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Himmelfahrtskommando. „The Flying Ship“ von Alexander Ponomarev schwebt über der Stadt.

© Otto Saxinger

Sommerfestival „Sinnesrausch“: Über den Dächern von Linz

Hier zu wohnen, war ein Makel. Die Stahlindustrie, der historische Ballast. Nun verwandeln junge Künstler die drittgrößte Stadt Österreichs.

Ein Schiff schwebt in der Luft. Ab und zu brechen Sonnenstrahlen durch die Wolken und bringen die mit Aluminium umhüllten Masten zum Glänzen. Am Himmel über dem filigranen Gebilde braut sich gerade ein Sommergewitter zusammen. Darunter erstreckt sich Linz, die drittgrößte Stadt Österreichs.

Das fliegende Schiff ist eine Installation des Künstlers Alexander Ponomarev. Es wirkt märchenhaft, als wäre es gerade aus einem Traum herangeflogen. Mit Stahlseilen ist es an einem Holzturm befestigt, der auf dem Dach eines Linzer Parkhauses steht. Turm und Schiff sind Teil der Sinnesrausch-Ausstellung im „OÖ Kulturquartier“, für die Künstler jeden Sommer neue Werke entwerfen.

Zum ersten Mal fand die Ausstellung 2009 statt, als Linz Europas Kulturhauptstadt war. Sie ist so etwas wie die sommerliche Happy Hour für Kulturtouristen – sie bekommen zwei Dinge für den Preis von einem: das Museum und den Aussichtsturm.

Gefühle aus der Kindheit kommen auf

Wer die 160 Stufen des Holzturms erklimmt und sich auf dem leicht schwankenden Konstrukt umschaut, kann fast alles überblicken, was die Stadt an der Donau bietet. Zum Beispiel den Mariendom gleich nebenan oder den Pöstlingberg mit seiner barocken Wallfahrtskirche, auf den eine der steilsten Bergbahnen der Welt vom Zentrum aus hinauffährt.

Die rauchenden Türme des Industriegebiets sind zu sehen, die grünbewachsenen Berge von Oberösterreich und natürlich die Kunst, die unter einem liegt.

Dort wehen rote Vorhänge im Wind, eine Installation des Designstudios Urgent Agency, das ein wenig an Christos Projekt „The Gates“ im Central Park erinnert. Daneben kraxeln Kinder und wagemutige Erwachsene in einem riesigen Konstrukt aus Netzen und Seilen umher, ein Klettergerüst als Kunstobjekt, erbaut vom Kollektiv Numen/For Use.

Die Gänge sind manchmal so eng, dass man auf allen Vieren kriechen muss und dann wieder so breit, dass man sich ausstrecken und fallen lassen kann. Gefühle aus der Kindheit kommen auf, Erinnerungen ans Toben auf dem Spielplatz. Die Höhe sorgt für Nervenkitzel – unten ist die Stadt zu sehen, durch das Raster der blauen Netze hindurch.

Die Ausstellung soll ein größeres Publikum erreichen als Gegenwartskunst normalerweise anzieht. Die Arbeiten sind ohne Hintergrundwissen zugänglich, Kinder können vieles anfassen und ausprobieren. Manche der Kunstwerke sind dafür da, entdeckt zu werden, nicht nur mit den Augen, sondern mit dem ganzen Körper.

So sieht man sich in einem Raum des Kulturquartiers, ringsherum umgeben von gelben Stoffen. Sie formen Wellen, bäumen sich auf und verfliegen wieder. Die gelbe Blase hat die taiwanesische Künstlerin Te-Yu Wang konzipiert. Das Gebäude war früher eine Schule, der Raum die Aula. Wang kleidete ihn mit Stoff aus, der sich mithilfe von Ventilatoren aufbläst. Einfache Mittel, die eine sinnliche Erfahrung schaffen.

„Die Stadt ist noch im Aufbruch“

Seit dem Jahr als Kulturhauptstadt habe sich vieles in Linz geändert, erzählt die Kuratorin des Kulturquartiers, Genoveva Rückert. „Noch vor zehn Jahren war es ein Makel, in Linz zu wohnen.“ Im stark zentralistischen Österreich ist Wien das Maß aller Dinge. Nun habe sich die kleinere Stadt an der Donau als dynamischer Kulturort etabliert, an der Linzer Kunstuniversität studieren junge Menschen aus dem ganzen Land.

