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Wie im Märchen. Jede kleine Reiterin darf sich heute wie eine Prinzessin fühlen.

© imago/allOver-MEV

Reiten: Zeitenwendy: Wie unser Autor vom Ponyhof vertrieben wurde

Für Cäsar, die Husaren und die Preußenkönige war das Pferd noch ein Männlichkeitssymbol. Heute haben Frauen das Kommando im Sattel.

Von Andreas Austilat

Neulich habe ich meine 10-jährige Nichte auf einen Ponyhof ins Münsterland gebracht. Sie wollte reiten lernen. Wie fast alle jungen Mädels: sich um Shetlandponys kümmern, sie striegeln, kämmen und ihnen alte Möhren in die Mäuler stopfen.

Unsere Laune war bestens – bis wir auf den matschigen Hof rollten. Sofort wurden wir von einer Horde aufgekratzter Pferdemädchen umringt, der ein einzelner verstörter Junge folgte. Und sofort sah ich mich in ihm wieder. Die alten Beklemmungen kamen hoch, die ich im Sommer 1996 auf der Autofahrt vom Ponyhof nach Hause tief in meinem Inneren vergraben hatte.

Damals war ich auf demselben Hof eine Woche lang von einer bösartigen Mädchengang drangsaliert worden. Immer wenn ich mit meinem Pony, einer alten Stute namens Chiara, allein sein wollte, nahmen sie mir meine Bürste weg, bewarfen mich mit Pferdeäpfeln oder belehrten mich, wie man die Hufe der Tiere richtig auskratzt.

Denn auf dem Ponyhof herrschen die Mädchen. Es ist vielleicht sogar der emanzipierteste Ort der Nation – und das ganz ohne Quote.

Die Pferdemädchen-Industrie sorgt für steten Nachwuchs

78 Prozent der Mitglieder der Reiterlichen Vereinigung (FN), dem nationalen Dachverband des Pferdesports, sind weiblich. Alle Versuche und Initiativen wie „Jungs aufs Pferd“, bei denen in Kursen unter anderem ehemalige Olympiamedaillengewinner versuchten, mehr Männer für den Sport zu gewinnen, konnten den Trend nicht stoppen.

Die Pferdemädchen-Industrie sorgt für steten Nachwuchs. Ob auf den Covern der Hörspiele von „Bibi & Tina“ oder der Zeitschrift „Wendy“ mit ihren Pferde-Lovestories – die Zielgruppe ist weiblich, die dominierende Farbe Rosa. In Online-Reitshops gibt es pinke Pferdedeckchen, lilafarbene Steppwesten, und seit das Harald-Glööckler-Krönchen eine Reitkollektion ziert, darf sich jede Reiterin heute wie eine Prinzessin fühlen.

Und die Männer? Die halten sich fern, sind Statisten, die gelangweilt in der Gaststätte neben der Reithalle sitzen, über ihre Handydisplays wischen und warten, bis die Freundin am Abend endlich die Gäule abgeduscht hat. Oder sie sind die Chauffeure, wie ich heute.

„Das war ja schlimm da“

Dabei war das mal ganz anders, Reiten galt lange als männlich. Was ist passiert?, frage ich mich, als ich beobachte, wie sich eine 13-jährige Blondine mit gespitzten Lippen und in rosa Fleeceweste meine Nichte schnappt und, vorbei an Lucy und Flocke, durch den Stall eskortiert.

Mein Neffe, der auch mitgefahren war und mich als kleiner einsamer Junge an mein achtjähriges Ich erinnert hatte, rollt beim Anblick der alten Ponys nur mit den Augen und steuert auf das rostige, alte Kettcar zu, das in der Ecke steht. Auf der Heimfahrt schaue ich in den Rückspiegel. „Das war ja schlimm da“, sagt mein Neffe. Ich nicke und schalte das Radio ein. Nie wieder Ponyhof, denke ich.

Eigentlich habe ich nichts gegen Pferde, im Gegenteil. Schon als kleiner Junge war ich von der Kraft der Tiere begeistert, liebte es, auf der Rennbahn beim Einlauf zu stehen, wenn das Getrappel immer lauter wurde und den Reitern Erdklumpen in die Gesichter flogen. Bis heute löst der Anblick von galoppierenden Pferden in mir ein erhabenes Gefühl aus.

Das habe ich sicher von meinem Vater geerbt, der seine Kindheit in den 1950ern auf einem Bauernhof in der Lüneburger Heide verbracht hatte. Noch bevor er richtig laufen konnte, setzte ihn mein Großvater auf seine großen Hannoveraner. Als Zehnjähriger kaufte mein Vater von seinem Taschengeld sein erstes Pferd, es war zuvor panisch in einen Milchwagen galoppiert und deshalb billig. Später ritt er es dann selber zu.

