zum Hauptinhalt
Die schottische Antwort auf Beyoncé. Lewis Capaldi, 22, nimmt sich selbst nicht zu ernst.

© Kai-Uwe Heinrich

Shootingstar Lewis Capaldi: „Ich reiße lieber Schamhaarwitze“

Sobald etwas schmerzt, kriegt er Panik. Der Musiker Lewis Capaldi über Hypochondrie, seinen rasanten Aufstieg und die Unlust, erwachsen zu werden.

Mister Capaldi, Sie sind der erste Künstler in Großbritannien, der eine Stadiontour ausverkauft hat, bevor überhaupt sein Debütalbum erschienen ist.

Ich muss mich jeden Tag kneifen. Früher habe ich Ed Sheeran auf der Bühne gesehen und ihn als Anomalie betrachtet.

Er ist momentan der erfolgreichste britische Musiker. Was soll an ihm nicht stimmen?

Das gibt es eigentlich nicht, dass ein Kerl allein mit einer Akustikgitarre ein Stadion ausverkauft. Und als mir das passierte, war ich überrascht. Vergangenes Jahr spielte ich vor 2000 Zuschauern, ich dachte, das ist der Höhepunkt meiner Karriere. Jetzt verhandeln wir über Zusatztermine in großen Arenen. Ich bin besorgt, weil alles so schnell geht. Schaffe ich es, eine große Tour durchzuziehen? Was kommt nach diesem Album?

Ihr Debüt erschien vor einigen Wochen und verkaufte sich mehr als eine Million Mal, die Single „Someone You Loved“ stand europaweit in den Top Ten, auch in Deutschland sind Ihre Konzerte fast ausverkauft. Bereiten Sie sich mental auf einen Backlash vor?

Ich denke nicht zu sehr darüber nach, aber ich muss akzeptieren, dass es bergab gehen kann. Mich macht es nervös, dass die Zuschauer aus dem Konzert kommen und enttäuscht nach Hause gehen könnten.

Ed Sheeran sagt, er spricht die Leute an, weil er harmlos sei. Sie glauben: „Er wird nicht mit meiner Frau schlafen, er wird mich nicht schlagen, er ist einfach ein netter Typ.“ Was sieht das Publikum in Ihnen?

Ich tue ihm leid. Come on, schau dir diesen pummeligen Kerl an, der kann keinem was.

Ist das eine Verteidigungsstrategie von Ihnen, sich lächerlich zu machen, bevor andere es tun?

Ich mag es nicht, wenn jemand mir Komplimente macht. Wenn ich früher nach einem Auftritt im Pub ein Lob bekam, fühlte ich mich unangenehm berührt. Hat vielleicht damit zu tun, dass ich aus Schottland komme. In unserer Familie ist es Tradition, sich zu loben, indem man sich gegenseitig aufzieht. Wir machen uns über die Glatze meines Vaters lustig, obwohl er nur eine Stelle am Kopf hat, wo keine Haare mehr wachsen. Ich hatte als Kind immer Segelohren, meine Eltern haben mich ständig damit aufgezogen. Das war nicht bösartig, sondern liebevoll gemeint.

Sie nehmen sich selbst nicht ernst, nennen sich die schottische Antwort auf Beyoncé. Was qualifiziert Sie dafür?

Wir teilen dieselbe Aura, finde ich. Queen Bee und ich singen, tanzen, und wir sehen super dabei aus. Ich könnte auch mal twerken, ich meine, wie schwer kann das schon sein.

Im Gegensatz zu Beyoncé vermarkten Sie sich nicht als Sexsymbol, beschreiben sich als „melting hippo“ – als zerlaufendes Flusspferd.

Ich sehe einfach so aus. Liebend gern hätte ich Muskeln. Eines Tages! Meine Eltern ärgern sich manchmal über Kommentare, die im Internet über mein Aussehen stehen. Ich habe den Verdacht, sie denken, wenn mich jemand als hässlich beschimpft, fällt das auf sie zurück.

