zum Hauptinhalt
Schicksalsgemeinschaft. Die Frauen von Litchfield. Am 9. Juni erfahren Fans, wie es weitergeht.

© pa/Jojo Whilden

Serie "Orange Is the New Black": Die Verurteilten

Die fünfte Staffel der Serie „Orange Is the New Black“ ist gestartet. Warum schaut der Mensch so gern Gefangenen zu? Freie Assoziationen aus dem Netflix-Knast.

Die Gefängnisküche ist leer an diesem Nachmittag. Dort, wo sich sonst die Insassinnen anstellen, um sich schleimigen Brei auf ihre Tabletts schaufeln zu lassen, steht ein Schrein für Poussey, die vor wenigen Stunden von einem Wärter getötet wurde. Auf einem kleinen Tisch stecken Blumen in Plastikbechern, daneben ein paar Kerzen mit der Jungfrau Maria. Die Zellenblöcke wirken, als hätten die Gefangenen sie gerade aufgeregt verlassen. Alles sieht aus wie immer. Nur leerer eben.

Wie es hier ist, weiß man ganz genau, weil man das Frauengefängnis Litchfield schon lange kennt. Man hat schließlich die letzten vier Jahre in diesen Räumen verbracht. Hat mit den Insassinnen seine Alltagskleidung abgelegt und die orangefarbene Gefängnisuniform angezogen. Hat die Regeln gelernt, die offiziellen und die inoffiziellen. Hat den Alltag miterlebt, Weckzeit, Essenszeit, Schlafenszeit.

Litchfield liegt nicht wirklich im Norden des Bundesstaats New York, sondern in einer zehn Meter hohen Lagerhalle eines Filmstudios in Queens. Die Wände des Gefängnisses, undurchdringlich für die Frauen, sind aus Spanplatten, die Räume gleichen hölzernen Frachtcontainern. Zwischen ihnen stehen in Reihen Klappstühle vor großen Bildschirmen. Ganz hinten in der Halle wird gerade eine Szene gedreht. Einige Häftlinge streiten sich in der Krankenstation des Gefängnisses – letzter Drehtag für die fünfte Staffel von „Orange Is the New Black“, eine der erfolgreichsten Serien des Streamingdienstes Netflix. Anfang 2016 wurde sie bis Staffel 7 verlängert – lang bevor die vierte überhaupt Premiere hatte. Zeit also, mal in Queens nachzuforschen, was die Serie eigentlich so beliebt macht.

In vielen der Geschichten sitzen die Verurteilen zu Unrecht im Gefängnis

Basierend auf dem Erfahrungsbericht der Autorin Piper Kerman folgt die Serie der Managerin Piper Chapman. Die muss in den Frauenknast, weil sie während ihres Studiums Drogengeld geschmuggelt hatte. Und so tauscht die bis dahin vom Erfolg verwöhnte Piper ihr Mittelschichtleben inklusive Verlobtem und Eigentumswohnung für 15 Monate gegen eine Gruppenzelle.

Während sich ihr Leben draußen immer weiter von ihr entfernt, wird sie im Gefängnis Teil eines Mikrokosmos. Verschiedene Frauen, die alle hier sind, weil irgendwann in ihrem Leben einmal etwas schiefgelaufen ist. Manche sind Mörderinnen. Und obwohl das zunächst nach Nische klingt, wurde die Serie ein Hit. „Überraschungserfolg“, hieß es.

Dabei hat das Gefängnis, seit es Filme und Serien gibt, seinen Platz in der Popkultur: „Die Verurteilten“, „The Green Mile“ und „American History X“ zeigen den Alltag von Gefangenen und Wärtern, erzählen Kinogeschichten vom Drinnen und Draußen. „Oz“ beschreibt das Leben im Oswald-Hochsicherheitsgefängnis, und in der TV-Serie „Prison Break“ bricht der Held Michael Scofield mehrfach aus. Auch das deutsche Fernsehen versuchte sich am Knast als Handlungsort. Es soll Fans von „Hinter Gittern“ geben.

Wir schauen gern Menschen zu – verurteilten Verbrechern –, die die Durchsetzungskraft des Rechtsstaats zu spüren bekommen. Aber warum? Auf diese Frage findet man im Studio in Queens ganz unterschiedliche Antworten.

Die einfachste: In vielen der Geschichten haben die, die im Gefängnis sitzen, dort gar nichts verloren. Als zu Unrecht Verurteilte fristen sie ihr Dasein, allein zwischen Verbrechern. „Die Verurteilten“ ist so ein Beispiel: Der Held des Films, Andy Dufresne, wird für zwei Morde, die er nicht begangen hat, zu lebenslanger Haft im Gefängnis Shawshank verurteilt. Als harmloser Bankangestellter ist er ganz anders als die, die dort mit ihm einsitzen – sanft, freundlich. Und weil er keine Chance hat, seine Unschuld zu beweisen, bricht er aus. „Die Verurteilten“ gilt auch deshalb als der beste Film aller Zeiten, weil er eine klassische Underdog-Geschichte darüber erzählt, wie ein guter Mensch gegen Ungerechtigkeit kämpft und am Ende gewinnt.

