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Väterland. Deutsche Soldaten hissen 1941 die Hakenkreuzfahne auf der Akropolis. Die Zahl der „Wehrmachtskinder“ kann nur geschätzt werden.

© Imago/United Archives International

Schicksal der Wehrmachtskinder: „Wer hat mir diesen Balg nur aufgehalst“

Deutsche Wehrmachtssoldaten zeugten europaweit Hunderttausende Kinder – manche erfahren die Wahrheit erst heute. Drei Betroffene und eine Journalistin berichten.

Frau Wendisch, Sie haben in Ihrer finnischen Heimat ungefähr 30 Personen geholfen, ihre deutschen Väter zu finden. Warum?

Diese Kinder sind Wehrmachtskinder. Deutsche Soldaten haben sie während des Zweiten Weltkriegs gezeugt, in Frankreich, Norwegen oder Belgien und eben auch in Finnland. Die Soldaten sind nach Kriegsende zurückgekehrt in die Heimat. Ihre Kinder wuchsen ohne ihre Väter auf, Mitschüler beleidigten sie deswegen, ihre Mütter verleugneten sie oft. Diese Schicksale haben mich sehr bewegt.

Erinnern Sie sich an eines ganz besonders?

Mir fällt Johannes ein. Seine Mutter Rosa hatte ihn mit einem deutschen Soldaten gezeugt. Sie zog nach dem Abzug der deutschen Truppen aus Lappland über Norwegen nach Deutschland. Als Johannes drei Jahre alt war, kehrte Rosa mit ihm zurück nach Finnland und gab ihn ihrer Schwester. Seine Stiefmutter beschimpfte ihn als Äpärä, Bastard.

Was macht das mit einem Kind?

Aus Johannes, einem selbstbewussten Jungen, wurde ein ängstlicher Teenager. In einem Theaterstück sollte er den Weihnachtsmann spielen. Doch er erschien nicht, weil er sich vor den Leuten fürchtete. Zeit seines Lebens fragte er seine leibliche Mutter nach dem Vater. Nur einmal gab sie den Namen preis. Wir haben den Vater nach aufwendiger Recherche ausfindig gemacht. Er kam aus Darmstadt, war aber längst tot. Seine Tochter, Johannes’ Schwester, lebte noch. Doch sie wollte keinen Kontakt. Eine bittere Enttäuschung.

Ist Johannes’ Biografie typisch?

Ja, besonders für die finnischen Kinder. Ab 1941 waren 200 000 deutsche Soldaten in Lappland stationiert – wo genauso viele Menschen lebten. Die Deutschen und die Finnen waren zunächst Waffenbrüder im Kampf gegen die Sowjetunion. Dann schloss Finnland 1944 einen Sonderfrieden mit Moskau, und die Deutschen mussten gehen. Beim Rückzug brannten sie Ortschaften systematisch nieder. Plötzlich waren die Deutschen Feinde. Die Mütter fühlten sich schuldig.

War die Situation in anderen Ländern ähnlich?

Nach dem Krieg war es überall verpönt, egal in welchem Land, dass die Frauen sich auf Liebschaften mit Deutschen eingelassen hatten. Über die Kinder schwieg man, die Geschichte verdrängte man. Ich bin erstaunt, wie identisch die Erfahrungen der Betroffenen in den einzelnen Ländern sind. Rein zufällig findet man in einer Schublade das Foto eines Wehrmachtssoldaten und versucht ab diesem Moment herauszufinden, ob das der eigene Vater sein könnte – während sich die Mütter stumm stellten. Auch die Gesellschaft schwieg das Thema tot. Diese Ignoranz macht einen großen Teil des Schmerzes aus, den Wehrmachtskinder bis ins hohe Alter erleiden müssen.

Das Schicksal der Wehrmachtskinder beschäftigt Irja Wendisch seit vielen Jahren.
Das Schicksal der Wehrmachtskinder beschäftigt Irja Wendisch seit vielen Jahren.

© privat

Und warum verdrängten so viele der Väter ihre eigene Vergangenheit?

Das waren Männer Anfang 20, unerfahren und in einer absoluten Ausnahmesituation. Einige hatten Frau und Kind in Deutschland, die wollten nichts mehr wissen von ihren Affären. Es gab auch andere: In den finnischen Archiven finden sich Schriften von Vätern, die ihre Kinder anerkennen. Manche zahlten Unterhalt.

