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Rithy Panh.

© laif

Sonntagsinterview: „Ich hätte lieber einen lebenden Vater“

Seine Kindheit war voller Gewürzdüfte und Familienfeiern, dann kam der Terror.Wie Rithy Panh die Roten Khmer überstand und was er vom Holocaust-Mahnmal hält

Rithy Panh, 49, ist Dokumentarfilmer und wurde in Kambodscha geboren. Die Roten Khmer ermordeten viele seine Verwandten, er verließ für lange Zeit die Heimat. Sein preisgekrönter Film „L’Image manquante“ handelt vom Schrecken dieser Zeit. Panh lebt seit 1990 wieder in Phnom Penh.

Herr Panh, Sie müssen frustriert sein.
Nein, warum sollte ich?

Ihre Filme widmen sich den Verbrechen der Roten Khmer. Aber das einzige Werk, das man mit dem Thema verbindet, ist „The Killing Fields“ von 1984.
Kein schlechter Film. Schon deshalb, weil „The Killing Fields“ ein internationales Publikum mit unserer Geschichte vertraut gemacht hat.

Über den Vietnamkrieg gibt es hunderte Filme …
… und die meisten kommen aus den USA und handeln von Amerikanern, die die Mutigen und Guten sind, auch wenn sie den Krieg verlieren. Die Leute wollen Rambo, der die Vietcong bombardiert! Als ich vor 25 Jahren Regisseur wurde, hörte ich: Warum alte Geschichten von den Roten Khmer aufwärmen, man kann doch etwas anderes erzählen.

Sie waren elf, als Pol Pot die Macht ergriff. Haben Sie gemerkt, dass etwas Furchtbares im Gange war?

Mein Vater beklagte sich, dass die Schule geschlossen wurde. Er war ja Lehrer und Bildungspolitiker. Irgendwann kamen die schwarzen Kleider, die wir anziehen, die kollektiven Kantinen, in denen wir essen mussten. Kinder wurden von ihren Eltern getrennt, Frauen von den Männern, das Leben wurde in militärischen Einheiten organisiert. Wir glaubten, das sei nur vorübergehend. Mein Vater rechnete damit, kurz in ein Umerziehungslager zu kommen, und alles wäre wie vorher. Dass die Jungen ihr Schuljahr nicht beenden konnten, fand er am schlimmsten.

Das erinnert an den jüdischen Wissenschaftler Victor Klemperer, der in seinen Tagebüchern beschrieb, wie er und viele andere die Bedrohung 1933 ausgeblendet haben.

In Kambodscha gab es Gewalt – und auch viel Frieden. Kambodscha war ein Paradies mit Problemen. Als die Roten Khmer am 17. April 1975 in Phnom Penh einmarschierten, haben sie wegen der Frustration der Armen gewonnen. Die waren über Jahrhunderte ausgebeutet worden, amerikanische Bomben fielen ihnen auf den Kopf. Es war ein Leichtes, ihnen eine Revolution einzureden. Und dass die Leute aus der Stadt, die Intellektuellen, ihre Feinde seien und sterben müssten.

Die Roten Khmer haben selbst Brillen getragen.

Ihre Brille liegt auf dem Tisch. Damals wäre sie Ihr Todesurteil gewesen.
Mein Vater hat seine Brille aus Angst versteckt. Er war hoher Funktionär im Bildungsministerium, trug immer Anzug und Krawatte. Eines Tages hat er seine Krawatten im Wald vergraben, und damit sein Leben. Die Roten Khmer haben selbst Brillen getragen. Man sieht das auf Archivbildern und denkt, warum ist das bei uns ein Verbrechen und bei denen nicht?

Die absurde Logik des Terrors.
Wie können Brillen etwas über Klassen aussagen? Auch Arme können schlecht sehen. Man trägt ja nicht eine Brille und spricht automatisch zehn Sprachen. Man ist nicht reich, wenn man einen Kugelschreiber hat. Der Kugelschreiber war übrigens ein Zeichen der Roten Khmer. Alle hatten einen, zwei, drei Stifte in ihrer Brusttasche, selbst Pol Pot. Je mehr man hatte, desto höher stand man. Hätten wir hingegen einen Kugelschreiber gehabt, hätte es geheißen: Das sind Intellektuelle, die schreiben können. Das ist nicht zu verstehen.

