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Aus der Luft sind die Strukturen auf dem gefrorenen Baikalsee sichtbar. Durch die hohe Spannung entstehen stets neue Risse im Eis.

© Dennis Schmelz

Sibirien: Eine Zugreise zum zugefrorenen Baikalsee

Einmal mit der Transsib fahren, einmal auf dem Baikal stehen, die Naturgewalt des tiefsten Sees der Welt erleben. Und abends Rote Bete, Birkenzweige und Banja.

Da entschließt man sich zu einer Zugreise durch Sibirien ausgerechnet im Winter, um einmal auf dem zugefrorenen Baikalsee zu spazieren, und sitzt plötzlich in kurzer Hose und T-Shirt auf dem roten Samtsofa seines Abteils, trinkt schwarzen Tee und schwitzt.

Sibirien ist vor allem für seine Kälte berüchtigt. Aus Schauergeschichten, dem Erdkundeunterricht und TV-Dokus. Wenn schon zugreisen in diesen unwirtlichen Teil der Welt, dann auch richtig, nämlich im Winter.

Das stellt sich nun als ziemlich gemütlich heraus, jedenfalls solange man den Zug nicht verlässt. Geheizt wird großzügig. Je kälter es draußen ist, so lautet offenbar die Gleichung, desto höher muss die Innentemperatur sein. Im Grunde die Umkehrung spanischer Hotels. Früher kamen nach Sibirien nur die ganz harten Hunde oder jene, die hierhin verbannt wurden. Dostojewski zum Beispiel wurde vier Jahre nach Omsk geschickt, ihm wurde für die Dauer seiner Strafe sogar das Schreiben verboten.

Beim ersten Stopp auf sibirischem Boden hält man diesen Teil der Strafe eher für theoretisch, denn bei minus 17 Grad ließe sich mit frostzittriger Hand sowieso kein klarer Satz zu Papier bringen. Und das soll erst der Anfang sein. Die Reise wird weiter nach Osten und die Temperatur wird weiter nach unten gehen. Der Zug ist nicht irgendeiner, sondern die Transsibirische Eisenbahn. In ihrer vollen Distanz ist sie die längste Zugverbindung der Welt, mit 9288 Kilometern Gleisen von Moskau bis Wladiwostok. Gebaut vor gut 100 Jahren. Mehr als zwei Wochen dauert die Fahrt inklusive Stopps.

Morgens Städte besichtigen, nachmittags auftauen

Der Fahrplan bestimmt den Tag, und der ist in der Regel zweigeteilt: morgens aussteigen, Städte besichtigen, spüren, wie die Kälte sich von unten erst durch die Stiefel, vorbei an den Zehenwärmern und zwei Paar Socken entlang der Skihose unter die Thermobuxe schiebt. Nachmittags zurück in den Zug, Zwiebellook ausziehen, auftauen, sich im Abteil durch die Taiga schaukeln lassen. Man tuckert vorbei an Datschen und Dörfern, die unbewohnt aussehen. Vorbei an verschneiten Hügeln und kahlen Baumstämmen – weißer wird’s nicht. Man denkt an Dostojewski und Verbannung, an die Kälte vom Vormittag und daran, wie heiß einem gerade ist.

Draußen ziehen die Birken und der Tag vorbei, kurzes Nickerchen, der Zug hält. Technischer Stopp in Nowosibirsk. 20 Minuten Zeit für frische Luft und um sich die Beine zu vertreten. Schnell die Funktionshose wieder an, Pulli, Jacke, Mütze.

Die Digitalanzeige am Gleis zeigt minus 19 Grad. Ältere Damen spazieren auf und ab und verkaufen Strickhandschuhe. Die russischen Zugreisenden stehen derweil im Schnee und rauchen eine nach der anderen. Sie tragen Shorts und Flipflops und sehen nicht aus, als würden sie frieren.

Am Nachmittag betrachtet der Reisende aus dem Zugfenster Birken, Birken, Birken.
Am Nachmittag betrachtet der Reisende aus dem Zugfenster Birken, Birken, Birken.