Im Film „Hiroshima, mon amour“ von 1957 wird eine Französin kahl geschoren in einen Keller gesteckt, weil sie sich mit einem deutschen Soldaten eingelassen hatte. Begann die Aufarbeitung in dieser Zeit?

Nein. Die volle Aufarbeitung begann etwa im Jahr 2000. Da waren die Wehrmachtskinder schon um die 50 Jahre alt. Sie hatten ihre Geschichten lange genug mit sich herumgetragen, nun wollten sie die Wahrheit wissen. Als ich 2006 in Finnland mein Buch über das Thema veröffentlichte, war die Resonanz riesig. Ich habe sogar in den Abendnachrichten gesprochen.

Sie selbst sind kein Wehrmachtskind, trotzdem haben Sie nach Ihren Recherchen einen Verein mitbegründet, der den Betroffenen hilft, ihre Väter zu suchen.

Ganz zu Beginn war mein Interesse rein journalistisch. Ich habe mal ein Buch geschrieben über das Leben der Deutschen in Lappland. Bei der Vorstellung in meinem Heimatdorf Oikarainen habe ich Wehrmachtskinder kennengelernt. Einer fragte mich, ob ich ihm helfen könne, seinen Vater zu finden. Ich kann gar nicht beschreiben, wie sehr mich die Zusammenführung berührt hat. Als Finnin in Berlin habe ich mir, besonders in den Anfangsjahren, immer wieder die Frage gestellt: Wer bin ich? Wo gehöre ich eigentlich hin? Immerhin hatte ich eine Ahnung – im Gegensatz zu den Wehrmachtskindern. Sie sollten mal sehen, was für Gefühle es bei den Betroffenen auslöst, wenn sie herausfinden, wer ihre Väter waren.

Welche denn?

Sie blühen auf. Ich bin keine Psychologin, aber ich glaube, wir müssen zuerst unsere Vergangenheit klären, bevor wir das Leben nach vorn leben können. Viele Wehrmachtskinder haben das erst im hohen Alter geschafft. Manche nie. Und auch den anderen Fall gab es: Eine Frau glaubte ihr Leben lang, dass ihr Großvater ein deutscher Soldat war. Bei der Recherche stellte sich heraus: Er war ein finnischer Soldat.

Gab es auch glückliche Fügungen?

Es ist ein alter Menschheitstraum, irgendwo noch Geschwister zu haben. Ein Mann, Einzelkind aus Rovaniemi, wünschte sich das auch. Ich habe seinem Sohn Eemil geholfen, den österreichischen Großvater wiederzufinden, mitsamt dessen fünf Kindern. Jetzt hat Eemils Vater fünf Geschwister in Österreich.

Das Gespräch führte Marius Buhl.

Françoise, Frankreich

Gehässige Worte. Françoise (rechts) mit ihrer Mutter und ihrem Bruder J. C., 1942.
Gehässige Worte. Françoise (rechts) mit ihrer Mutter und ihrem Bruder J. C., 1942.

© privat

Um nur sieben Wochen verfehlt

Im Dorf Lachapelle-aux-Pots nördlich von Paris verbrachte ich etwa sieben Jahre, zusammen mit meinen Großeltern und meinem Bruder J. C., der zwei Jahre älter war als ich. Er war sehr lebhaft und machte viel Unfug, lauter Dinge, die mir verboten waren. Er badete im Bach, kletterte auf Bäume und pflückte Kirschen. Meine Großmutter fühlte sich durch mich gestört, besonders wenn ich wegen J. C.s Sticheleien jammerte. Sie wurde dann richtig wütend und sagte: „Wer hat mir diesen Balg nur aufgehalst.“ Sie sagte noch andere gehässige Worte, deren Sinn ich nicht richtig verstand.

