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Spiel mit der Wirklichkeit. Taron Egerton (links) singt alle Songs von Elton John im Film selbst.

© Imago/Zuma Press, Terry O’Neill/Getty Images, Montage: Irvandy Syafruddin

„Rocketman“ & Co: Warum Biopics das Publikum spalten

Im Kino boomen Filme wie „Rocketman“. Doch wie streng sollte sich Hollywood an die Lebensgeschichten der Berühmtheiten halten? Ein Pro und Contra

Christiane Peitz verteidigt die Fiktion

Ich bin viele, das ist mal klar. Wer ist schon hundertprozentig mit sich identisch? Und um wie viel ärmer wären wir Menschen, wenn wir nicht spielten, mit Rollen, Masken, Varianten unserer selbst? „Als ich noch groß war ...“: So fingen etliche Geschichten meines Enkels an, als er noch kleiner war, er fantasierte sich fröhlich in seine Zukunft zurück. Nebenbei strafte er damit all jene Lügen, die den pädagogischen Zeigefinger heben, wenn Eltern selber Sachen erfinden. Aber was Kinder verunsichert, ist nicht mangelnde Liebe zur Wahrheit, sondern mangelnde Liebe.

Was ist Fakt, was ist Fake? In Zeiten von Fake News, auch das ist mal klar, wächst die Sehnsucht nach Trennschärfe, von der Causa Relotius über die imaginierte Zeitgeschichte in Takis Würgers „Stella“-Roman bis zu Florian Henckel von Donnersmarcks allzu freizügigem Umgang mit Œuvre und Biografie von Gerhard Richter in „Werk ohne Autor“. Und was darf die Fiktion?

Sie darf erst mal alles. Was nicht heißt, dass sie keine Moral kennt. Geschichte ist kein Selbstbedienungsladen, auch eine Biografie verträgt keine Willkür.

Ist "Der Untergang" gut, weil die Dialoge verbürgt sind?

In seinem Kunstfälscher-Film „F for Fake“ zitiert Orson Welles den berühmten Picasso-Satz von der Kunst, die eine Lüge ist, „die uns die Wahrheit erkennen lässt, wenigstens die Wahrheit, die wir Menschen erkennen können“. Die Wahrheit einer Geschichte bemisst sich nicht an ihrem Realitätsgrad, sondern an ihrem Erkenntnisinteresse, dem Verantwortungsbewusstsein gegenüber ihrem Sujet. Zum Beispiel „Der Untergang“: ein gelungener Film, weil jeder Dialogsatz im „Führerbunker“ verbürgt ist? Nein, ein fragwürdiges Werk, weil die Collage von expertenzertifizierten Dialogen eine Haltung gegenüber Hitlers Monstrosität (und seiner Banalität) vermissen lässt.

Oder umgekehrt. Ist Christian Petzolds Verfilmung von Anna Seghers’ autobiografischem Exil-Roman „Transit“ Geschichtsklitterung, weil er historische Figuren ins heutige Marseille schickt? Nein, der Transfer erhellt Vergangenheit und Gegenwart gleichermaßen.

Wer sich nicht in die Fiktion begibt, kommt darin um. Es ist kompliziert: Der Künstler schließt mit dem Publikum einen Vertrag: Ihr lasst mir die Freiheit, die ich mir nehme. Wer den Fiktionsvertrag bricht und Literatur als Journalismus ausgibt, ist ein Betrüger. Wer aber wie Ernest Hemingway die Reportage zur Short Story erklärt, ist ein Meister.

Zuschauer mögen die Gratwanderung

So heikel die Gratwanderung zwischen Doku und Fiction auch sein mag, wir Zuschauer mögen sie gerne. Deshalb hat die Empörung etwas Bigottes. „Nach einer wahren Geschichte“. Es ist ein Kick, ein Thrill, von „Ziemlich beste Freunde“ bis „Das fliegende Klassenzimmer“, von „Spotlight“ über „Selma“ bis „Vice“, ganz zu schweigen vom beliebten TV-Histotainment. Persönlichkeitsrechte und Kunstfreiheit geraten da schnell in Clinch miteinander.

Bei Biopics über Stars mischen zudem die Fans mit. Ob „Bohemian Rhapsody“ oder „Rocketman“: Ein falsch datierter Song, eine Begegnung, die so nie stattgefunden hat, und der Shitstorm ist programmiert. Bei allem Respekt vor der Expertise der Fans, nicht an der Liebe zum Detail bemisst sich die Qualität dieser Filme, sondern an der Liebe zur Figur, dem Versuch, ihre Wahrheit zu erkennen. Genie und Wahnsinn, eine existenzielle Einsamkeit, ihre Zähigkeit – was immer den Wesenskern von Freddie Mercury oder Elton John ausmacht.

Laut Grimms Wörterbuch haben „entdecken“ und „erfinden“ den gleichen Ursprung. Schönstes Belegzitat: „Columbus hat America erfunden“. Das Publikum nicht zu betrügen, bedeutet also, um die Liaison von Fakt und Fiktion zu wissen – und umso mehr nach Wahrhaftigkeit zu streben. Der Rest ist Spieltrieb. „Fehler“ im Film entdecken, es ist ein Volkssport. Googeln Sie mal „informationisbeautiful“ und „based on a true story“ ...

