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Die Ausrüstung: Rollschuhe, Mundschutz, Knie- und Ellbogenschoner, Helm. Hier die Berlin Bombshells gegen die Londoner Brawl Saints.

© picture alliance / dpa/Hannibal Hanschke

Roller Derby: Wie ein Mädchen!

"Booty Block", "Fishnet Burn", "Charlie Sheening": Keine Sportart hat schönere Vokabeln! Wie sich der einstige Showsport zur athletischen queer-feministischen Frauendomäne entwickelt hat.

Kreuzberg, Spätsommer 2017. Ein Haufen Frauen, 30 vielleicht, donnert auf Rollschuhen durch die Sporthalle einer Grundschule. „Mia Missile“, „Donner Doro“, „Pussy Riot“ oder „Jane van Pain“ steht auf ihren Shirts. Es riecht kräftig nach frischem Schweiß. Ein paar Männer dürfen mitmachen – und als Schiedsrichter Punkte zählen. Einer im klassisch gestreiften, einer im rosa Shirt, „Formalhaut“ und „Martin McFly“, ein Dritter in schwarzer Trikotage hat immerhin die Haare pink.

Zwei Teams spielen fünf gegen fünf auf einer ovalen Bahn, die je nach Halle zwischen 23 und 33 Meter lang ist. Eine Spielerin ist der „Jammer“ (englische Aussprache), zu erkennen am großen roten Stern auf ihrem Helm. Punkten kann nur sie, und zwar indem sie als Erste an den Gegnerinnen vorbeirollt, für jede weitere überrundete Spielerin gibts dann zusätzlich einen Punkt.

Aufgabe der Gegnerinnen ist es, das zu verhindern: Sie sind Blocker. Zwei Halbzeiten à 30 Minuten. Wer die meisten Punkte hat, gewinnt. Wenn das Spiel so weitergeht, hat die erste Spielerin auf dem „Track“ (Bahn) die sieben maximal pro Spiel erlaubten Fouls gleich voll. Die erste Halbzeit läuft seit 20 Minuten, und das hier ist nur ein Trainingsspiel.

Aber die Spielerinnen vom Bear City Roller Derby sind auch nicht irgendwer. Sie stellten nach Stuttgart das zweite Team in Deutschland, gegründet vor neun Jahren. In der Bundesliga lassen sie ihre B-Mannschaft auflaufen, die erste Garde, die Berlin Bombshells, knöpft sich die internationale Konkurrenz – London, Paris, Edinburgh, Stockholm, Washington, Philadelphia – vor. Und die wird mehr: Weltweit ist Roller Derby seit einigen Jahren der wahrscheinlich am stärksten wachsende Frauensport im Amateurbereich. Offizielle Vergleichszahlen gibt es nicht, dafür plötzlich Teams in Russland, Ägypten, Abu Dhabi, Iran. Dabei hat sich doch eigentlich seit den 80er Jahren kein Mensch mehr für diesen Sport interessiert.

Terror auf Rollen

Chicago. Gerade hat die Stadt im US-Bundesstaat Illinois den 82. Geburtstag seiner Trendsporterfindung gefeiert. Anfangs war das Derby ein Geschwindigkeitswettbewerb auf einer ovalen Steilbahn – wie beim Radrennen. Man drehte seine Runden. Dann kamen das Haarspray, die Netzstrumpfhosen, das Wrestling, die Show.

Ottawa, Kanada, 1974. T-Birds vs. Canadian Braves: Zwei Frauen drehen ihre Runden. Sie zerren aneinander. Plötzlich ein Tritt in den Rücken der Frau in rotem Trikot, mit dem Rollschuh am Fuß! Die Übeltäterin in Blau jubelt, aber nicht lang, die beiden rammen sich, fallen zu Boden, stehen auf, jagen einander, sie schreien sich an, und dann gibt es Schläge. Mit der Faust ins Gesicht, immer wieder, ein Schiedsrichter geht dazwischen, aber sie sind nicht zu stoppen. Blau liegt am Boden, das Publikum jubelt. Terror auf Rollen – ein legendäres Derby. Mit dem urspünglichen Wettkampf aus Chicago hatte das kaum noch etwas zu tun, als Showsport-Inszenierung wurde es zum Hit, füllte Stadien – die Netflix-Serie „Glow“ auf Rollschuhen.

