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Schriftstellerin Antje Rávic Strubel.

© Zaia Alexander

Rheinsberg und Co.: Stadtschreiber: Ein Heim auf Zeit für Autoren

Ein Bett, etwas Geld und wenig Ablenkung –  damit locken gut zwei Dutzend deutsche Orte Schriftsteller an. Auch Rheinsberg beherbergt Stadtschreiber. Ein Besuch in der Literatenklause.

Im Marstallgebäude des Rheinsberger Schlosses, unter dem Arbeitszimmerfenster einer Zweiraumwohnung im Obergeschoss, steht ein Schreibtisch. Die Arbeitsfläche ist weder groß noch klein, sie neigt sich leicht dem Schreibenden entgegen, in ihre Mitte ist ein gepolstertes Rechteck aus flaschengrünem Leder eingelassen. Der Tisch strahlt historische Kontinuität aus, erkennbar macht er seine Arbeit nicht erst seit gestern, er wirkt erprobt und verlässlich. Fast meint man ihm anzusehen, dass hier in den vergangenen zwei Jahrzehnten mehr als 40 Schriftsteller die Ellbogen ins Leder gestützt haben.

Antje Rávic Strubel ist Nummer 43. Als die Potsdamer Autorin im Februar die Stadtschreiberwohnung von Rheinsberg bezog, fand sie in der ansonsten besenreinen Küche eine Flasche altes Rapsöl sowie ein paar zurückgelassene Vitamintabletten vor. Die Fundstücke könnten von Strubels Amtsvorgängerin Marion Brasch stammen, die hier im vergangenen Jahr an ihrem Roman „Die irrtümlichen Abenteuer des Herrn Godot“ feilte. Vielleicht sind sie aber auch schon älter, dann könnten sie zum Beispiel Wiglaf Droste gehört haben oder Marion Poschmann, Tom Wolf oder Regina Scheer, Johannes Groschupf oder Katja Lange-Müller.

Stipendien gibt es rund um den Globus

Nach ihrem Einzug entsorgte Antje Rávic Strubel das Rapsöl und die Vitaminpräparate, stellte ihre mitgebrachte Espressokanne auf den Herd und verstaute ein paar Bücher und Musik-CDs in den Regalen. Dann setzte sie sich an den Schreibtisch, klappte ihren Laptop auf und begann zu arbeiten – genau so, wie sie es als Schreibstipendiatin zuvor schon in New York, Helsinki und Los Angeles, im brandenburgischen Wiepersdorf, im schwedischen Visby und auf Sylt getan hatte.

„Wenn ich erst einmal in der Arbeit drinstecke, wenn es fließt“, sagt Antje Rávic Strubel, „dann kann ich im Prinzip überall schreiben.“

Aufenthaltsstipendien für Schriftsteller gibt es rund um den Globus. Allein in Deutschland konkurrieren gut zwei Dutzend Programme mit der Stadtschreiberstelle von Rheinsberg. Geographisch verteilen sie sich über die gesamte Republik, mit einer starken Ballung im reicheren Süden. Nicht überall nennt man die Stipendiaten „Stadtschreiber“ – es gibt auch „Dorfschreiber“ (in der Schwarzwaldgemeinde Eisenbach), „Burgschreiber“ (im brandenburgischen Beeskow), „Schlossschreiber“ (Wiepersdorf), „Klosterschreiber“ (in Cismar, Schleswig-Holstein), „Albschreiber“ (im schwäbischen Albstadt), „Turmschreiber“ (im hessischen Offenbach), „Inselschreiber“ (auf Sylt) sowie – bis zur Einstellung des Programms vor ein paar Jahren – den „Bezirksschreiber“ von Hellersdorf, für den eine Plattenbauwohnung im Berliner Nordosten reserviert war.

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Stadtschreiber, das waren im ursprünglichen Sprachgebrauch die Leiter städtischer Kanzleien, die Rats- und Gerichtssitzungen protokollierten oder Chroniken führten. Heute umschreibt der altertümliche Begriff örtlich gebundene Arbeitsstipendien, die sich in der Dauer und Höhe der Förderung erheblich unterscheiden. Auf knappe vier Wochen ist etwa der Aufenthalt im schwäbischen Albstadt angelegt, ein ganzes Jahr können Autoren in Mainz oder Baden-Baden verbringen; 1500 Euro wurden zuletzt für 100 Tage im thüringischen Ranis gezahlt, 9000 Euro für drei Monate in Mannheim.