© Dennis Schmelz

Platzkartny-Waggons sind nichts für Geruchsempfindliche

Für viele Russen ist die Transsib kein Sehnsuchtsort und auch kein Urlaub, sondern die günstigste Gelegenheit, um weite Strecken zurückzulegen. Sie reisen nicht wie ein großer Teil der Touristen in Abteilen, sondern im sogenannten Platzkartny-Waggon. 54 Stockbetten verdrängen Privatsphäre und Sauerstoff, Fenster bleiben bei den Temperaturen verschlossen. Das ultimative Transsib-Erlebnis für Menschen, die nichts zu verbergen und keinen empfindlichen Geruchssinn haben. Der Weg zum Speisewagen führt mittendurch. Dass von den oberen Stockbetten der eine oder andere blanke Fuß auf Kopfhöhe in den Gang ragt, zügelt den Appetit.

So vergehen die ersten Tage. Die Städte gleichen sich ab Moskau ostwärts zunehmend. Omsk, Nowosibirsk, Krasnojarsk – sibirische Eklektik nennt das ein Reiseführer. Ein Sammelbegriff für einen Mix aus Zuckerbäckerstil und Plattenbauten im Verhältnis von 20 zu 80.

Mit dem Strom. Morgens geht es raus, zum Sightseeing nach Krasnojarsk.
Mit dem Strom. Morgens geht es raus, zum Sightseeing nach Krasnojarsk.

© Christopher Schmid

Stimmung wie auf Klassenfahrt

Die Nachmittage sind gefüllt mit Wodkaproben und der Erkenntnis, dass Nichtstun und Zwangsverzicht auf Internet erholsam sind. Mittlerweile hat man die unzähligen Funktionen des Zugabteils halbwegs durchdrungen. Keine Schraube ist überflüssig, keine Ecke ungenutzt. Wie bei einem zu groß geratenen Schweizer Taschenmesser lässt sich ständig irgendwo ein Stuhl, ein Tisch oder eine Leiter ausklappen. Ein sehr schickes Taschenmesser mit Messingbeschlägen und Samtgriff, dessen Funktionsumfang sich am Abend erst richtig zeigt.

Dann herrscht Stimmung wie auf Klassenfahrt, mangels Alternativen und weil man ja nicht den ganzen Tag allein aus dem Fenster blicken kann, rückt man mit anderen Reisenden zum Schnack in einem Abteil zusammen. Die Couch, zum Bett ausgeklappt, bietet Platz für vier Personen, sofern diejenige am Fenster schlanke Beine hat, die unter den Tisch passen. Der Platz gegenüber ist dann eher was für kleinere Menschen. Wenn die Obstschale ins Gepäckfach wandert, kann derjenige auf dem Hocker auch sein Glas auf dem Tisch abstellen. Für die anderen in Türnähe muss die in der Wand versenkbare Leiter, die eigentlich zum Hochbett führt, als Abstellfläche reichen. Nur derjenige auf dem Klappsitz zum Gang muss ständig aufstehen, wenn jemand zur Toilette am Ende des Waggons muss. So zusammengepfercht probiert man noch mal von dem Wodka und versucht irgendwann vor dem Schlafengehen, die diversen Beine wieder zu entknoten.

Irkutsk, das „Paris des Ostens“?

Die Abteile der Transsibirischen Eisenbahn werden angenehm beheizt, während draußen bei minus 30 Grad die Nase zufriert.
Die Abteile der Transsibirischen Eisenbahn werden angenehm beheizt, während draußen bei minus 30 Grad die Nase zufriert.

© Christopher Schmid

Dann kommt Irkutsk. Als der Zug am nächsten Morgen um kurz vor sieben Uhr hält, sind es draußen bei Dämmerung minus 24 Grad. Und auch wenn man es vorher für unwahrscheinlich hielt, merkt man selbst in diesem Extrembereich den Unterschied von ein paar Grad. Vor allem daran, dass das Gesicht schneller brennt, das Einatmen in der Lunge zieht – und an der schmerzhaften Lektion, dass man sich zwar mit vielen Schichten Funktionskleidung ganz gut präparieren kann, es aber alles nichts nützt, wenn einmal die Hände und Füße kalt geworden sind. Nähert man sich der 30-Grad-Marke, kann man förmlich spüren, wie einem der Rotz in der Nase gefriert.

Den Smog über der Stadt riecht man trotzdem. Die meisten heizen mit Kohle oder verfeuern gleich ihren Müll. Das sei ein Problem, vor allem dann, wenn es richtig frostig wird. „Jetzt gerade ist es doch halb so wild“, sagt eine Irkutskerin über das Wetter, „vor einer Woche hatten wir 40. Das war kalt.“ Das Minus vor der Zahl spricht hier übrigens niemand aus. Vor dem Bahnhof verkauft ein Kioskbetreiber Eis am Stiel.