Eines Abends, ich war fast zwölf, durfte ich etwas länger aufbleiben und plauderte mit Mama. Plötzlich meinte sie ziemlich unwirsch und mit kühler Miene, ich solle nicht länger auf J. C. eifersüchtig sein. Sie müsste viel mehr für ihn tun als für mich, denn er sei schließlich der Sohn von Papa und ich nur ihre Tochter. Rumms! Welch ein Schock. Ich glaube, dass ein breites Lächeln über mein Gesicht huschte, als sie mir sagte, dass mein richtiger Vater ein deutscher Offizier war, ein Ingenieur der Wasser- und Forstwirtschaft. Diese Offenbarung erklärte vieles, was ich nie verstanden hatte, besonders was das Verhalten meiner Großmutter betraf. Auch meine Einstellung Papa gegenüber verstand ich nun. Ich fühlte mich erleichtert, befreit von den Schuldgefühlen, die ich oft empfand und die mich belasteten.

Allerdings hatte meine Mutter im Laufe der Zeit leider nur noch Augen für ihren Sohn, mich dagegen bedachte sie mit Bemerkungen wie: „Wegen dir …“, oder auch „Ich habe dafür bezahlt, dass ich dich zur Welt brachte“.

Ich kann nicht beschreiben, wie sehr ich seine Stimme hören wollte

Mit etwa 60 Jahren erfuhr ich, dass ich eine genetisch bedingte Krankheit habe. Eines Sonntags, ich besuchte meine Mutter, die mittlerweile 83 Jahre alt war, sprachen wir darüber. Sie griff sich ein Stück Karton, kritzelte etwas darauf und sagte: „Nimm das, du wirst es vielleicht eines Tages brauchen.“ Ich erkannte den Namen Otto, stammelte etwas, steckte das Papier in meine Tasche und machte eine unbeteiligte Miene. Zu Hause habe ich immer wieder gelesen, was auf dem Karton geschrieben stand: Otto N., geboren 1913 in Pirmasens (in Rheinland-Pfalz). Meine Mutter hatte bestimmt schon oft daran gedacht, mir diese Zeilen aufzuschreiben. Vielleicht 1962, als ich ein Baby bekam mit einer nicht identifizierbaren Anomalie? Dieses Kind hat nicht überlebt, sie sprach damals von einer unbekannten Erbanlage.

Die neuen Informationen kreisten gut ein halbes Jahr lang in meinem Kopf, mit all den tiefen Gefühlen, die sie in mir auslösten. Ich kann nicht beschreiben, wie groß mein Bedürfnis war, diesem Mann zu begegnen, ihn zu berühren, seine Stimme zu hören.

Mein Mann war vor ein paar Jahren verstorben, ebenso meine Patentante. So entschied ich, allein nach Pirmasens zu fahren. Meine Mutter konnte mich nicht begleiten, auch wegen ihres hohen Alters. Ich hatte niemals mit ihr über dieses starke Bedürfnis gesprochen, meinen richtigen Vater kennenzulernen. Ich fuhr nach Pirmasens und ging mit meinem Stückchen Karton zum Rathaus. Meine fehlenden Deutschkenntnisse versuchte ich mit viel Freundlichkeit auszugleichen. Die Damen suchten in verschiedenen Verzeichnissen und gaben mir zu verstehen, dass Otto in Pirmasens geboren worden war. Ich verstand auch, dass er im August 1991 im Krankenhaus in Pirmasens verstorben und in der Stadt beigesetzt worden war. Ich kam zu spät. Es war Ende September 1991. Ich hatte ihn um nur sieben Wochen verfehlt. Ich grämte mich, dass ich mich nicht früher auf den Weg gemacht hatte. Wie ein Roboter stieg ich in mein Auto und fuhr zurück nach Frankreich. Immer wieder stellte ich mir vor, wie es gewesen wäre, wenn ich sieben Wochen früher gekommen wäre.

Ich wäre den Flur entlanggegangen zu seinem Zimmer und wäre leise eingetreten.

Gerrit, Griechenland

Baldige Trennung. Gerrit und seine Eltern, zirka 1953.
Baldige Trennung. Gerrit und seine Eltern, zirka 1953.

© privat

Meine Mutter verachtete Deutschland

Eine Frau, die für die Gestapo arbeitete, beschwor meinen Vater, mich abzutreiben. Meine Mutter mit nach Deutschland zu nehmen, war für ihn eine Heldentat.

Sie liebten sich sehr.