Rheinsberg liegt mit fünf Monaten Aufenthalt und 5000 Euro Förderung im Mittelfeld. Entscheidender als der finanzielle Anreiz ist für Antje Rávic Strubel aber die Ruhe, die ihr das Arbeiten in der Fremde bietet. „Ich komme weg aus meinem Umfeld, weg von meinen Alltagssorgen, ich muss keine Post öffnen, ich lebe wie auf einer Insel.“ Mitunter, fügt die 42-Jährige hinzu, bringe die veränderte Umgebung sie auch auf Einfälle, die ihr sonst vielleicht nicht gekommen wären. „Erschreckend eigentlich, dieser Gedanke“, sagt Strubel. „Wer weiß, was alles nicht geschrieben wurde, weil ich gerade nicht zuhause in Potsdam war – oder weil ich gerade nicht an einem ganz anderen Ort war.“

Über die Stadt zu schreiben, ist keine Bedingung

Einfacher lässt sich belegen, was geschrieben wurde, weil jemand gerade in Rheinsberg war. Peter Böthig, der als Leiter des örtlichen Tucholsky-Museums 1995 die Stadtschreiberstelle ins Leben rief, verwahrt in seinen Büroregalen die literarische Ausbeute des Förderprogramms: die „Rheinsberger Bögen“, eine Reihe schmaler A5-Hefte, für die jeder Stipendiat während seines Aufenthalts einen 16-seitigen Text beisteuern soll. Gelegentlich landen außerdem Bücher in Böthigs Regalen, in denen ehemalige Stipendiaten ihren Rheinsberg-Aufenthalt literarisch verarbeiten. Natürlich freut es den Museumsdirektor, wenn ein Stadtschreiber über seine Stadt schreibt, aber zur Bedingung macht er es wohlweislich nicht. „Das ist ein erfreulicher Nebeneffekt des Programms, aber nicht das Ziel“, sagt Böthig. „Was wir hier machen, ist in erster Linie Künstlerförderung.“

Die „Rheinsberger Rhapsodien“ von Rajvinder Singh stehen in Böthigs Regal, Thomas Hartwigs „Die Magie von Rheinsberg“, Brigitte Struzyks „Die Linde am Rhin“. Nicht explizit erwähnt wird die Stadt in Marion Poschmanns „Die Sonnenposition“, aber das barocke „Ostschloss“, in dem der Roman spielt, hat große Ähnlichkeit mit Schloss Rheinsberg. Das gewichtigste Werk in Böthigs Regal hat Giwi Margwelaschwili geschrieben, der allererste Stipendiat hier, dessen Buch „Der Kantakt. Aus den Lese-Lebenserfahrungen eines Stadtschreibers“ erst 14 Jahre nach dem Aufenthalt im Marstallgebäude erschien: 800 Seiten Rheinsberg, die Peter Böthig nun jedem Skeptiker des Förderprogramms entgegenhalten kann.

Wolfgang Hilbig wurde am späten Nachmittag schlafend angetroffen

Schloss Rheinsberg.
Schloss Rheinsberg.

© Kitty Kleist-Heinrich

Denn Skeptiker gab es anfangs durchaus, erinnert sich der Museumsleiter. Was haben wir denn von einem Stadtschreiber, fragten die Leute, was will der hier, schreibt der über uns? Breitgemacht habe sich die „traditionelle brandenburgische Skepsis vor dem, was man nicht kennt“, sagt Böthig – die Angst, dass da ein Intellektueller anreise, vor dessen Augen man nicht bestehe und der entsprechend hochmütig über die Stadt urteilen werde.

Die Rheinsberger wurden nicht unbedingt wärmer mit dem Programm, als einer der ersten Stipendiaten, der inzwischen verstorbene Autor Wolfgang Hilbig, von einer Reinigungskraft schlafend in seiner Schreibklause angetroffen wurde – am späteren Nachmittag. Unter den Rheinsberger Frühaufstehern sprach sich das schnell herum, und Peter Böthig musste in der Folge mehrfach erklären, dass Schriftsteller nun mal ihren eigenen Arbeitsrhythmus haben, den man ihnen bitte auch lassen solle.