Moritz Honert will Fakten, Fakten, Fakten

Rami Malek als Freddie Mercury im biografischen Filmdrama "Bohemian Rhapsody".
Rami Malek als Freddie Mercury im biografischen Filmdrama "Bohemian Rhapsody".

© imago images/Cinema Publishers

Moritz Honert will Fakten, Fakten, Fakten

Angeblich schreibt ja das Leben die besten Geschichten. Klingt schön. Ist aber Quark. Sonst würden Drehbuchautoren nicht ständig dran herumdoktern, wenn sie mal wieder eins im wahrsten Sinne des Wortes dramatisieren. Egal ob Alan Turing, Stephen Hawking, Freddie Mercury oder nun Elton John. Es wird montiert, unterschlagen, gerafft, verschoben, damit ja der Spannungsbogen stimmt. Leute tauchen auf, die hat es nie gegeben, unschöne Züge werden übertüncht, komplexe Entwicklungen küchenpsychologisch auf eine Handvoll Schlüsselmomente heruntergebrochen. Wurde einfach zu wenig umarmt, der kleine Elton. Klar, dass er da zum Getriebenen werden musste.

Der große Elton hatte im Vorfeld getönt, alles solle so wahrhaftig wie möglich werden. „Rocketman“ lehrt nun aber erneut, dass so richtig viel Wahrhaftigkeit im Film offensichtlich nicht möglich ist.

Drehbuchautor Aaron Sorkin hat sogar mal ganz dreist erklärt: „Meine Treue gilt nicht der Wahrheit, sie gilt dem Geschichtenerzählen.“ Da hatte man ihn unter anderem darauf hingewiesen, dass Mark Zuckerberg zum Zeitpunkt, da er Facebook programmierte, kein enttäuschter Single war, wie Sorkin das in „The Social Network“ unterstellt.

Die Biopics verwandeln Fiktion in Fakt

Ja, und?, mag man nun einwenden. Ist doch nur ein Film und Film kein Journalismus. Im Kino will man was erleben, möglichst bunt, laut, dramatisch soll es sein, und wenn dabei geweint und gelacht wird, umso besser. Für den fiktiven Blockbuster-Budenzauber mag das gelten. Aber Hollywoods dramatisierte Biografien sind eben keine harmlosen Paralleluniversen, die einen für 120 Minuten aus dem Alltag entführen. Im Gegenteil. Sie verwandeln auf höchst bedenkliche Weise Fiktion in Fakt. Das Bild hat eine unglaubliche Macht. Jean-Luc Godard hat nicht übertrieben, als er sagte: „Film ist die Wahrheit 24 Mal in der Sekunde“ – auch wenn er da bestimmt nicht an die Zuschauer dachte, die sich bis heute bei der ARD melden, wenn in der „Lindenstraße“ mal wieder ein Zimmer frei wird.

Gut, oft mag der Schaden überschaubar sein. Für viele Millionen hat König Georg VI. jetzt eben einen Sprachfehler – der nie so ausgeprägt war wie in „The King’s Speech“ behauptet. Aber was ist, wenn Regisseur Arthur Penn Mörder wie „Bonnie und Clyde“ zu romantischen Outlaws verklärt? Was, wenn Kathryn Bigelow in „Zero Dark Thirty“ mit ihrer fehlerhaften Darstellung der Jagd auf Bin Laden ein Plädoyer für Folter hält?

Es geht um gesellschaftliche Verantwortung

Deshalb sollte sich die Debatte, ob Biopics das Leben zugunsten der Geschichte biegen dürfen, weniger um künstlerische Freiheit als um gesellschaftliche Verantwortung drehen. Wir erleben derzeit eh schon einen bedenklich laxen Umgang mit Tatsachen. Klimawandel, Impfen, 9/11: Soll doch jeder glauben, was er will. Experten, Presse, Politik? Lügen doch sowieso alle. Fakten? Ach, es gibt doch „alternative“.

Wahrheit war mal ein hohes Gut. Ein gemeinsamer Boden, auf dem Dispute ausgetragen werden konnten. Eine Gesellschaft, die sich davon verabschiedet, die akzeptiert, dass sich jeder seine eigene kleine Welt zimmert, eine Gesellschaft, die im Geiste Oscar Wildes eine schöne Lüge der langweiligen Wahrheit vorzieht, zerstört sich selbst. Denn mit Fug und Recht könnte man fragen: Wenn ein Aaron Sorkin die Wirklichkeit zu seinem eigenen – ja, auch finanziellen – Vorteil biegen darf, warum sollte eine Hochstaplerin wie Anna Sorokin es nicht ebenso dürfen? Warum bekommt der eine einen Oscar und die andere jetzt vier Jahre Knast? Wenn es dem Rapper Dr. Dre erlaubt ist, seine Biografie in „Straight outta Compton“ zu schönen, warum sollte ein Dr. med das bei seiner nächsten Bewerbung nicht auch tun?

Zu leben ist eine Kunst, sicher, aber keine, die es lohnt, sie der Wahrheit zu opfern.

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