Er hatte, als er sie sah, zu einem Freund gesagt, „ein Sommerkleid und ein Stück Seife würden Wunder wirken“. Sie war ja noch ein Kind. Und sie hatte das unschuldige Gesicht derjenigen, die nicht mit Literatur und klassischer Musik geschunden worden waren.

Sie hat mich einmal gefragt, warum ihr Leben so verlaufen sei. Und da sagte ich zu ihr, ich war damals 16 oder 17: „Das ist ganz einfach. Die schlimmsten Leute, die es damals in Europa gab, überfallen Griechenland und bringen Unheil über dein Land. Und du, die du nicht den Sohn von dem oder dem heiraten wolltest, da er Fischer war, hast gedacht, so wie du aussiehst, steht dir ein anderes Leben zu.“ Später tat mir das wahnsinnig leid.

Meine Eltern haben erst nach dem Krieg geheiratet. Es war kurz vor der Einschulung. Ich sollte nicht durch den fremden Namen auffallen. Ich bin also als Grieche geboren, aber in Hamburg.

Meine Mutter war eine kluge und integre Frau. Sie verachtete Deutschland sehr. Und ich war die schwierige Brücke zwischen den Kulturen. Ich habe ihr viele Bücher vorgelesen, alles, was es gab. Sie sprach einigermaßen Deutsch, hatte aber wenig Vertrauen in die Sprache, weil sie die Gesichter der Sprechenden dazu sah. Ich weiß noch, nach dem Krieg war es so, dass sie bei bestimmten Leuten so tat, als wären sie gar nicht da. Zum Beispiel bei dem Mann, der Blockwart gewesen war. Das hat mich als Kind sehr berührt.

Mein Vater war im Grunde närrisch. Er hatte große Ideen und war auch ein begabter Mensch, ich habe ihn jedenfalls immer so gesehen. Dann lernte er eine Frau kennen, die einen verschuldeten Landgasthof hatte, hat da sein Geld reingesteckt und sein Wissen, hat meine Mutter dafür verraten.

Bei mir schwang etwas aus Attika mit

Ich war zwölf, als er ging. Es brach ihr das Herz, das war es, es brach ihr das Herz, sich so geirrt zu haben, daran erinnere ich mich noch. Und meine Mutter sagte, sie hatte so ein riesiges Vertrauen zu mir: „Du, tu mir den Gefallen, mach nichts, dass die Leute sagen, die Griechen können ihre Kinder nicht erziehen.“ Ihre Angst vor der Bewertung durch die anderen, die habe ich nie gehabt.

Mein Vater war immer sehr erschrocken, dass ich so griechisch war. Dies war, bevor die Gastarbeiter kamen. Es gab Altphilologen, die mich mochten, die mich fragten, ob ich griechische Verwandte habe, die sich für mich als Mensch interessierten. Und dann gab es auch Leute, die mich als Ausländer oder als eigenartig ausländisch ansahen. Auch in der Schule war das der Fall, obwohl ich helle Haare hatte. Es war doch so, dass bei mir etwas aus Attika mitschwang.

Meine Mutter Olga war eine auffällige Person. Ich war früher viel in Afrika unterwegs, und dort erinnerte ich mich an ihre Hände. Sie waren lang und schmal. Sie hatte so eine Grazie, wie ich sie sonst nur bei Äthiopierinnen gesehen habe. Meine Mutter ist dann in ein Kloster gegangen, weit weg von meinem närrischen Vater. Sie hatte Sehnsucht nach allem Spirituellen. Sie hielt sich an den alten Kalender, an den Julianischen, und schon früher kamen Mönche ins Haus, die ich als eklig empfand.

Durch die Nähe zu Gott oder das Erleben der totalen Hinwendung hat sie wohl versucht, glücklich zu sein.

Als ich sie in einem Kloster im Golf von Korinth besuchte, musste ich mich als ihr Neffe ausgeben. Wir hatten uns drei bis vier Jahre nicht gesehen, und da kam sie über den Berg und sagte zu mir, dass sie immer an mich gedacht habe, bis auf die letzten zwei Jahre. Sie hatte sich in Gott und Christus vertieft und vergessen, dass sie ein Kind hatte. Aber dann sagte sie, dass der Trenchcoat mir sehr gut stehe. Das hat mir gefallen. Denn sie war Schneiderin und besaß einen außergewöhnlichen Geschmack.