Die Stadt hat einen Standortvorteil

Von Irkutsk sagen manche, es sei das „Paris des Ostens“. Wer das behauptet, war vermutlich noch nie in Frankreich oder bezieht sich auf einen sehr geheimen Teil der Stadt. Keine Prunkbauten, keine schicken Boulevards, keine Patisserien. Irkutsk hat seinen eigenen Charme, die nett verzierten Holzhäuser wirken wie verschlafene Ortschaften aus dem Wilden Westen, nur mit mehr Raureif. Surreal wirkt im Morgenlicht das Ufer des Flusses Angara. Der fließt so schnell, dass er nicht vereist. Dadurch dampft es an der Oberfläche wie über einem Kessel. Rauchend, aber nicht frierend, erinnert er an die Russen am Bahnsteig.

An der Uferpromenade kehrt jemand Schnee und Dreck zusammen. Gearbeitet werden darf draußen bis minus 25 Grad. In manchen Regionen Ostsibiriens bekommen die Einwohner zusätzliche Urlaubstage gesetzlich garantiert, weil die Kälte ihnen das Leben so schwer macht. In Irkutsk bekommen sie außerdem acht freie Tage pro Jahr mehr als zum Beispiel die Moskauer, weil Reisen in die Hauptstadt, zu Freunden oder Verwandten, schon einige Tage der Anreise beanspruchen würden.

Immerhin einen Standortvorteil hat auch Irkutsk. Eine der wohl spektakulärsten Landschaften entlang der Transsib-Strecke liegt nur ein paar Kilometer von hier entfernt: der Baikal. Mit 25 Millionen Jahren ist er der älteste See der Welt. An seiner tiefsten Stelle geht es 1642 Meter nach unten, das Wasser des Bodensees würde 500 Mal in ihn hineinpassen. Er speichert mehr als 20 Prozent des weltweiten Süßwasservorrats und gilt als einer der saubersten Seen der Welt.

Irkutsker fahren mit dem Auto übers Eis

Das alles hatte man vorher gelesen, während man mit dem Zug gen Osten klackerte, und doch ist nichts davon fassbar, bis man selbst draufgestanden hat. Vom Ufer aus geht es mit dem Luftkissenboot auf den See, am Ziel angekommen deutet der Fahrer mit Hang zu Camouflage-Kleidung auf die Luftbläschen im Eis. „Methangas“ sagt er, darauf wartend, die Touristen später wieder an Land zu bringen, bevor es gänzlich dunkel wird. Zum Glück ist die Region um den Baikalsee recht trocken, es schneit eher selten. Dadurch liegt das Eis frei, an manchen flachen Stellen kann man wie durch dickes Panzerglas bis auf den Grund blicken.

Im Winter ist es bis zu einem Meter dick, für diejenigen, die hier wohnen, bedeutet das eine Abkürzung zwischen dem Ost- und dem Westufer. Der See ist je nach Wasserstand nur rund 80 Kilometer breit, aber erstreckt sich von Norden nach Süden über 636 Kilometer. Das bedeutet im Sommer einen ziemlich langen Umweg. Daher fahren die Menschen aus der Region Irkutsk im Westen in die Region Burjatien im Osten einfach mit dem Auto übers Eis, kleine Tannenbäume stecken provisorisch eine Art Straße ab. Und immer wieder nutzen auch Lkw die Strecke. Von Zeit zu Zeit bricht mal einer ein und verschwindet in der Tiefe, angeblich jedes Jahr, aber darüber reden sie hier nicht so gern. Als Fußgänger muss man sich zum Glück nicht wirklich sorgen.

Trotzdem knackt und knallt es permanent, und plötzlich tut sich zwischen den Füßen ein Riss auf. Keiner, der einen verschlingen würde. Er reicht nicht einmal bis ganz zur Oberfläche. Trotzdem ist er groß genug, um daran zu erinnern, wie fragil das alles ist. Das und die kalten Füße holen einen langsam zurück auf den kalten Boden der Tatsachen und erinnern daran, dass die Temperatur der einzige Grund ist, warum man hier in diesem Augenblick stehen kann. Ein bisschen ausharren, gleich geht die Sonne unter und absolut nichts versperrt den Blick auf sie. Der Himmel ist klar, die Felsen am Ufer leuchten bronzen, das Licht bricht auf dem Eis. Die tauben Zehen sind für ein paar Minuten egal.