Der Strafvollzug war immer öffentliches Spektakel

Schicksalsgemeinschaft. Die Frauen von Litchfield. Am 9. Juni erfahren Fans, wie es weitergeht.
Schicksalsgemeinschaft. Die Frauen von Litchfield. Am 9. Juni erfahren Fans, wie es weitergeht.

© pa/Jojo Whilden

Obwohl die meisten der Frauen in Litchfield das, wofür sie einsitzen, getan haben, kämpfen auch sie gegen das System: gegen sexuelle Belästigung durch Wärter, gegen unfaire Strafmaßnahmen wie Einzelhaft und dafür, trotz ihrer Verbrechen wie Menschen behandelt zu werden. Auch sie sind Underdogs in einem übermächtigen Apparat.

Adrienne C. Moore, die in „Orange Is the New Black“ Gefängnisinsassin „Black Cindy“ spielt, hat während einer Pause zwischen zwei Szenen noch eine andere Antwort. „Ich glaube, das ist sehr voyeuristisch. Ich kann schließlich nicht einfach im Gefängnis vorbeigehen und fragen: ,Und was macht ihr hier so?‘“ Die Faszination der Filme und Serien ergebe sich auch aus den Orten, an denen sie spielen – den Gefängnissen selbst.

Die Bestrafung von Verbrechern hat Menschen immer schon interessiert. Über Jahrtausende hinweg war sie feste Größe im Veranstaltungskalender jeder Gesellschaft. Ob die Verurteilten nun, wie im alten Rom, in Arenen gegeneinander kämpften, wilden Tieren zum Fraß vorgeworfen wurden, ob sie geköpft, gehängt oder nur an den Pranger gestellt wurden, ob sie als Hexen verbrannt oder geteert und gefedert wurden – immer war der Strafvollzug öffentliches Spektakel. Die verurteilten Verbrecher sollten abschreckendes Beispiel und Unterhaltung gleichzeitig sein. In London mieteten die Wohlhabenden, wenn im Newgate-Gefängnis eine Hinrichtung stattfand, die umliegenden Dächer.

"Es geht in der Serie um mehr als den Knast"

Kurz darauf, im späten 18. Jahrhundert, änderte sich die Art, wie Gesellschaften mit Verbrechern umgehen. Michel Foucault beschreibt diese Veränderung in seinem Buch „Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses“. Während man Knäste lange nur als Aufbewahrungsort bis zur eigentlichen, öffentlichen Bestrafung sah, wurden sie mit dem Beginn der Aufklärung zu Rehabilitationseinrichtungen. Von da an verschwanden Verbrecher hinter hohen Mauern. Die Strafe wurde, wörtlich gesprochen, zum Staatsgeheimnis, von dem die meisten, weil ehrlichen, Bürger nichts wussten. Erst Film und Fernsehen erlaubten den Blick hinter die Mauern wieder, ließen die Zuschauer an der Bestrafung derer teilnehmen, vor denen der Staat sie abschotten wollte.

Am Ende ist es nicht nur dieser Einblick, der Menschen an den Fernseher fesselt, es sind die Menschen selbst. „Es geht in der Serie um mehr als den Knast. Es geht um die Geschichten“, sagt Selenis Leyva, die als Gloria Mendoza die Gefängnisküche leitet. Die Probleme der Frauen seien doch sehr normal. „Wir alle verlieben uns, wir alle leiden.“

Foucault würde Leyva wohl recht geben. Er würde es aber – französischer Philosoph, der er war – natürlich politisieren: Das Leben in Litchfield, würde er sagen, interessiert uns, weil es uns an unser eigenes erinnert. Die Frauen dort können das Gefängnis nicht verlassen. Sie arbeiten in schlecht bezahlten Jobs, müssen sich an die strikten Zeitpläne halten, die von der Gefängnisleitung vorgegeben werden. Ihr Verhalten wird streng kontrolliert, wer aus der Reihe tanzt, wird mit Einzelhaft bestraft. Ist das, würde er hinzufügen, wirklich so anders als das Leben derer, die die Serie anschauen?

Wir alle sind Gefangene

Auch wir müssen aufstehen, um zur Arbeit zu gehen. Meist bekommen wir dafür weniger bezahlt, als wir gerecht fänden. Was angemessenes Verhalten ist, bestimmen soziale Normen, denen wir uns kaum entziehen können. Trotzdem träumen viele vom Ausbruch. Litchfield ist damit Modell für die Gesellschaft als Ganzes.

In „Überwachen und Strafen“ schreibt Foucault, dass die Gesellschaft, die das Gefängnis als Form der Bestrafung hervorgebracht hat, selbst auch wie eines strukturiert ist. Wir sind Gefangene. Die Regeln dieser Disziplinargesellschaft, wie sie Foucault nennt, haben einen Grund: Sie sollen bestehende Hierarchien und Machtverhältnisse sichern. Sie zu brechen, bedeutet Revolution.

Wie diese aussehen kann, wird „Orange Is the New Black“ vielleicht bald zeigen. Am Ende der letzten Folge der vierten Staffel stehen die Gefangenen im Kreis um einen der Aufseher, wütend über den Tod ihrer Mitgefangenen Poussey. Eine von ihnen hält ihm eine Pistole an den Kopf.

Zur Startseite