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Vier Jahre lang hat Trojanow 80 Disziplinen ausprobiert. Hier: Kugelstoßen.

© Thomas Dorn

Schriftsteller Ilija Trojanow: Ein Amateur, vier Jahre, 80 Disziplinen

Ilija Trojanow hat 80 olympische Disziplinen trainiert und dabei ihm unbekannte Muskeln kennengelernt. Im Interview spricht er über die Qualen des Gehens und Cortisonspritzen.

Er kommt mit dem Rollkoffer ins Verlagshaus des Tagesspiegels, direkt aus den USA. Nein danke, Hilfe lehnt der Schriftsteller ab, denn Ilija Trojanow meint, jeder solle nur mit soviel Gepäck
reisen, wie er selbst tragen kann. Der50-Jährige hat dort einige Monate als Gastprofessor verbracht. Wenn er nicht auf Reisen ist, lebt er in Wien. Bekannt wurde der vielfach preisgekrönte Autor mit dem Bestseller „Der Weltensammler“. Immer wieder mischt sich Trojanow auch in politische Debatten ein. Kürzlich erschien im Fischer-Verlag sein Buch "Meine Olympiade. Ein Amateur, vier Jahre, 80 Disziplinen". Ehe das Interview beginnt, bittet er um einen Kaffee – der Jetlag meldet sich. Drei Stunden später steigt Trojanow ins Taxi zum Flughafen Tegel.

Herr Trojanow, Männer in der Midlife-Crisis machen seltsame Sachen: kaufen sich ein fettes Motorrad, entdecken Whiskey und Zigarren …

So spät erst?

… und müssen unbedingt junge Frauen beeindrucken. Sie dagegen haben sich mit 46 Jahren entschlossen, ein Universalathlet zu werden und vier Jahre lang 80 olympische Disziplinen zu trainieren.

Das hat nichts mit Midlife-Crisis zu tun, aber viel mit meiner Art zu arbeiten. Ich muss erleben, um zu schreiben. Ich bin schon monatelang zu Fuß durch den Busch gegangen, zur Hadsch nach Mekka gereist, ich habe 20 Jahre lang in den Archiven der bulgarischen Staatssicherheit geforscht. Meine Buchprojekte sind aufwendig. Es ist in Deutschland nur leider so, dass Intellektuelle mit Sport nichts anfangen können, deshalb fragen jetzt viele: Wieso Sport?

Genau: Wieso?

Bei mir ist es alle vier Jahre das Gleiche, ich nehme mir vor, nicht so viel von den Olympischen Spielen zu gucken und bleibe dann vor dem Fernseher hängen. Eine völlig irrationale Passion. 2012 habe ich mich gefragt, du schaust stundenlang Vorkämpfe im Gewichtheben, bist du denn meschugge? Ich sah beim Gewichtheben die uninteressante Abbildung von Menschen mit eigenartigen Körperformen, die merkwürdige Bewegungen machten. Ich sah nicht die kulturellen Hintergründe, die technischen Schwierigkeiten, die Tradition dieser Sportart, ihre Physik. Ich dachte, wenn ich schon so viel Zeit mit diesem Blödsinn verschwende, will ich diesen Blödsinn jetzt durchschauen.

Ihr Ziel war, in jeder Disziplin möglichst halb so gut zu sein wie der Olympiasieger von London. Wo haben Sie das am ehesten erreicht?

Beim Bahnradfahren, Bogenschießen, Schießen, teilweise beim Schwimmen und in der Leichtathletik – nur überhaupt nicht im Zehnkampf. Ganz kläglich war alles, was Akrobatik enthält. Trampolin, Turnen, Turmspringen.

Übers Reckturnen berichten Sie: „Alle Ängste aus Sigmund Freuds Theorien feiern in mir ein lähmendes Stelldichein. Primärangst und Sekundärangst verschlingen einander.“

Die Peinlichkeiten der Kindheit sitzen tief, also diese Situationen im Schulsport, wenn der Lehrer blöde Bemerkungen machte und ich mich in die Ecke gestellt fühlte. Man war einer Aufgabe nicht gewachsen und wurde abgestraft. Du Versager! Diese traumatische Erfahrung teile ich mit vielen meiner Leser, das zeigen ihre Reaktionen.