Wie wäre es, mal einen Tag mit den Teenie-Stars von den Jonas Brothers zu tauschen und zu sehen, wie das Leben mit Sixpack wäre?

Ich habe die Jungs neulich in einer Fernsehshow getroffen. Die sehen schon unverschämt gut aus. Wenn ich mit ihnen für einen Tag tauschen könnte, dann nur, um etwas Geld von ihrem Bankkonto auf meines zu überweisen.

Bis vor Kurzem haben Sie unter Panikattacken gelitten. Hatte das mit Ihrem Aussehen zu tun?

Nein, der Grund ist meine Paranoia. Ich bin ein schlimmer Hypochonder. Ständig mache ich mir Sorgen, dass ich krank werden könnte. Obwohl ich noch nie eine Operation erlebt oder einen Knochen gebrochen habe. Das ist die Angst vor dem großen Unbekannten. Habe ich von meinem Vater. Als ich jünger war, rief er oft den Notarzt: Ich muss ins Krankenhaus, mit mir stimmt was nicht. Wenn ich in der Schule einen Pickel bekam, dachte ich sofort, unheilbare Krankheit, das war’s, ich werde sterben.

Sind Sie einer von diesen Menschen, die sich ständig die Hände waschen aus Angst vor Bakterien?

Überhaupt nicht, erst wenn etwas schmerzt, kriege ich Panik. Ich gehe auf Google und lese mir die schlimmstmögliche Diagnose durch. Meine Hypochondrie brach letztes Jahr auf Tour wieder aus, mir wurde schwindlig, und ich war überzeugt, ich hätte einen Gehirntumor. Meine Mutter ist Krankenschwester, sie erklärte mir, Lewis, mit dir ist alles in Ordnung. Nein, Mum!

„Die Leute haben gesehen, wie ich nach Luft geschnappt habe“

Capaldi trug auf dem Glastonbury Festival ein T-Shirt mit dem Konterfei des Oasis-Gründers Noel Gallagher.
Capaldi trug auf dem Glastonbury Festival ein T-Shirt mit dem Konterfei des Oasis-Gründers Noel Gallagher.

© imago/UPI Photo

Warum haben Sie ihr nicht geglaubt?

Weil die Anfälle schlimmer wurden. Im Nachhinein glaube ich, ich war zu viel unterwegs, konnte mich kaum erholen. Ich habe mir vorgestellt, wenn ich jetzt krank werde, muss ich alle Konzerte absagen, mein Album verschieben, meine Band wird für Monate arbeitslos sein – und ich fühlte mich umgehend schuldig. Was natürlich zu noch mehr Anfällen führte, ich glaube, es waren etwa 25 im Zeitraum eines Jahres.

Hatten Sie jemals einen auf der Bühne?

Oh ja, einmal in Manchester, als ich für die Band Bastille im Vorprogramm auftrat. Den ganzen Tag über spürte ich einen stechenden Schmerz in der Seite, abends zitterte ich am ganzen Leib und dachte, gleich platze ich. Ich ging ans Mikro und sagte zu den Zuschauern: Sorry, ich habe einen Panikanfall, ich kann nur noch einen Song spielen.

Keiner, der auf Twitter geschrieben hat: Der spinnt?

Nein, die Leute haben gesehen, wie ich nach Luft geschnappt habe. Wie ich unruhig wurde und herumzappelte, als wäre ich ein Drogensüchtiger, der seinen Stoff braucht. Seit Januar habe ich das jedoch im Griff und keinen Anfall mehr.

Wie haben Sie das geschafft?

In der Notaufnahme haben mir Ärzte gesagt, dass ich wahrscheinlich unter Panikattacken leiden würde. Danach suchte ich eine Therapeutin, die darauf spezialisiert ist. Wir redeten über meine Hypochondrie, arbeiteten eine Therapie aus.

Und wie sieht die aus?

Mehr Sport. Womit wir beim Sixpack wären. Ich stehe jeden Morgen auf, trainiere eine Stunde, ein bisschen Kardio und mit Gewichten, obwohl ich es verdammt noch mal hasse. Das gibt mir Stabilität und Struktur für den Tag, weil mein Leben ansonsten überhaupt keiner Routine folgt.