Wenn man nach Kambodscha fährt, fällt einem auf, wie schön das Land ist, wie beeindruckend die Kultur, die Tempel von Angkor.
Und die Leute sind so nett, friedlich und hilfsbereit. Dieses Volk war zu einem Massaker fähig? Ich habe keine Lust, alles zu verstehen. Man muss sagen, dass diese Dinge passiert sind und wie.

Wir sitzen in dem Hamburger Verlag, in dem Ihre Autobiografie „Auslöschung“ erschienen ist. Wie ist es für Sie, in Deutschland zu sein?
Ich habe mich immer für Deutschland interessiert, unsere Länder sind zwei Länder mit Tragödien. Ich war in Nürnberg, das hat mich berührt, ich kannte ja all die Bilder der Aufmärsche der Nationalsozialisten und die Filme von den Nürnberger Prozessen. Das Holocaust-Mahnmal in Berlin finde ich sehr gelungen in seiner Klarheit und Präsenz in der Stadt.

Fehlt ein solches Mahnmal in Kambodscha?
Das Problem ist, wie konserviert man Erinnerung? Mit einem Museum, einem Mahnmal? Ich mag Museen nicht, wo man Tickets kaufen muss, wie im ehemaligen Foltergefängnis S-21 in Phnom Penh. Choeung Ek, eines der sogenannten Killing Fields, auf denen die Menschen zu Tausenden erschlagen wurden, ist etwas besser aufbereitet. Es braucht Künstler, die sich etwas überlegen, ein pädagogisches Konzept, Orte der Besinnung. Derzeit sieht man nur Gefängniszellen, Dokumente, Totenschädel. Die Touristen rennen durch, sagen: Oh, was für ein Horror, und dann trinken sie ein Bier und fahren zum Fluss.

Chum Manh, einer von sieben Überlebenden von S-21, kommt jeden Tag an den Ort, an dem er hätte ermordet werden sollen. Weil er sonst nichts hat.
Niemand kümmert sich in Kambodscha um die Opfer, alle kümmern sich um die Henker. Ich sage immer: Ihr gebt so viel Geld für das Rote- Khmer-Tribunal aus, gebt dem Mann doch ein kleines Stipendium, damit er seine Geschichte aufschreibt, mit Schulklassen redet und mit den Guides, die nur Quatsch erzählen. Aber niemand tut etwas. Es gab noch einen weiteren Überlebenden, einen Maler. Er war krank und hätte eine Dialyse gebraucht. Sie war teuer, niemand hat sie bezahlt, und so ist er gestorben.

Eine Kindheit voller Düfte, Gewürze und Feiern.

„Ich war ein Kind, so konnte ich die Welt auf mich nehmen“, schreiben Sie. Wie sind Sie aufgewachsen?
In einer großen Familie, mit vielen Festen. Cousins kamen vom Land, brachten Früchte und Gemüse. Meine Tanten kochten, meine Mutter pflanzte Minze und Blumen, im Garten hatten wir Hühner und Enten. Ich habe die Eier geholt, mit den Großeltern über dem Feuer gekocht. Es war eine Kindheit voller Düfte, Gewürze und Feiern.

Sie kommen aus bildungsbürgerlichem Elternhaus.
Wir waren neun Kinder und mussten viel lernen, meine Eltern waren sehr streng. Meine Großeltern waren Bauern, sie hatten nur so viel Geld, dass ein Sohn in die Schule gehen konnte, ausgesucht wurde mein Vater. Als er im Bildungsministerium war, reiste er viel, studierte das Bildungssystem in Amerika, Russland, Ägypten und Frankreich. Er sprach zu Hause Französisch, über Poesie und Politik. Kambodscha hat keine Demokratie, keine Justiz, sagte er, wir müssen dafür sorgen, dass alle Bildung erhalten.

Wie war das, als Sie wie alle Städter von Phnom Penh aufs Land getrieben wurden?
Stellen Sie sich vor, Sie müssten die Stadt morgen verlassen, und es gäbe nichts mehr, kein Telefon, keine Infrastruktur, keine Schule, im Radio nur noch Propaganda und Siegesparolen. Doch man passt sich schnell an, die Leute wollen leben. Nach sieben, acht Monaten gab es nichts mehr zu hoffen. Man wusste, es zählte das nackte Überleben.