Früher hörte man überall Hufe schlagen

Ob „Bibi & Tina“ oder die Zeitschrift „Wendy“ mit ihren Pferde-Lovestories – die Zielgruppe ist weiblich.
Ob „Bibi & Tina“ oder die Zeitschrift „Wendy“ mit ihren Pferde-Lovestories – die Zielgruppe ist weiblich.

© pa/Patreick Pleul/dpa

Ich liebte es, auf Papas Schoß zu sitzen und die alten Alben anzuschauen mit den Bildern von gefährlichen Geländeritten. An ein Foto erinnere ich mich besonders: Darauf sitzt mein Vater mit den alten Breecheshosen nach einem Sturz und mit blutender Nase im Wassergraben und mein einarmiger Großvater in Offiziersuniform zieht ihn wie Kapitän Hook an seinem Eisenhaken aus dem Tümpel.

Wäre ich so aufgewachsen wie mein Vater, wäre ich wohl, wie manche meiner Freunde vom Land, ein stolzer Reitersmann geworden. Aber ich bin in Dortmund groß geworden, und dort lernt man das Reiten beim Voltigieren im Verein, wo die Kinder in bunten Leggings im Handstand auf dem Rücken von dicken Ponys stehen.

Die Kinder, das sind in dem Fall die Mädchen. Denn der Münsterländer Ponyhof ist überall.

Mehr als 6000 Jahre ist es her, dass sich der erste Mann irgendwo in der vorderasiatischen Steppe auf einen Pferderücken schwang. Seitdem avancierte das Pferd zu seinem wichtigsten Begleiter. Jahrtausendelang war ohne den Einsatz von Pferden buchstäblich kein Krieg zu gewinnen. Könige und Herrscher wie Julius Cäsar, Theodore Roosevelt und heute Wladimir Putin, mit nacktem Oberkörper und eingezogenem Bauch (in Russland scheint es Wendy nicht zu geben), ließen sich am liebsten im Sattel porträtieren.

Am Savignyplatz machte der Kaiser bei Ausritten Rast

Bis zur Motorisierung des Alltags zu Beginn des 20. Jahrhunderts und bis zur Einführung des Panzers im ersten Weltkrieg hatten auch die Städte einen anderen Sound. Man hörte Hufe schlagen, und es stank nicht nach Benzin und Abgasen wie heute, sondern nach Dung und Pisse. Pferde trieben Mühlräder an, zogen Kohlenwagen, Droschken oder Trambahnen.

Am Berliner S-Bahnhof Savignyplatz zeugt die Künstlerkneipe „Diener“ mit ihrem vergilbten Fresko einer englischen Fuchsjagd noch von den Überresten des „Tattersall des Westens“. Einst war dort eine der größten, mehrgeschossigen Reitanlagen des Landes, die Pferde standen in den Bögen unter der Trasse, dort wo heute Buchläden und Pizzerien sind. Hier machte der Kaiser im Sommer bei Ausritten Rast und spülte den Durst mit einem Bier herunter.

Frauen ritten eher selten. Meine Großmutter lernte zum Beispiel in den 30er Jahren noch im unbequemen Damensitz, für den man besonders ruhige Pferde braucht. Sport ließ sich damit keiner treiben. Nur zu Hause, wo sie niemand sah, konnte sie – so wie es heute üblich ist – im Herrensitz reiten. Die Frau, das damals sogar ärztlich verordnet, solle sich nicht übermäßig körperlich anstrengen.

Dann begann die schleichende weibliche Revolution

Nach dem Zweiten Weltkrieg kam man von diesem Irrglauben langsam ab, und immer mehr Frauen drängten in den Sport. Die Pferde, es gibt heute noch geschätzt eine Million in Deutschland, waren da schon endgültig zu reinen Sportgeräten degradiert worden.

Damit begann auch die schleichende weibliche Revolution, die mich Jahre später davon abhalten würde, ein leidenschaftlicher Reiter zu werden. Manche Wissenschaftler meinen, dass der Sportwagen das Pferd irgendwann als liebstes Freizeitgerät des Mannes ablöste. Schließlich ist der noch schneller und pflegeleichter. Ein Pferd kann man nicht einfach wochenlang in der Garage stehen lassen. Andere, wie der Psychologe Harald Euler, gehen davon aus, dass es sich um ein Bindungsphänomen handelt. In einer Studie erklärte er, dass gerade Mädchen irgendwann, und eben früher als Jungs, von fiktiven Spielen genug hätten und sich um etwas Lebendiges kümmern wollen. Oft hält die Begeisterung ein Leben lang. Und Pferde werden in der Regel mehr als doppelt so alt wie zum Beispiel Hunde.

