rund 100 Hektar groß, sind zudem als sogenannte Naturwald-Parzellen ausgewiesen. „Sie werden überhaupt nicht bewirtschaftet und vollständig der natürlichen Entwicklung überlassen“, erläutert Dzeia. Im Idealfall sollen hier wieder urwaldähnliche Strukturen entstehen. Eine Wildnis im Wald sozusagen.

Nur ein Bruchteil der Bäume wird geerntet

Die Idee der naturnahen Waldbewirtschaftung in Göttingen geht auf den vor fast 100 Jahren amtierenden Stadtforstmeister Walter Früchtenicht zurück. Wesentliche von ihm gemeinsam mit Naturschützern entwickelten Eckpunkte gelten noch heute und wurden allenfalls, so Dzeia, im Verlauf der Zeit immer mal wieder modifiziert und angepasst.
„Wir ernten nur einen Bruchteil von dem, was zuwächst“, präzisiert sie. „Und auch nur die stärksten Stämme.“ Einzelstammweise Holzernte – so heißt das im Forstjargon. Etwa 2,5 bis 3,5 Festmeter Holz entnehmen die Göttinger Förster jedes Jahr einem Hektar Stadtwald. Rund acht Festmeter wachsen in demselben Zeitraum nach. Zum Vergleich: Die Niedersächsischen Landesforsten und private Waldbesitzer ernten meistens bis zu 90 Prozent des Zuwachses.
Wälder mit steigenden und hohen Holzvorräten sind Klimaschutzwälder. Werden die Vorräte durch Ernte massiv abgesenkt, gelangt ein Großteil des gespeicherten Kohlenstoffs zeitnah als klimaschädliches Kohlendioxid in die Atmosphäre. Denn in Deutschland wird das meiste geschlagenen Holz zu kurzlebigen Produkten wie Papier verarbeitet, energetisch genutzt und dadurch innerhalb weniger Jahre wieder als CO2 in die Luft geblasen.

Greenpeace lobte das Projekt schon 2013

„Note 1 – ein Modell mit Zukunft“, lobte Greenpeace schon 2013 den Göttinger Stadtwald: „Das Konzept sollte Schule machen.“ Bei einer Sonderinventur erfassten Aktivisten der Umweltschutzorganisation zwei Wochen lang mehr als 5 500 Bäume mit GPS-Geräten, übertrugen sie in Karten und werteten die Daten aus. So ließ sich der Holzvorrat exakt ermittelten – und abschätzen, wie viel Kohlendioxid der Atmosphäre entzogen wurde.
Der Klimaschutz profitiert vom ökologischen Waldkonzept des Göttinger Stadtwalds, lautet das Greenpeace-Fazit. Er habe zudem einen hohen ökologischen Wert und besitzt somit Vorbildcharakter. Forstchefin Dzeia ist da etwas zurückhaltender. „Im Moment passt unser Konzept gut in die Zeit“, sagt sie. Mit der nachhaltigen Waldbewirtschaftung gehe Göttingen einen spannenden Weg. Ob er als Vorbild für andere tauge, wolle sie aber nicht beurteilen: „Ich bin keine Missionarin.“
Andererseits bedeutet eine geringe Ernte natürlich weniger Einnahmen aus dem Holzverkauf. „Die Stadt könnte eigentlich viel mehr Geld damit verdienen“, weiß Dzeia. „Vorrang für unsere Kommunalpolitiker haben aber Erholung und Naturschutz.“ Füchse und Rehe lassen sich im Stadtwald in freier Wildbahn beobachten, auch Dachse und die scheuen Wildkatzen sind hier heimisch. Ebenso Fledermäuse und eher seltene Vogelarten wie Neuntöter und Wendehals, Mittel- und Grauspecht. Über dem Kerstlingeröder Feld kreisen Milane und Bussarde.
Tausende Göttingerinnen und Göttinger sowie ihre Gäste nutzen den direkt vor den Stadttoren gelegenen Wald für Spaziergänge und Radfahren. Viele Besucher, das ergab schon eine Umfrage aus dem Jahr 2007, würden dafür sogar Eintritt zahlen.

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