Eines Tages durchsuchte die Polizei Ihre Familie. Im Tagebuch Ihrer Schwester steckte eine Visitenkarte des Vaters, die ihn als Intellektuellen auswies.
Es ist schwer für sie, damit zu leben, doch es war nicht ihre Schuld. Sie haben meinen Vater nicht sofort exekutiert, weil sie annahmen, dass er hohe Rote Khmer kannte, viele von denen waren ja Lehrer und Professoren. Aber es war nur eine Frage der Zeit, bis sie ihn mitnehmen und töten würden.

Wie starb Ihr Vater?
Er hat eines Tages aufgehört zu essen. Er fand, dass die Nahrung, die man uns gab, nicht für Menschen ist, also hat er sie nicht mehr gegessen. Er hat bis zuletzt Französisch gesprochen, das war seine Form der Provokation. Als mein Vater sich bewusst wurde, dass die Roten Khmer alles zerstören, die Familie, das Leben, die Gesellschaft, ist er durch einen Prozess des Widerstandes gegangen. Am Ende hatte er keine Angst mehr.

Waren Sie stolz auf ihn?
Nein, ich war wütend. Er sollte essen, ich wollte, dass er lebt. Erst Jahre später habe ich ihn verstanden. Ich bin nicht stolz, ich hätte lieber einen lebenden Vater. Aber ich bewundere seinen Mut.

Was wurde aus Ihrer Familie?
Meine Mutter starb im Arbeitslager, meine Brüder und Schwestern machen Unterschiedliches. Einige sind in Frankreich und Deutschland, sie leben, sie arbeiten, aber es geht ihnen nicht sehr gut.

"1,7 Millionen Tote und noch mehr zerstörte Leben"

Ihre Geschwister mussten Zwangsarbeit leisten, Sie selbst als Kind Leichen in ein Massengrab werfen. Reden Sie darüber?
Nein. Man muss respektieren, ob jemand reden will oder nicht. Es gibt 1,7 Millionen Tote und noch mehr zerstörte Leben. Das sind sehr viele Formen der Traurigkeit, und jedes Leid erfordert eine eigene Therapie. Wie wollen Sie jemandem garantieren, dass es ihm besser geht, wenn er redet?

Besteht nicht die Gefahr, dass die Geschichte der Opfer totgeschwiegen wird?
Ich mische mich nicht ein, wie eine Familie das handhabt, nicht einmal bei meiner eigenen. Wie können Eltern einem Kind erklären, warum es Insekten, Rinderhaut, Blätter essen musste? Warum es das Leben eines Höllentieres führte? Es ist schwer für Überlebende, zu reden, weil sie bis zu einem gewissen Grad keine Menschen mehr waren. Eine Familie muss die Seele zur Ruhe bringen, ihre Würde wiederfinden. Es gab eine Kultur vor den Roten Khmer, die auferstehen kann. Man kann wieder kochen, Filme machen, seine Kinder zur Schule schicken. Es ist wichtig, dass nach einem Genozid der Geschmack des Lebens wiederkehrt.

Sie selbst suchten, als Sie in Paris lebten, einen Psychiater auf. Konnte er Ihnen helfen?
Ich litt an Schlaflosigkeit und Panikattacken. Bei mir um die Ecke gab es einen Arzt, einen Psychoanalytiker. Es stellte sich heraus, dass er Jude war und seine Eltern im KZ ermordet wurden. Ich fand ihn sehr sensibel. Er sagte, das wird nie mehr normal, aber man muss das Leben fortsetzen.

Wie kann man so etwas überleben?
Ich glaube an die Banalität des Guten. Es gab tapfere und gute Leute, die andere retteten. Der Mann, der meinem Vater sagte, er solle seine Krawatten verstecken. Der Funktionär, der im Krankenhaus, wo ich arbeiten musste, sagte: Hör auf, die Medikamentenpackungen zu lesen, sonst wirst du denunziert. Er wurde später exekutiert. Und da war meine Mutter, die immer sagte: „Geh weiter!“ Und weitergehen heißt, sich aufrecht zu halten, den Horizont im Auge zu behalten. Ohne diesen Satz „Geh weiter!“ wäre ich nicht mehr am Leben.

Der Soziologe Harald Welzer schreibt in seiner Studie „Täter“, es habe in Kambodscha ein „System einer totalen Gewaltherrschaft“ gegeben, „deren Vollstrecker systematisch zum Töten erzogen wurden“.