„Mich nervt, dass man heute alles durchgendert“

"Ostwind"-Autorin Lea Schmidbauer erschuf die rebellische Mika (hier in einer Szene des Kinofilms "Ostwind 2", gespielt von Hanna Binke).
"Ostwind"-Autorin Lea Schmidbauer erschuf die rebellische Mika (hier in einer Szene des Kinofilms "Ostwind 2", gespielt von Hanna Binke).

© pa/Constantin Film/dpa

Als die Drehbuchautorin und Filmemacherin Lea Schmidbauer vor ein paar Jahren gefragt wurde, ob sie sich vorstellen könne, ein Drehbuch für die Zielgruppe Pferdenärrin zu schreiben, sagte sie sofort zu. Nicht nur, weil die heute 46-Jährige seit ihrer Kindheit reitet, sondern auch weil sie endlich Schluss machen wollte mit dem Pferdemädchen-Klischee.

Sie erschuf die rebellische Mika, die im Film „Ostwind“ einen störrischen Rappen zähmt, mit dem das junge Mädchen Abenteuer erlebt. Bis heute kamen vier Filme in die Kinos, die zu den erfolgreichsten Pferdefilmen überhaupt gehören. Doch auch Schmidtbauer muss zugeben: Die meisten Kinobesucher sind Mädchen. „Ich wollte damit bewusst aus dieser nervtötenden rosafarbenen Welt aussteigen“, sagt sie, die auch Landwirtin in einem Dorf in Mittelfranken ist, „wollte erzählen, wofür das Reiten für mich steht.“ Schmidbauer ging es in ihrer Jugend um Indianer, um Aufbruch, darum, die Freiheit der Natur im Sattel zu erleben: „Nicht darum, eine riesengroße Puppe anzubeten, die ich flechten, streicheln und Mäuschen nennen kann.“

In ihrer Kindheit in den 70er Jahren habe es dieses Freiheitsgefühl ja teilweise noch gegeben, da seien auch noch nicht alle Spielsachen für Jungs blau und für Mädchen rosa gewesen. „Mich nervt, dass man heute alles durchgendert“, sagt Schmidbauer, das führe vor allem dazu, dass die Buben eingeschränkt würden, „wenn ein Mädchen mit Autos spielt, gut, aber wenn ein Junge zur Puppe greift, dann schreien alle: Oh Gott.“

Männer wollen sich untereinander messen

Inzwischen findet man kaum noch männliche Hobbyreiter, sondern nur Profis auf Wettkämpfen. Das bestätigt auch Christoph Wahler, einer der talentiertesten jungen Vielseitigkeitsreiter in Deutschland, der auf dem eigenen Gestüt von seinem Vater lernte: „Ich glaube, für Männer zählt eher das kompetitive Reiten“, sagt er, „das Sichmessen.“

In der Weltrangliste des Springreitens belegen daher auch fast nur Männer die vorderen Plätze. Im Galopprennsport kommt auf drei erfolgreiche Jockeys etwa eine Berufsreiterin, wohingegen bei den Amateurrennreitern, die nur gelegentlich an den Start gehen, 80 Prozent Frauen sind.

„Da wird dann allerdings gesagt, dass Männer brutal und mit harter Hand reiten würden“, sagt Schmidbauer, „was auch Quatsch ist.“ Derzeit schreibt sie mit einer Kollegin am fünften Ostwind-Buch und bedauert, die meisten Leute würden nicht erkennen, dass die Filme eigentlich mit dem Klischee brechen wollten.

Meine Nichte will nicht mehr hin

Daher plante sie für den nächsten Film, ihre rothaarige Protagonistin gegen einen Jungen auszutauschen. Vielleicht hätte der meinem kleinen Neffen ein Vorbild werden können? Schmidbauer lacht, das sei allerdings mit ihrer Produktionsfirma nicht zu machen gewesen, die hatten Angst, dass sich die Filme dann nicht mehr so gut verkaufen würden. Denn die demografische Rechnung ist einfach: Hunderttausende Pferdemädchen und ihre Familien garantieren stetige Einnahmen. Das riskiert man nicht für ein paar Jungs in Reithosen.

„Und so beißt sich die Katze in den Schwanz“, sagt Schmidbauer. Die rosafarbenen Bilder, die die Unterhaltungsbranche selbst erschaffen habe, würden immer wieder reproduziert.

Als meine Nichte nach einer Woche auf dem Reiterhof abgeholt wird, ist sie sehr ausgelassen. Die Ausflüge durch den Wald und vor allem der Ritt durch den kleinen Tümpel hinter dem Haus hätten Spaß gemacht. „Trotzdem will ich nicht noch mal hin“, sagt sie bestimmt.

Zu viele Pferdenärrinnen.

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