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Ob analog oder digital. Mit Karten erklären sich Menschen die Welt.

© imago/Westend61

Reisen mit Google Maps: Wie Landkarten unsere Sicht auf die Welt prägen

Er liegt mit verletztem Knie im Bett, reist trotzdem nach Zermatt, Samarkand – und in seine Kindheit. Einmal um den Globus mit Google Maps.

Neulich war ich auf dem Matterhorn. Kletterte von der Hörnlihütte über die Solvayhütte hinauf zum Gipfelkreuz. Oben drehte ich mich im Kreis, schaute in jede Himmelsrichtung. Hinab nach Zermatt, von hier oben erinnerte das Dorf an eine Spielzeuglandschaft. Hinüber zur Dufourspitze, der Gletscher flirrte im Sonnenlicht. In die Ferne bis zur Poebene, die im Dunst verblasste. Als ich alles gesehen hatte, flog ich rauf in den Himmel und von dort nach Tadschikistan.

Ich bin ein Reisender der Zukunft. Entfernungen schrecken mich nicht ab, ich brauche nur wenige Sekunden über den Pazifik. Ich sehe die Wellen vor Hawaii und kurz darauf die Wüste Gobi. Die Hitze dort kümmert mich nicht, ich reise bei 21 Grad Zimmertemperatur. Ich reise mit Google Maps. Öffne die Seite im Browser und zoome erstmal raus. Aus Neukölln wird Berlin, aus Berlin Deutschland, aus Deutschland Europa. Plötzlich krümmen sich die Ränder der platten Landkarte und Maps macht daraus eine Kugel. Als würde man gemütlich im Weltall hängen und runtergucken auf den Erdball. Europa ist grün, die Sahara rentnerbeige, Grönland weiß. Jetzt ist alles möglich: Westen, Osten, Norden, Süden.

Bevor die Weltreise beginnt, ein paar Informationen zum Reiseveranstalter. Maps wurde 2005 als neuestes Google-Feature vorgestellt. Eine Karte, das war die Grundidee. 14 Jahre später ist Maps Navigationsgerät, Fahrplan, 3D-Animation der Welt, in der wir leben – genutzt von mehr als einer Milliarde Menschen. Man kann damit Matterhorn, Mandschurei und Mars erkunden, nur letzteren noch nicht per Street View, was an fehlenden Straßen liegt.

Wo liegt nochmal Turkmenistan?

Ich reise am liebsten in den Osten, da ist die Welt schön unübersichtlich. Wo liegt nochmal Turkmenistan? Ich schaue nach. Rechts vom Kaspischen Meer. Die Satellitenansicht verrät, dass das Land unglaublich trocken sein muss. Ich folge dem Grenzverlauf: Afghanistan, Iran, Kasachstan, Usbekistan. An letzterem bleibe ich hängen. Ich lese den Namen einer Stadt, Samarkand. Ich fühle ein nervöses Kribbeln. Stelle mir Moscheen vor, verblasste Goldkuppeln, weite sowjetische Plätze, auf einem Basar verkaufen Frauen Wassermelonen. Samarkand. Wie ein lange gehütetes Geheimnis.

Dieses Fernweh spüre ich seit drei Monaten. Ich verletzte mich am Knie, bekam eine Orthese zur Stabilisierung und den Auftrag: nicht bewegen. Ich wollte raus und durfte nicht, eine Kubareise musste ich absagen. Da entdeckte ich Maps.

Nicht dass ich die App früher nicht benutzt hätte. Ich plante Routen, suchte nach Restaurants und prüfte, wie voll sie zu diesem Zeitpunkt waren. Bestellte Taxis, wusste, dass man mit Maps Luftqualität checken und Staus finden kann.

Noch früher, lange vor der Erfindung von Google Maps, hatten mich Landkarten fasziniert. Es waren die 90er Jahre, ich ein Kind auf dem Rücksitz, vorne saß mein Vater und steuerte den Mitsubishi nach Hause vom Italienurlaub. Wenn wir die Alpen erreicht hatten, fuhr er auf einen Rastplatz und kramte eine Karte aus dem Handschuhfach. Er klappte sie auf der heißen Motorhaube auf, kreiste mit dem Finger und schob ihn dann durch Alpenserpentinen nach Norden. Niemals wäre er freiwillig durch einen der Autobahntunnel gefahren. Stattdessen suchte er Passstraßen, deren Namen bei mir eine Sehnsucht auslösten. Splügen. Bernina. Umbrail.

Wer Maps öffnet, landet schnell im Rabbit Hole

Oben auf den Pässen stieg mein Vater aus, der Wind fuhr ihm unters T-Shirt, er wiederholte die Kartenprozedur. „Man hätte auch über den Bernina fahren können“, sagte er auf dem Splügen. Auf dem Splügen redete er vom Grimsel. Zu Hause malte er eigene Landkarten. Und zeichnete die Urlaubsroute ein.

Damals, als mein Vater mit seinem Finger Karten bereiste, hatte ich auf der Rückbank eine lustige Vorstellung. Wenn man unendlich viele Karten nebeneinanderlegen würde, eine italienische neben eine österreichische neben eine ungarische neben eine ... – was kam nochmal rechts von Ungarn? Dann jedenfalls hätte man bald die ganze Welt als Landkarte vor sich. Google Maps als Fantasie.