Ihr Vater war Hürdenläufer, die Mutter spielte Volleyball, geboren sind Sie in Bulgarien, dem Land der Gewichtheber, zur Schule gingen Sie in Kenia, eine Läufernation, studiert haben Sie in der Fußballstadt München, später lebten Sie im cricketverrückten Indien und in Südafrika, wo Rugby das Spiel der Weißen ist. Nun leben Sie in Österreich, wo Skifahrer zu Heroen werden. Auf welche Art hat Sie diese bunte sportliche Sozialisation geprägt?

Am meisten blieb vom Internat in Kenia. In den Kolonien werden die Säulen der britischen Kultur rigider zementiert als in der Heimat. Der Schüler muss gestählt werden! Es gab ekelhaften Porridge, lauwarm, schmierig, und jeden Nachmittag Sport. Cricket, Rugby, Hockey, Tennis. Im Rugby war ich der Loser, ich bin ziemlich blind, und meine dicke Brille lag bei dem Gewühle regelmäßig im Schlamm. Beim Hockey stand ich im Tor, und im Tennis war ich sehr gut, das habe ich lange betrieben. Was aber das Wichtigste ist: Ich kann mir seitdem ein Leben ohne Sport gar nicht vorstellen.

Sie sind ein Bewegungstier.

Es gibt diesen Typus Schriftsteller, der das zum Ausgleich braucht. Richard Ford, Günter Herburger, Haruki Murakami… Ich würde wahnsinnig werden ohne diese Fluchten vom Schreibtisch.

Ein Mann hat rund 650 Muskeln und ...

... ich habe mindestens 30 entdeckt, von deren Existenz ich zuvor gar nichts wusste. Muskeln haben klangvolle Namen wie Schenkelbindenspanner. Da zwackt es im Hintern, und der Trainer nickt wissend: Ah ja, Musculus gluteus maximus. Wichtig ist nämlich, dass der Muskelkater an den richtigen Stellen auftaucht. Trainer sind dann sehr happy, weil sich ihre didaktischen Vorgaben erfüllt haben.

Wie Trojanow die Ekstase packte

"Ich hatte das Gefühl, meine eigene Erschöpfung würde mich rechts überholen."
"Ich hatte das Gefühl, meine eigene Erschöpfung würde mich rechts überholen."

© Mike Wolff

Sind Sie in unbekannte Dimensionen des Muskelkaters vorgestoßen?

Das ist für mich ein erträglicher Schmerz. Am meisten gelitten habe ich immer, wenn mein Kopf bedroht war. Beim Turmspringen mit dem Gesicht aufs Wasser zu fallen, ist furchtbar. Bodenturnen habe ich abgebrochen.

Beim Radfahren auf der Bahn dagegen packte Sie, wie Sie schreiben, „die Ekstase“.

Der Sprint ist erst mal eine große Mutprobe. Das Rad hat keine Bremsen, die Bahn eine Neigung von teilweise 45 Prozent, man ist nicht allein, um einen herum treten noch zehn andere in die Pedale. Dann fährt man sich in einen Rausch der Geschwindigkeit, gut 50 km/h, volle Pulle, die letzten zwei Runden sind nur noch Qual, die Puste geht einem aus, ich hatte das Gefühl, meine eigene Erschöpfung würde mich rechts überholen. Die Energie ist verbraucht, nun versucht man, sich im Windschatten der Schwäche ins Ziel zu retten – und dort packt einen die Euphorie: Siehst du, Erschöpfung, du hast mich doch nicht abgehängt!

Sie bündeln Ihre Erfahrungen in den jeweiligen Disziplinen häufig in einem Satz. Einer heißt „Bogenschießen ist die Einsicht in die eigene Fehlbarkeit“.

Es gibt Sportarten, die sind absolut unversöhnlich, dazu zähle ich jede Art von Schießen. Du wirst immer an der Perfektion gemessen, trägst also nach fast jedem Schuss das Etikett „fehlerhaft“. Das ist mental schwierig und hinterlässt einen immer unzufrieden. Dagegen kann ich die 100 Meter heute schneller schwimmen als vorgestern und mich wie ein Sieger fühlen.

Gute Schützen funktionieren wie Roboter?

Ja, es gibt kein anderes Ziel, als alle menschlichen Regungen auszuschalten. Sie müssen absolut eingefroren werden. Am besten wäre es, das Herz würde nicht mehr schlagen. Es gibt keine Inspiration, keine Instinkte, nur die völlige Konzentration.