Zum Glück fehlt nur ein wärmender Wodka bei russischer Musik mit Blick auf den See.
Zum Glück fehlt nur ein wärmender Wodka bei russischer Musik mit Blick auf den See.

© Christopher Schmid

Im Sommer würde alles nur halb so viel Spaß machen

Die Menschen aus der Gegend sagen, im Sommer sei der See ein beliebter Badeort. Man kann es sich gerade nicht nur wegen der Temperaturen und wegen des Umstands schwer vorstellen, dass man durch einen Meter Packeis nur schlecht ans Wasser kommt. Welcher Westeuropäer hat schon mal den Satz „Ich mache Badeurlaub in Sibirien“ gehört? Russen verbringen hier häufiger ihre Sommerferien, der Präsident kommt manchmal zum Angeln her. Doch das Ufer sieht nicht nach Massentourismus aus. Keine Bierbuden und Hotelblöcke, dafür kilometerweit unverbaute Natur. Ein paar Datschen hier und da, die manche Russen als Sommerhäuser benutzen und andere, obwohl es verboten ist, ganzjährig als Wohnsitz.

Einige dieser Familien bieten Reisenden an, für einen Abend Gast sein zu dürfen. Man sollte dann in jedem Fall Hunger mitbringen. Auf dem Tisch stehen Pilze, Gurken, Kürbis, Rollmops, Rote-Bete-Salat, Kaviar, Algensalat und Gebäck. Als man sich gerade mit letzter Kraft gemeinsam mit dem fetten Hauskater in die Nähe des Kamins gekugelt hat, teilt der Hausherr stolz mit, dass in Kürze die Hauptspeise serviert werde. Hackbällchen.

Dann helfen nur noch zwei Dinge: ein Glas vom Selbstgebrannten mit 70 Prozent und eine Schwitzkur in der Banja. Sohn Denis ist extra aus Irkutsk zur Datscha am See gefahren, um in die Geheimnisse der russischen Sauna einzuführen. Und das tut er mit großer Hingabe. Anschwitzen, abduschen, abkühlen, anwärmen. Aufguss, dann bittet Denis, sich auf den Bauch zu legen, drapiert einem Eichenzweige übers zur Seite gedrehte Gesicht und peitscht mit einem anderen Bündel leicht den Rücken. Gut für die Durchblutung soll das sein, als ob der Selbstgebrannte da nicht schon ganze Arbeit geleistet hätte.

Zum Schluss – das ist ein wichtiger Teil des ganzen Sauna-Vorgangs – kommt das Abkühlen. Nächster Standortvorteil Sibiriens: Dafür muss man einfach nur kurz vor die Tür gehen. Nur nicht mehr aufs Eis, nach dem ganzen Essen würde man vermutlich einbrechen wie ein voll beladener Sattelschlepper. Während der Körper langsam zu Normaltemperatur und -gewicht zurückkehrt, wird einem klar: Im Sommer würde das alles nur halb so viel Spaß machen. Und selbst wenn die Füße vor Kälte kribbeln – aufwärmen kann man sich im Zug ja immer noch.

Reisetipps für Russland

Hinkommen

Die Transsibirische Eisenbahn startet ab Moskau oder in umgekehrter Richtung von Wladiwostok. Eine Alternativroute führt vom Baikalsee durch die Mongolei bis nach Peking. Am bequemsten ist die Anreise nach Moskau mit dem Flugzeug. Von Berlin etwa in zweieinhalb Stunden mit Aeroflot ab 140 Euro.

Unterkommen

Am einfachsten ist eine Transsib-Fahrt als Komplettpaket mit einem Reiseveranstalter. Dann sind An- und Abreise, Unterkünfte auch außerhalb des Zuges und Stadtrundfahrten organisiert. Die 16-tägige Variante von Moskau bis Peking kostet in der günstigsten Kategorie im Vierer-Abteil mit Gemeinschaftstoiletten ab 4320 Euro, die Luxus-Ausführung mit eigenem Bad und geräumigem Bett kostet ab 13 940 Euro, lernidee.de.

Weiterkommen

Für Individualisten, die sich ihren Reiseplan lieber selbst zusammenstellen, hilft ein Blick ins „Transsib-Handbuch“, erschienen im Trescher Verlag. Zur Inspiration lohnen sich die Dokumentationen der langjährigen ARD-Korrespondenten Gerd Ruge und Klaus Bednarz.

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