Das Urban Dictionary kennt ein Wort für das, was mir passiert, wenn ich Maps öffne: Rabbit Hole. In einem solchen Kaninchenbau lande man, wenn man einen endlosen Tunnel mit Abzweigungen und Biegungen im Internet durchquert, aber nie an ein Ziel ankommt und stattdessen immer mehr Tunnel findet. Aus einer einfachen Google-Suche nach einem Ort werden bei mir richtige Sessions. Wohin ich reise, entscheide ich assoziativ. Von Alert in Nunavut fliege ich auf die Oktoberrevolutions-Insel und von dort nach Kamtschatka, wo ich den höchsten aktiven Vulkan Eurasiens entdecke, den Kljutschewskaja Sopka.

Schnell entdecke ich bei Google Maps nicht nur Kontinente, sondern auch die Timeline-Funktion. Damit kann jeder Nutzer sehen, wo er sich an welchem Tag seines Lebens aufgehalten hat, sofern er den Modus nicht ausgeschaltet hat. Google speichert jeden Fußabdruck, wie lange man für die Wege gebraucht hat, wann exakt man dort war. Auch auf meinen Maps-Touren hinterlasse ich Spuren. Zwar ändert sich mein Standort nicht, aber egal wo es mir gefällt auf der Welt, hinterlasse ich Marken. „Möchte ich hin“, heißt die Funktion. Ich markiere Restaurants, Städte, Berge, Strände, Schluchten und Straßen. Daraus kann Google sicher ein recht exaktes Profil basteln, und ich bilde mir besser gar nicht erst ein, dass ich Maps kostenlos nutze.

Schon in der Altsteinzeit haben Menschen Karten erstellt

Warum ich trotzdem nicht verzichte? Vielleicht geht es mir um den Wunsch nach Übersichtlichkeit. Die Landkarte als eine Möglichkeit, die Welt zu ordnen und zu begreifen. Ohne Zweideutigkeiten. Eine Stadt ist ein Ort, der seinen Platz auf der Welt hat.

Immer schon haben sich Menschen mit Karten die Welt erklärt. In Meschyritsch, heutige Ukraine, fanden Ärchaologen ein Stück Elfenbein mit einer Gravur. Die Forscher vermuten, dass sie die Hütten eines Dorfs darstellt und datieren den Knochen auf 13 000 vor Christus. Es wäre die erste Landkarte der Welt. Mehr als 12 000 Jahre später ritzten die Babylonier eine Karte in eine Tontafel. Das Relikt liegt heute im Britischen Museum in London und gibt einen Einblick in die Weltsicht der Babylonier. Sie zeigt eine Erdscheibe, durch die der Euphrat fließt, außen herum Wasser.

Weitere 2000 Jahre später, im Jahr 1911, war es eine Landkarte, die den Geowissenschaftler Alfred Wegener auf eine Idee brachte. Passte Südamerikas Ostküste nicht wie ein Puzzleteil zu Afrikas Westküste? Er untersuchte Gesteinsformationen, Flora und Fauna und entwarf bald die Theorie eines auseinanderdriftenden Urkontinents. Er bewies die Kontinentalverschiebung und widerlegte damit den Fixismus, also die Idee, dass Kontinente fix und unverrückbar wären. Vielleicht ist eine Stadt doch nicht nur ein Ort, der seinen Platz auf der Welt hat.

Die Erfahrung tötet die Fantasie

Vielleicht reise ich auch aus Sehnsucht nach Orten, die in der Wirklichkeit schwer zu erreichen sind. Oder von denen ich gar nicht gewusst habe, dass sie existieren. Selten besuche ich Bad Salzdetfurth oder Bramsche. Die Pamir-Hochstraße dagegen verfolge ich stundenlang, bis nach Afghanistan scrolle ich mich. Virtuell dort zu sein, wo ich körperlich vielleicht nie sein werde, beruhigt mich. Die Welt ist groß, manchmal macht mir die Vorstellung Angst, dass ich bis zum Ende meines Lebens nur Ausschnitte kennenlernen werde.

Dass die Welt, die ich bei Maps entdecke, auch nur ein kleines bisschen was mit der echten Welt zu tun hat? Glaube ich nicht. Neulich sah ich mir den Dokumentarfilm „Weit. Die Geschichte von einem Weg um die Welt“ an. Darin reist ein deutsches Paar auf dem Landweg nach Osten, in Japan nehmen sie ein Containerschiff nach Mexiko, bekommen dort einen Sohn und reisen mit ihm durch Südamerika, bis sie schließlich dreieinhalb Jahre später zurück nach Europa fahren. Gwenn Weiser, die Reisende im Film, sagt: „Ich weiß, was ein Elefant ist, und ich weiß es doch nicht. Das wird mir klar, als ich zum ersten Mal einen berühre. Ich vergesse alles, was ich davor zu wissen geglaubt habe. Und so ist es ungefähr mit der Welt. Die Fantasie geht, und die Erfahrung kommt.“

Gerade überlege ich, wohin ich als Erstes reise, wenn der Arzt es wieder erlaubt. Das Pamir-Gebirge, Nunavut, Samarkand? Andererseits: Die Flüge dorthin sind teuer, der Weg weit, die Fantasie danach tot. Vielleicht möchte ich diese Orte noch nicht der Erfahrung opfern. Vielleicht fahre ich erst einmal nach Bramsche.

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