Die einzige Konstante in Ihrem Leben bestand darin, Gigs zu spielen. Schon mit zwölf Jahren traten Sie in Pubs auf.

Mein erstes Mal war noch früher, mit vier Jahren. Ich fuhr mit meinen Eltern nach Frankreich in den Urlaub, in dem Wohnwagenpark, wo wir die Ferien über blieben, fand einmal pro Woche eine Kabarettnacht statt. Dort spielte eine Band, und ich sang „We Will Rock You“ von Queen. Diese Erfahrung gefiel mir enorm, seitdem will ich dieses Gefühl immer wieder neu erleben. Mit neun begann ich, Gitarre zu spielen, ein Jahr später hörte ich auf, und mit elf kramte ich sie wieder hervor. Ich spielte sofort kleine Gigs in Pubs.

Nicht erst mal zu Hause in der Garage üben?

Man nimmt doch keine Gitarre in die Hand, ohne mit ihr hinaus in die Welt zu wollen. Das gehört nicht zu meinem Verständnis von Musik. An der Highschool traf ich Musiker, die in Schlafzimmern ihre Griffe perfektionierten, jedoch keine Ahnung hatten, wie es ist, vor einem Publikum zu stehen. Ich konnte es nicht fassen! Ich hatte sieben Jahre Bühnenerfahrung hinter mir, während diese Jungs noch nicht einen Gig gespielt hatten.

Was denken Betrunkene, wenn ein Zwölfjähriger anfängt, Queen zu singen?
Oh, der ist niedlich, er ist ja noch nicht mal im Stimmbruch, mach weiter so, Junge. Nur wenn du 15 bist, Pickel kriegst, jeder deine Segelohren sieht und deine Stimme nicht mehr so hübsch wie die eines Chorknaben klingt, dann bist du plötzlich der hässliche Junge mit der Roströhre. Ich hatte damals eine Frisur wie Justin Bieber, in die Stirn geföhnte Haare. Manchmal riefen mir die Leute zu, hey Justin, du spielst beschissen.

Was haben Sie in dieser Zeit gelernt?

Laut zu singen. Wenn man die Aufmerksamkeit in einem Pub will, kann man nicht leise vor sich hinnuscheln.

Live zu spielen, ist der einzige Grund, warum Sie das alles tun. Warum wollen Sie sich vor Tausenden von Fremden entblößen?

Das ist ein Adrenalinkick, den man nirgendwo anders bekommt.

Bungee-Jumping?

Vergessen Sie es, ich habe Höhenangst. Nein, die Bühne ist mein natürliches Element. Ich liebe es, zu beobachten, wie die Zuschauer reagieren. Es ist doch gar nicht so, dass ich mich entblöße, sondern das Publikum öffnet sich mir. Sie zeigen reine, ungefilterte Emotionen, sobald sie auf meine Lieder reagieren. Sie fassen sich an den Schultern, wenn sie gute Laune haben, oder heulen sich die Augen aus, wenn es traurig wird.

„Niemand weiß, wie man einen Hit schreibt“

Mit neun begann Capaldi, Gitarre zu spielen. Drei Jahre später trat er schon in Pubs auf.
Mit neun begann Capaldi, Gitarre zu spielen. Drei Jahre später trat er schon in Pubs auf.

© imago/Ritzau Scanpix

Sie sagen, Ihre Arbeit bestehe darin, vier Stunden am Klavier zu sitzen, sich drei Stunden und 45 Minuten darüber zu ärgern, dass Sie nichts schaffen, und sich in den letzten 15 Minuten über eine gelungene Zeile zu freuen. Was geht dabei in Ihrem Kopf vor?

Eine Stimme raunt: Du bist verdammt scheiße, du kannst deinen Job nicht, du wirst nie wieder einen guten Song schreiben. Ich fange um zehn Uhr abends an, hocke am Klavier, spiele mit Ideen, plötzlich ist es vier Uhr morgens, und ich habe nichts auf die Reihe gekriegt.