Wenn heute eine Spielerin einer anderen wehtut, ist es echt. „Basic Instinkt“ sitzt beim Trainingsspiel am Rand, hinter der „Penalty Box“, auf dem Schoß zwei Klemmbretter und acht Stoppuhren, brüllt denen, die vor ihr die ihnen auferlegten Zeitstrafen oder -minuten absitzen, die verbleibende Zeit zu und den Befehl zum Wiederaufstehen. Ein stressiger Job bei diesem Foulaufkommen heute, normalerweise würde sie lieber mitspielen, kann aber nicht. Sie ist verletzt.

Roller Derby ist ein Lifestyle

Joan Weston von den San Francisco Bay Bombers, Sixties-Roller-Derby-Ikone.
Joan Weston von den San Francisco Bay Bombers, Sixties-Roller-Derby-Ikone.

© picture alliance / Everett Colle

Nebenbei versucht Lisa Overmann, wie Basic in ihrem anderen Leben heißt, die Regeln zu erklären, für die Neuen, die mal gucken wollen. Wie beim Football gibt es ein dickes Regelwerk, wer wann wen wo anfassen darf und wo nicht, Timeouts, Zeitstrafen, taktische Spielunterbrechungen. Die Sache mit den Namen ist ein Übrigbleibsel aus Wrestling-Zeiten. „Alle Spielerinnen haben ein Alter Ego – eine Art Superheldenidentität“, sagt die 36-jährige Grafikdesignerin. In einer Datenbank sind alle Namen weltweit verzeichnet. Sie nennen sich „Bambi Bloodlust“, „Broke White Boy“, „Domi Natricks“ oder „Ice Ice Booty“ – viele Sexreferenzen, Spiel mit Klischees, Rollenbildern.

Eigentlich könne jeder den Sport erlernen, sagt Basic Instinkt, Körper egal, Alter auch. Sie hatte damals eine Anzeige gesehen, dachte: „Oh, Rollschuhe, Mädchen, teste ich. Angemeldet und danach erst Youtube-Videos geguckt. Gemerkt, dass das hart ist. Erstes Training, dann süchtig.“ Vorher hatte sie Handball gespielt, das hilft, Rollschuhfahren musste sie lernen. Wichtigste Regel: Finger einziehen beim Fallen. Richtig schwere Verletzungen hatte Basic Instinkt keine, „nur immer wieder fallen mir die Zehennägel ab“. Auf dem großen klebt ein künstlicher. Vollkontaktsport eben. Muss man aushalten, eine humpelt heute auf Krücken durch die Halle, von allen Neuanmeldungen bleibt nach dem ersten Ausprobieren ein Drittel übrig.

Für die, die bleiben, ändert sich manchmal das ganze Leben. Mannschaftstraining drei Mal die Woche, dazwischen Muckibude. Spiele am Wochenende, viele weit weg. Das sei kein Nebenbeisport „so zum Ausgleich, das ist ein Lifestyle“, sagt Overmann. Wie Surfen. Oder Fußball, nur eben: „Einer von starken Frauen – und komplett in Frauenhand.“ Der Lohn: eine starke Gemeinschaft. „Wenn ich in eine fremde Stadt ziehen würde, ich müsste nur ein paar Anrufe machen und hätte Hilfe bei der Wohnungs- und Jobsuche.“ Man hilft und unterstützt sich gegenseitig. „Dass man den Merch der anderen Teams kauft, ist selbstverständlich.“

Männerderby existiert

Das merkt man auch bei den Turnieren. Samstag im August, Berliner Poststadion, „Breaking Bears“, die C-Mannschaft der Berliner, gegen die „Hard Breaking Dolls“ aus Prag. Das Publikum auf der Tribüne – viele Frauen, aber nicht nur – sieht aus, als käme es geradewegs aus dem linksalternativen Technoclub „about blank“. Kleider weitgehend schwarz, viele Tattoos. Der Kontrast zum gewohnten Sportpublikum fällt besonders auf, musste man doch vorbei am Fußballplatz. An der Rollsportbahn dröhnt in der Halbzeitpause Punk aus den Boxen.