Klingt nach Zen.

Für eine Meditation knallen Pistolen und Gewehre zu laut.

Die Geher werden als „die Fußkranken“ verspottet, sie wackeln ziemlich eigenartig daher. Trotzdem haben die Geher Ihren Respekt erworben, stimmt’s?

Wenn Sie sich deren Zeiten angucken – unfassbar! Das ist für mich die beeindruckendste Leistung überhaupt in der Leichtathletik. Die gehen 20 Kilometer in einer Stunde und 20 Minuten! Um das zu rennen, muss man schon richtig gut sein. Außerdem schaut es lustig aus. Das Besondere daran ist ja, dass man erst mal mit einer Einschränkung beginnt. Das Reglement sagt, ein Fuß muss immer den Boden berühren…

… so wie ein Pferd beim Traben disqualifiziert wird, wenn es zu galoppieren beginnt.

Das ist der einzig mögliche Vergleich. Die Technik beim athletischen Gehen fühlt sich unnatürlich an, die Beschleunigung kommt aus dem Gesäß, die Hüfte wird verschoben, um den Schritt länger zu machen. Mein Trainer sagte, Laufen kann jeder, Gehen muss man lernen. Der Wettkampf ist für den Kopf extrem anstrengend, es ist eine der wenigen Disziplinen, die ich nicht beenden konnte. Ich habe mich an der Strecke 50-Kilometer-Gehen in New York versucht, entlang des Hudson River, nach 30 Kilometern war Schluss. Ich hatte die geistige Stärke nicht mehr, mich zu diesem Gang zu zwingen. Das Pferd in mir wollte galoppieren.

Einmal fragen Sie: „Gibt es eine männlichere Pose als jene des Diskuswerfers?“ Das hat schon etwas Arno-Breker-haftes.

Quatsch, das ist eine völlig apolitische Aussage. Es geht um die dominante Darstellung des Männlichen in der Antike, wenn Sie das ablehnen, müssen Sie die gesamte Kunst griechischer Skulpturen infrage stellen. Ich habe das so beschrieben, weil der Diskuswerfer wie eine niedergedrückte Feder ist, bereit, jeden Augenblick zu explodieren. Die plumpe Verherrlichung des Maskulinen wäre die Bodybuilderpose mit ihrem Hey-schaut-mal- meine-Muskeln-an. Diskus ist viel raffinierter.

Es gibt kein feminines Pendant?

Kein antikes, Frauen war ja sogar der Zugang zu den Sportstätten verboten. In der Moderne – sei es Hollywood, Leni Riefenstahl oder die Werbung – gibt es die elegante Springerin und die Frau am und im Wasser, erotisch aufgeladen.

Warum die Literaturgeschichte ohne Schwimmen ganz anders verlaufen wäre

Beim Rudern lernte Trojanow: "Du musst die Bauchmuskeln an den Kiel felsseln".
Beim Rudern lernte Trojanow: "Du musst die Bauchmuskeln an den Kiel felsseln".

© Thomas Dorn

Eine steile These haben Sie aufgestellt: „Ohne Schwimmen hätte die Literaturgeschichte einen anderen Verlauf genommen.“

Es gab sehr viele passionierte Schwimmer unter den Literaten, ich nenne nur mal Edgar Allen Poe und Lord Byron. Der gute Byron hat ja gesagt, das Durchschwimmen des Hellespont, dieser Meerenge zwischen Europa und Asien, sei das Wichtigste in seinem Leben gewesen. Und von Jack London gibt es die anrührende Geschichte, dass seine Frau wusste, er würde sterben, als er keine Lust mehr aufs Schwimmen hatte.

Der Schriftsteller John von Düffel ist ein besessener Langstreckenschwimmer, er vergleicht den Kampf beim Sport mit dem Kampf am Schreibtisch.