Gary Barlow behauptet, er habe den Take-That-Hit „Back for Good“ innerhalb von 15 Minuten geschrieben. Was machen Sie falsch?

„Someone You Loved“ hat Monate gedauert, bis er fertig war. Es gibt einfach unterschiedliche Arten zu schreiben. Für mich entfaltet sich die Magie erst in einem langen Findungsprozess.

Wie beginnen Sie?

Ich spiele ein paar Akkorde am Klavier, dazu murmele ich Fantasietexte, blablabla, dann schaue ich, ob etwas hängen bleibt. Reines Experimentieren. Ich glaube nicht an Handbücher, die einem erzählen wollen, wie Songwriting funktioniert. Niemand weiß, wie man einen Hit schreibt, man hat einfach nur Glück.

Ihre Erfolgsformel: traurige Lieder singen. Weil die einfacher zu schreiben sind?

Definitiv. Sie denken mehr nach, wenn Sie traurig sind, analysieren jedes Detail. Haben Sie Bombenlaune, denken Sie höchstens, schön, ich gehe jetzt mal mit dem Hund raus. Melancholie ist ein wichtiges Gefühl. Mir gefallen diese Sonntagabende, wenn ich plötzlich traurig werde, an die Menschen denke, mit denen ich zur Schule gegangen bin und die ich seitdem kaum noch sehe.

Verraten Sie uns einen guten Wehmutssong?

„From Under Liquid Glass“ von der britischen Band Peace, da geht es um genau dieses Gefühl. Dass jeder um einen herum sich weiterentwickelt, nur man selbst noch an den Ort gefesselt ist, an dem man aufgewachsen ist. Ich halte es für eines der besten Lieder aus den vergangenen 15 Jahren. Ich kann mir diesen Typen gut vorstellen, wie er einsam im Schlafzimmer hockt und über die anderen nachdenkt, die aus ihrem Leben was machen.

Bewegt Sie das?

Ich gucke mir die Instagram-Seiten alter Mitschüler an und denke, wie weit wir uns auseinandergelebt haben. Sie werden Fremde, bauen Häuser und haben Kinder. Ich fühle mich noch wie eines, ich könnte nicht daran denken, welche aufzuziehen. Wir werden erwachsen. Ich will das nicht, ich reiße lieber Schamhaarwitze im Internet.

Ihren Heimatort Bathgate könnten Sie als Musikstar schon langsam hinter sich lassen.

Ganz sicher will ich mich dort nicht niederlassen. Ich kann mich nicht mit der Vorstellung anfreunden, am selben Ort zu sterben, an dem ich aufgewachsen bin. Das macht mich fertig. Wenigstens nach Glasgow sollte ich es schaffen. Ich bin mir unsicher, wie es weitergeht. Ich glaube nicht, dass ich für den Rest meines Lebens Musiker sein kann, sondern nur für die absehbare Zukunft.

Für einen Popstar klingen Sie wenig zuversichtlich.

Ich muss realistisch bleiben. Wenn es nicht dieses Team um mich herum gegeben hätte, säße ich immer noch in der Wohnung meiner Eltern. Ich bin kein ehrgeiziger Mensch.

Sie sind träge?

Ich bin ein Faulpelz. Eine Lehrerin hat zu meiner Mutter mal gesagt: Ihr Sohn lehnt sich so gerne zurück, dass er fast zur Horizontalen wird.

Bisher sind Sie auch nicht aus der elterlichen Wohnung ausgezogen.

Hey, ich habe eine gute Ausrede. Ich bin drei Tage pro Monat in Schottland. Manchmal überlege ich, eine Wohnung zu kaufen. Nur was soll ich damit, wenn ich sie kaum nutzen kann?

Wo möchten Sie gern leben?

Ich würde meine Zeit gern zwischen Glasgow und Los Angeles aufteilen. Aber erst mal kleine Schritte. Ich weiß ja noch nicht mal, wie ein Wäschetrockner angeht.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false