Natürlich könne man nicht mit Städten wie Berlin oder Wien mithalten – die Landeshauptstadt von Oberösterreich hat nur 200 000 Einwohner. Trotzdem lebt und arbeitet die Kuratorin gerne hier. „Die Stadt ist noch im Aufbruch“, sagt sie. Ständig entstehen neue Orte, wie 2017 die Kulturtankstelle, eine Kooperation des Kulturquartiers mit der Kunstuniversität.

Die ehemalige Tankstelle dient als Ausstellungsort, momentan steht davor eine aus mehreren Apfelbäumen bestehende „urbane Streuobstwiese“ auf dem Asphalt.

Torte und Stahl, dafür war Linz lange Zeit bekannt. Die berühmte Linzer Torte, das angeblich älteste Kuchenrezept der Welt, ist immer noch an jeder Ecke zu kaufen. Vom Image als stinkende Stahlstadt versucht Linz hingegen seit Ende der 70er Jahre wegzukommen. Eine konsequente Umweltpolitik sorgte für die Verbesserung der Luftqualität. Die ansässigen Firmen mussten unter anderem in Entstaubungsanlagen investieren. Hinzu kam der Fokus auf Kultur. Modern wollte man werden, in die Zukunft gewandt, auch weil die Vergangenheit dunkel war.

Vom Massentourismus verschont

Hängepartie. Das Kollektiv Numen/For Use hat eine begehbare Röhreninstallation errichtet.
Hängepartie. Das Kollektiv Numen/For Use hat eine begehbare Röhreninstallation errichtet.

© Otto Saxinger

Linz gehörte zu den fünf sogenannten Führerstädten. Hier verkündete Hitler 1938 vor begeisterten Zuhörern den Anschluss Österreichs, in den „Reichswerken Hermann Göring“ am Donauufer wurden Waffen produziert. Nach dem Zweiten Weltkrieg war ein Drittel der Stadt zerstört.

Um prunkvolle Paläste zu sehen, strömten die Menschen nach Wien oder Salzburg. Bis heute ist Linz vom Massentourismus verschont, auch im Sommer kann man entspannt durch die kleine Altstadt schlendern. Statt Souvenirgeschäften gibt es Boutiquen mit nachhaltiger Mode, Eisdielen bieten ausgefallene Sorten in schwarzen Waffeln an. Die mittelalterlichen Fassaden sind sorgfältig restauriert. Immer wieder blitzt das fliegende Sinnesrausch-Schiff über den Dächern auf.

Einen Kontrast zur adretten Altstadt stellt der Hafen am östlichen Rand von Linz dar. Mit einem kleinen Schiff kann man dort durch die Hafenbecken fahren. Eingepackt in neonfarbenen Schwimmwesten geht es vorbei an Containern und Industriehallen. Plötzlich erblickt man bunte Fabelwesen, einen in zwei Hälften geteilten Steinbock, dessen blutiges Inneres freigelegt ist, und Graffiti, die Berliner auch aus Kreuzberg kennen.

„Mural Harbour“ nennt sich diese Freiluftgalerie, die Wandgemälde von Streetart-Künstlern aus aller Welt zeigt. Ständig kommen neue Werke dazu. Ganz am Ende der Industriezeile am Wasser hat das Künstlerkollektiv Time’s Up seinen Sitz.

Vor dem Studio wachsen Blumen aus Badewannen, eine Diskokugel hängt in der chaotischen Werkstatt. Time’s Up ist eine Institution der freien Szene. Dass der Hafen einmal kulturell erschlossen werden könnte, war 1996, als das Kollektiv einzog, noch nicht abzusehen. „Die ersten 15 Jahre waren wir hier allein“, erzählt Tina Auer, die zu den Gründungsmitgliedern gehört.

Heimat der digitalen Kunstszene

Ihnen haben immer die Nicht-Orte, die Plätze dazwischen gefallen, sagt Auer, vorher saß die Künstlergruppe neben einem Schrottplatz. Dass das international agierende Kollektiv seinen Sitz in Linz hat, liege an der aktiven Subkultur, erklärt Auer. Es habe hier schon immer Platz für Experimente gegeben und damit einen Nährboden für freischaffende Künstler. Beispielsweise wurde 1979 der inzwischen weltweit bekannte Kunstpreis Ars Electronica ins Leben gerufen.