Basic Instinkt mit Knastträne.
Basic Instinkt mit Knastträne.

© Mendoza Chinea

Musik, Frauenherrschaft und Gemeinschaftssinn sind dem Niedergang des Sports nach seiner Glam- und Wrestling-Phase zu verdanken. Der Wiederauferstehungsmythos geht so: Austin, Texas, Anfang 2000er. Ein Musiker namens „Devil Dan“ Policarpo veranstaltet eine Roller-Derby-Show, dann gibt es Streit, er flieht aus der Stadt, die voll ist mit Punks, Hippies und Dritte-Welle-Feministinnen. Die machen daraus das TXRD: Texas Banked Track Roller Derby. Oder, anders gesagt: eine „postfeministische Party auf Rollen“ („Rolling Stone“).

Zu der Party dürfen auch Männer kommen, sie verkaufen Merch, wie der Typ am Rand der Rollsportbahn im Poststadion, sie dürfen als Schiedsrichter Fouls zählen. Einer der Unparteiischen macht während Spielunterbrechungen Gesten wie eine Stewardess. Timeout, die Frauen müssen sich besprechen. Männer-Derby („Merby“) existiert. Die Vereine sind queer- und transfreundlich. Jeder Körper findet seine Verwendung, heute holt die kleinste Frau auf dem Platz die meisten Punkte des Tages.

Und nach dem Spiel? Zusammen feiern. Alle. Tradition.

Spieltermine unter bearcityrollerderby.com

Die besten Ausdrücke im Derby

Die Derby-Sprache ist Englisch. Das heißt aber noch lange nicht, dass man versteht, wenn Spielerinnen miteinander reden.

SHEEO

Präsidentin einer Roller-Derby-Liga

BOUTFIT

Outfit, das man zum Spiel (Bout) trägt

BOOTY BLOCK

Mit dem Hintern blocken

FISHNET BURN

Schürfwunden, verursacht durch Netzstrumpfhosen

CHARLIE SHEENING

Strategisches Manöver, um den Gegner in den Wahnsinn zu treiben

WHIFF

Der peinliche Block ins Leere, bei dem man sein Ziel verpasst

CHICKEN WING

Der illegale Einsatz der Ellbogen, um den Gegner zu verletzen oder wegzudrängen

BUSH-PUSH

Den Gegner blocken – mit dem Unterleib, auch genannt Pussy Pop

MERBY

Männerderby

Tipps zum Angucken und Anhören

Roller Derby Girl (1949)

In dem Kurzfilm mit Oscarnominierung sind die ersten dokumentarischen Aufnahmen zu sehen. Und die legendäre Midge „Toughie“ Brasuhn, eine Pionierin des Sports.

Brutal Beauty (2010)

„Es geht nicht um Hotpants, sondern ...“: Frauen erzählen, wie das Derby ihr Leben veränderte (gibt’s bei Netflix).

Blood on the Flat Track (2009)

Dokumentation über die Rat City Rollergirls (Seattle), fast noch empfehlenswerter ist ihr Soundtrack.

Whip it (2009)

Im Regiedebut verfilmt Drew Barrymore den gleichnamigen Roman von Shauna Cross – eine klassische Coming-of-Age-Geschichte. Ein Mädchen tauscht Schönheitswettbewerbe gegen Mundschutz und Knieschoner (Deutscher Titel „Roller Girl“).

Rollergirls (2006)

Reality-Serie um das Texas Roller Derby, das den neuen Hype ausgelöst hat.

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