Man schreibt Romane nur mit Beharrlichkeit und Disziplin, und man erreicht im Sport nur etwas durch tägliches Training. Die zweite Ähnlichkeit ist: Die Aufgabe erscheint zu Beginn nicht zu bewältigen zu sein, man nähert sich dem Ziel Schritt um Schritt. Und denkt am Ende: Wie habe ich das bloß geschafft? Es gibt noch eine Analogie, auf die ich bei einem Gespräch mit Jürgen Klopp kam. Er erzählte von einem wunderbaren Spieler, der nichts wert war, wenn er ihn zu sehr ins System presste, und wenn er ihm völlig freien Lauf gewährte, nutzte er der Mannschaft nichts. Es geht also um die Balance von Rigidität und Chaos. So geht man als Romancier auch mit seinen Figuren um. Jeder Roman braucht eine Struktur, die nicht beliebig verändert werden kann, gleichzeitig muss sich eine Figur aus sich heraus entwickeln und mich überraschen können.

Sie sind tüchtig herumgekommen bei Ihrem Training. Schwimmen in Sri Lanka, Boxen in New York, Triathlon in Kapstadt, Judo in Tokio… Gab es da mehr sportliche oder schriftstellerische Gründe?

Ich bin extra nach Kenia geflogen fürs Buch, und ich wollte Radfahren im unglaublich schönen Velodrom in London, denn eine olympische Sportstätte von 2012 sollte dabei sein. Deshalb auch Beachvolleyball in Rio, wo die Spiele 2016 stattfinden. Boxen musste ich unbedingt in Brooklyn in diesem legendären Gym, in dem viele Weltmeister trainiert haben. Mein Zugang als Schriftsteller ist ja empathisch, ich versuche mich hineinzufühlen und hineinzudenken in den Reiz der jeweiligen Sportart. Manche Gelegenheit wie beim Judo ergab sich zufällig, in Japan kam die Übersetzung einer meiner Romane heraus.

Sport ist von Wissenschaft durchdrungen. Haben Sie das genutzt, oder sind Sie intuitiv vorgegangen?

Ich hatte für jede Disziplin nur wenig Zeit und hochrangige Trainer, die wussten genau, das wird nun ein Intensivkurs. Judo etwa ist äußerst komplex, das musste ich lernen wie Choreografien.

Konnten Sie Ihre Qualitäten gut selbst einschätzen?

Das ist schwer. Deshalb gibt es ja Videoanalysen. Beim Turmspringen war ich mir sicher, ich tauche kerzengerade ins Wasser ein, doch die Aufnahmen zeigten mich als Fragezeichen. Einige Trainer sagten, hör’ auf, die Zunge so herauszustrecken, das ist gefährlich. Ich hatte das gar nicht bemerkt.

Trainer beglücken einen gern mit aphoristischen Weisheiten, die im ersten Moment rätselhaft klingen.

Oh ja, beim Rudern beispielsweise „Fühle das Boot, nicht den eigenen Körper“. Trainer müssen für hochkomplexe Abläufe eine Metaphorik finden, die ausgefallen ist und trotzdem sofort einleuchtet: „Du musst die Bauchmuskeln an den Kiel fesseln!“ Genau!

Als Gastdozent an der Freien Universität sagten Sie vor Jahren mal: „Recherche ist die Wiederaufnahme des Körpers, und der Körper bedankt sich mit eigenen Einsichten.“ Ist Ihr Körper durch das viele Trainieren klüger geworden?

Er speichert das ab und gleitet in eine andere Intensität, er entwickelt eine neue Protestkultur, denn die Nullschwelle des Wohlbefindens verschiebt sich. Ich bin gerade wieder auf ein Trampolin gestiegen, nach einem halben Jahr Pause, das fühlt sich erst ganz fremd an, die Sprünge sind schief und krumm, dann öffnet sich ein Erinnerungsraum, und der Trainer sagt plötzlich, ups, da war’s doch wieder! Der Körper lagert da etwas in tieferen Schichten ein und kann es wieder abholen.

Was war denn für Sie die größte Überraschung in all der Zeit?

Dass ich’s geschafft habe. Ich war mir sicher, es klappt nicht.

Der Erfolg war nie in Gefahr?

Nein. Den einzig heftigen Kollaps hatte ich, als ich das Rudern technisch kapierte. In der Euphorie habe ich übertrieben und kam am nächsten Morgen nicht aus dem Bett. Ich rief einen Orthopäden an und quälte mich ins Taxi. Die Rückenmuskulatur war im Generalstreik. Der Arzt spannte mich in eine Streckbank und kam mit zwei Cortisonspritzen an, groß wie Bananen. Ich geriet leicht in Panik. Er entließ mich mit dem Rat, jetzt besser keinen Dopingtest machen zu lassen.

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