Eine der ersten Veranstaltungen überhaupt, die sich mit digitaler Kunst befasste. 1996 eröffnete das zugehörige Center, sieben Jahre später das Lentos Museum für moderne Kunst. Heute stehen sich die Gebäude am Donauufer gegenüber.

Während die riesigen Glaskästen tagsüber unspektakulär aussehen, leuchten sie nachts bunt. Die Fassadenbeleuchtung des Ars Electronica Center lässt sich selbst steuern. Die Lichter wechseln im Takt der eigenen Musik, die man vor dem Gebäude an einer MP3-Station anschließen kann.

Experimentelle Medienkunst ist natürlich auch ein Schwerpunkt des Sinnesrausch-Festivals. Den „elastischen Raum“ von Gianni Colombo aus den späten 60er Jahren haben die Macher für die Schau im Kulturquartier nachgebaut.

In einem schwarzen, vier mal vier Meter großen Zimmer sind Schnüre gespannt und mit Schwarzlicht beleuchtet. Sie bewegen sich mithilfe eines Motors. Der Raum wirkt computeranimiert, ist jedoch komplett analog, was man spätestens dann merkt, wenn man versehentlich gegen eine der Schnüre stößt.

Erst Bodysurfen, dann Linzer Torte kosten

Ein paar Räume weiter kommen vor einer Videoleinwand kleine und große Menschen zusammen. Kinder nehmen sich an die Hände und drehen sich im Kreis, seriöse Kunstbetrachter lassen sich zu Verrenkungen hinreißen. Wie in einem Zerrspiegel erstrecken sich die Gliedmaßen auf der Leinwand meterlang in verschiedene Richtungen. Je wilder die Bewegungen und je mehr Leute mitmachen, desto spektakulärer sind die Ergebnisse. Konzipiert hat diese Installation der Choreograf William Forsythe.

Drehwurm. Vom Heatherwick Studio kommt der Stuhl „Spun“ zum Schaukeln und Kirchturmgucken.
Drehwurm. Vom Heatherwick Studio kommt der Stuhl „Spun“ zum Schaukeln und Kirchturmgucken.

© Otto Saxinger

Auf dem Dach des Parkhauses, wo auch das Schiff und der Holzturm stehen, erinnert die Stimmung inzwischen eher an ein Freibad als an ein Kunstmuseum: Kinder rennen vergnügt kreischend zwischen weißen Rohren herum, die immer wieder Wasser ausspritzen.

Der glitschige hellblaue Boden eignet sich bestens zum Bodysurfen. Die Rohrkonstruktion stammt vom Künstler Benjamin Bergmann und ist unberechenbar. Wer trocken bleiben will, sollte sie lieber umgehen. Einige Stammgäste stellen sich an heißen Tagen bereits in Badekleidung an, erzählt einer der Guides, der durch die Ausstellung führt.

Um eine Pause von Computerkunst und Kletteraktionen zu machen, setzt man sich am besten mit einem Eistee auf die Terrasse. Wenn dann der Wind ab und zu ein wenig Wasser von der Installation nebenan herüberweht und man die Aussicht über Linz genießt, scheint das Image der stinkenden Stahlstadt endgültig in weite Ferne gerückt. Ganz nah hingegen ist das andere Wahrzeichen der Stadt: Linzer Torte steht natürlich auch hier auf der Speisekarte.

Reisetipps für Linz

Hinkommen

Einmal täglich fährt die Bahn direkt von Berlin nach Linz, ab 39,90 Euro. Die Fahrt dauert sechs Stunden. Am günstigsten ist die Fahrt mit dem Flixbus, ab 25,99 Euro. Die dauert allerdings auch fast zwölf Stunden.

Unterkommen

Das Arte Hotel Linz steht ganz im Zeichen der Kunst, jedes Stockwerk ist einem anderen Linzer Kulturprojekt gewidmet. Direkt nebenan steht das Ars Electronica Center. Ein Doppelzimmer kostet ab 85,50 Euro

Rumkommen

Das Sinnesrausch-Festival findet noch bis zum 13. Oktober statt, im OÖ Kulturquartier, Mittwoch bis Montag von 10-20.30 Uhr. Erwachsene bezahlen 10 Euro Eintritt, Kinder die Hälfte. Mehr Infos unter sinnesrausch.at. Diese Reise wurde unterstützt von der Österreich Werbung.

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