Damals unterschied man zwischen dem alten Volk, dem mit der glorreichen Vergangenheit, und dem neuen Volk, den Leuten aus der Stadt, den Intellektuellen. Es gab eine neue Kategorie von Mensch, nicht mehr Mann, Frau, Kind, sondern neu und alt. Es wurde genau gewählt, wer töten darf und wer getötet wird.

Einmal haben Sie und andere Jungen einem Soldaten mit einer Machete aufgelauert. Sie griffen ihn nicht an. „Nicht jeder kann töten“, schreiben Sie.
Der Mann hatte Dorfbewohner umgebracht, aber ich war nicht in der Lage, ihn zu töten. Selbst ein Henker braucht Gesetze und Vorschriften, um jemandem das Leben zu nehmen. Doch ich kann nicht sagen, was passiert wäre, wenn die Roten Khmer zwei Jahre länger an der Macht geblieben wären. Vielleicht hätten sie mich rekrutiert.

Wie sieht das Leben eines Jugendlichen im heutigen Kambodscha aus?
Wenn seine Eltern reich sind, hat er alles, er kann studieren, reisen. Wenn man auf dem Land lebt, hat man keine Bibliotheken, kein Internet. Kambodscha ist das Land der Jugend, 70 Prozent sind jung. Wir müssen dafür sorgen, dass sie Bildung erhalten, sich für unsere Kultur interessieren.

Interessieren sich die Jungen für die Vergangenheit?
Inzwischen ja. Viele kommen in das „Audio Visual Ressource Center“, wo ich Filme, Fotos und Tondokumente sammle. Sie gucken Dokus über Pol Pot, und eines Tages werden sie ihren Eltern Fragen stellen. Wo sind meine Großeltern? Warum wurden sie ermordet? Wer waren die Roten Khmer? Man kann nicht alles erklären, aber man kann einen Teil der Geschichte zugänglich machen.

Sie konnten vor den Roten Khmer erst nach Thailand fliehen, später nach Paris.

Ich bin nicht nach Thailand geflohen. Ich bin freiwillig gegangen, ich wollte meine Familie treffen, eine Zeit lang weg sein, durchatmen.

Seit 1990 leben Sie wieder in Phnom Penh. Wie war es, zurückzukommen?
Ich schaffe es, weil ich mich dafür entschied. Es ist kein Fest, ich komme ja nicht mit einer olympischen Medaille in meine Heimat zurück, sondern mit einer schwierigen Geschichte. Ich bin dort, weil ich nützlich sein kann. Weil ich dazu beitragen will, die Erinnerung an die Toten zu bewahren.

Ihr neuer Film „The Missing Picture“, in dem Sie anhand von Tonfiguren und Archivbildern Ihre Kindheit rekonstruieren, wurde in Cannes geehrt. Wie kamen Sie zum Film?
Ich habe eine Form gesucht, die es mir erlaubt, zu arbeiten. Ich habe erst gemalt, dann habe ich gemerkt, dass Malen teuer ist, die Farbe, das Atelier. Ich hatte kein Geld und habe keine Technik gefunden. Eines Tages borgte mir ein Freund seine Kamera, und voilà.

Für Ihren Film „S-21 – Die Todesmaschine der Roten Khmer“ haben Sie dessen Leiter Kaing Guev Eav, genannt „Duch“, im Gefängnis interviewt. Wie haben Sie ihn erlebt?
Er ist ein Mann, der denkt, liest, schreiben kann, mehrere Sprachen spricht. Ein Mensch, kein Monster. Das war schwer. Wäre er ein Monster, wäre es einfacher gewesen. Er versuchte ständig, sich mit mir zu verbrüdern, sagte, ich wäre ein guter Chef von S-21 gewesen. Seine Botschaft war klar: Du bist wie ich, du hättest an meiner Stelle sein können. Ich entgegnete: Das hast du gewählt, nicht ich. Im Leben entscheidet man sich für Dinge. Manchmal ist es eine leichte Entscheidung, manchmal kostet eine Entscheidung das Leben, wie bei meinem Vater.

Sie sehen Duch als Bürokraten, der Listen der Gefolterten führte, den Folterern ein penibles Regelwerk auferlegte. Verkörpert er die Banalität des Bösen?
Wenn das Böse banal, also in uns allen ist, bin ich dann wie er? War Duch dann ein Opfer? Nein, mein Vater war ein Opfer. Es gab Leute, die ermordet wurden, weil sie Widerstand leisteten und versuchten, ihre Würde zu behalten. Das will ich für die nachfolgenden Generationen festhalten.

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