Arne, Dänemark

Spürbare Distanz. Arne (links) mit seiner Mutter, zirka 1948.
Spürbare Distanz. Arne (links) mit seiner Mutter, zirka 1948.

© privat

Wir spielten Freiheitskämpfer

Ich erinnere mich an ein Ereignis, als ich vier oder fünf Jahre alt war: Unsere Mutter machte meinen älteren Bruder und mich für einen Ausflug ins Schwimmbad fertig. Wir standen im Flur unserer kleinen Wohnung am Rand des Stadtteils Østerbro in Kopenhagen und zogen unsere Mäntel an. Während meine Mutter meinen Mantel zuknöpfte, sagte sie eindringlich: „In Zukunft sagt ihr ,Vater‘ zu ihm!“ Von diesem Moment an bekam ich ein merkwürdiges Gefühl auf der Zunge, wenn ich das Wort „Vater“ sagen musste, ein stechendes und abstoßendes Gefühl, genauso wie wenn er versuchte, mich zu umarmen, und ich für einen Moment die Bartstoppeln und die unangenehme Nähe seines Gesichts ertragen musste.

Wie andere Kinder, die sich nicht mit ihrem Adoptiv- oder Stiefvater identifizieren können, litt auch ich unter einer Form der „Foster Child Fantasy“, den Fantasien von Waisenkindern. Ich stellte mir zum Beispiel vor, mein Vater wäre Mitglied des dänischen Widerstands gewesen und bei irgendeiner heroischen Aktion kurz vor Kriegsende ums Leben gekommen. Viele mir sympathische Männer, die etwa im gleichen Alter wie meine Mutter waren, wurden auf diese Art zur Projektionsfläche für mich. Dazu gehörten einige meiner Lehrer, ein Betreuer bei den Pfadfindern und einige meiner Jugendtrainer im Schwimmen, Kunstspringen und Boxen. Ich stellte mir vor, einer von ihnen würde den Platz meines Stiefvaters einnehmen.

In dem Barackenviertel, in dem wir wohnten, geriet ich immer wieder mit einem Jungen namens Walter aneinander, er war ein paar Jahre älter als ich, ich hielt ihn damals für einen regelrechten Strolch. Nach einem Zwischenfall, bei dem Walters Mutter einen größeren Streit mit ihrer Nachbarin gehabt hatte, erzählte meine Mutter, dass diese Frau während der Besatzung eine „Feldmatratze“ gewesen und Walter ein „Deutschenbalg“ wäre.

Aus den „Deutschenhuren“ wurden „Engländerhuren“

In der Schule hatte ich schon über den heroischen Widerstandskampf gegen die fiesen Nazis gelernt, und mein Freund und ich spielten gerne Freiheitskämpfer, aber diese Worte hatte ich noch nie gehört. Nachdem sie mir die Begriffe erläutert hatte, erklärte meine Mutter mir lachend, dass die „Feldmatratzen“ nach der Kapitulation zu „Kanaldecken“ umgenäht worden waren: Das bedeutete, dass aus den „Deutschenhuren“ „Engländerhuren“ wurden. Wenn ich das auch nicht genau einordnen konnte, so verstand ich sofort, dass Walters Mutter zu einer niedrigeren Sorte von Frauen gehörte, denen meine Mutter weit überlegen war. Ergo war ich Walter überlegen.

Erst viel später wurde mir klar, dass die Witze, über die wir lachen und die wir gern weitererzählen, allzu oft von uns selbst handeln.

Dass meine Mutter mir nicht verraten wollte oder konnte, wer mein richtiger Vater war, schuf eine unsichtbare und doch spürbare Distanz zwischen uns. Und weil Kinder das Verhalten ihrer Eltern imitieren, hörte auch ich auf, sie in meine persönlichen Angelegenheiten einzuweihen.

Als eine Cousine bei einem Familienfest 1993 ausrief, ich wäre ein „Deutschenbalg“, war ich überwältigt und schockiert. Diese Enthüllung änderte von einem Augenblick auf den anderen mein Leben. Ich konfrontierte meine Mutter damit, und 1994 fasste sie sich endlich ein Herz und erzählte mir ihre Erinnerungen an das, was vor fast 50 Jahren geschehen war.

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