Die Wende kam spätestens mit Thorsten Becker. Kaum in der Stadt angekommen, mischte sich der Berliner Autor unter die Gäste des Rheinsberger Ratskellers, wo gerade der Unternehmerstammtisch tagte, der den örtlichen Fußballclub FSV Blau-Weiß 90 sponsert. Nach dem dritten oder vierten Bier brachte der Stadtschreiber spontan eine Vereinshymne zu Papier, die laut Böthig bis heute in Gebrauch ist: „Schöner kann ein Tag gar nicht sein / Der FSV Rheinsberg läuft ein / Der Himmel blau, die Wolken weiß / Preußen schießen, jetzt wird es heiß / Angriff schnell wie Friedrich im Sturm / Abwehr fest wie Heinrich im Turm / Wie eure Bälle auch fliegen / Rheinsberg wird siegen, siegen!“

Auch ansonsten, sagt Böthig, habe sich Thorsten Becker mit großer Lust ins städtische Leben eingebracht. Wolfgang Hilbig dagegen, der Nachmittagsschläfer, sei ein ausgesprochener Nachtarbeiter gewesen, den die Rheinsberger tagsüber nur selten zu Gesicht bekommen hätten. „Schriftsteller haben nun mal unterschiedliche Temperamente“, sagt der Museumsleiter, der seine Stadtschreiber nimmt, wie sie kommen. Lediglich eine Antrittslesung macht er ihnen zur Bedingung, und einen Interviewtermin mit den beiden Lokalzeitungen, der „Märkischen Allgemeinen“ und dem „Ruppiner Anzeiger“, damit die Rheinsberger wissen, wer da nun in ihrer Mitte residiert.

Die Stipendiaten wählt Böthig in Abstimmung mit dem brandenburgischen Literaturbüro aus – bewerben kann man sich nicht in Rheinsberg, man wird eingeladen. Interessebekundungen erreichen Böthig trotzdem regelmäßig, von Autoren wie von Verlagen. Fest umrissene Kriterien hat der Museumsleiter nicht für seine Auswahl. Die Stipendiaten sollten in ihrer Arbeit dem humanistischen Erbe Kurt Tucholskys verpflichtet sein – „aber wer ist das nicht?“, fragt Böthig. Sie müssen bereits etwas veröffentlicht haben, sollten gleichzeitig aber noch förderwürdig sein, sprich: nicht mit übermäßigem kommerziellen Erfolg gesegnet. Voraussetzung ist außerdem, dass sie willens und in der Lage sind, in Rheinsberg zu arbeiten. „Manche Autoren sitzen ja lieber zuhause“, sagt Böthig. „Andere haben schulpflichtige Kinder und können deshalb nicht weg.“

Ihr Projekt: eine "Gebrauchsanweisung für das Skifahren"

Sind die Autoren erst einmal in Rheinsberg angekommen, bietet Böthig ihnen an, sie mit der lokalen Politik zu vernetzen, sie zu Stadtverordnetensitzungen und Kulturveranstaltungen mitzunehmen oder zu den Freie-Heide-Demonstrationen der brandenburgischen Bombodrom-Gegner, um zu zeigen, was die örtliche Bürgergesellschaft so treibt. „Die meisten nehmen das gerne an“, sagt Böthig, „weil es Realitätsausschnitte sind, die sie in ihrer Schreibklause in Neukölln nicht so mitbekommen.“

Antje Rávic Strubel will die Auseinandersetzung mit der Stadt eher auf das Ende ihres Aufenthalts legen, bislang hat sie noch genug mit der Präsentation ihres gerade erschienenen Romans „In den Wäldern des menschlichen Herzens“ zu tun, zudem schreibt sie in Rheinsberg an einer „Gebrauchsanweisung für das Skifahren“. Die Interviewtermine immerhin hat sie hinter sich, ihr Foto ist in den Lokalzeitungen erschienen, die Rheinsberger wissen, wer sie ist.

Auf der Straße erkannt habe sie bisher aber niemand, sagt Strubel, was daran liegen mag, dass sie oft maskiert aus dem Haus geht: Beim Rollerski-Training auf den örtlichen Fahrradwegen trägt sie Helm und Sonnenbrille. Der Anblick scheine die Rheinsberger zu überraschen, sagt Strubel: Mehrmals sei ihr von älteren Herren zugerufen worden, dass der Winter doch längst vorbei sei – eine Rheinsberg-Anekdote, die umgehend Eingang in Strubels Skifahrer-Buch fand.

Wie sie den Rheinsbergern erklären würde, was sie hier tue? Strubel denkt einen Moment nach. „Ich setze mich um neun Uhr morgens an meinem Schreibtisch. Dann arbeite ich hart, und am Ende kommt ein Buch heraus. Und vielleicht kommen Sie darin vor – vielleicht bringt mich das Gespräch mit Ihnen auf die beste Idee. Genau deshalb bin ich hier.“

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