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Lesen kann man überall.

© imago/Rolf Zöllner

Reiseliteratur: In die Ferne lesen

Den S-Bahn-Ring verlassen? Zu gefährlich. Diese Bücher tragen einen bequem durch fremde Länder. Teil Eins der Serie unserer liebsten Reiseliteratur: Europa.

THE VENETIAN EMPIRE, JENS MORRIS

Die Republik Venedig gehörte zu den eigentümlichsten Kolonialmächten der europäischen Geschichte – und ist heute eigentümlich vergessen. Reich wurde die „Serenissima Repubblica di San Marco“, die vom siebten bis zum Ende des 18. Jahrhunderts bestand, als Umschlagplatz zwischen Ost und West, mächtig wurde sie dank geschickter Diplomatie und einer schlagkräftigen Flotte. Entlang ihrer Handelsrouten eroberten die Venezianer einen Flickenteppich an Besitzungen, an der Adriaküste und weiter von den griechischen Inseln über Zypern bis zur Krim.

Jan Morris ist diesem untergegangenen Imperium auf seinen Seewegen nachgereist – und lässt es wieder aufleben. Ihr schmales Buch „The Venetian Empire“ ist eine wunderbare Einführung in die Geschichte der Serenissima. Elegant verwebt die britische Autorin darin Gegenwart und Vergangenheit. So nähert sie sich zum Beispiel dem Istanbul von heute, blickt auf die Kuppeln seiner Moscheen und auf das chaotische, betonierte Durcheinander drumherum, um dann gedanklich zurückzureisen in die Zeit des Vierten Kreuzzugs (1202-04), als die Venezianer an der Eroberung und Plünderung des damaligen Konstantinopel beteiligt waren (in dem übrigens ziemlich viele venezianische Händler lebten). Weiter geht es nach Chalkida, Zypern und Dalmatien. Den Charakter Kretas fängt Morris mit wenigen Sätzen ein, beschreibt die Schluchten, die die Insel prägen und das Schattenspiel in den Bergen: Die Insel sei „nicht sehr groß ... aber ihre Ausstrahlung ist gewaltig“.

Morris’ Buch stammt aus dem Jahr 1980, die deutsche Übersetzung unter dem Titel „Großmacht Venedig. Eine Seereise durch die Geschichte“ kann man nur noch antiquarisch kaufen.

Jan Morris kam als James Morris auf die Welt. Der Mann, der schon als junger Soldat und Reporter die halbe Welt sah, lebt heute als 90-jährige Lady in Wales, hat auch über Spanien, Hongkong, Südafrika geschrieben. Dass sie zu den größten zeitgenössischen Reiseschriftstellern ihrer Heimat gezählt wird, gefällt ihr dennoch nicht. Morris sieht sich als „writer about places“. Genau das zeichnet sie aus.

Corto Maltese wacht halb erfroren auf einem Feld in England auf

The Venetian Empire. Jan Morris, Penguin, 208 Seiten, 12,49 Euro.
The Venetian Empire. Jan Morris, Penguin, 208 Seiten, 12,49 Euro.

© Cover: promo

CORTO MALTESE - DIE KELTEN, HUGO PRATT

Glaubt man dem französischen Autor Guy Debord, ist die Kunst des Reisens ganz einfach zu erlernen. Schließlich gehe es im Kern nur darum, zu vergessen, warum man wohin unterwegs war.

Zu den wahren Meistern auf diesem Gebiet muss der Seemann Corto Maltese gezählt werden, dessen Abenteuer der Italiener Hugo Pratt zwischen 1967 und 1989 in Wort und Bild fabulierte. Das mit dem Vergessen geht so weit, dass Maltese in der Geschichte „Ein Wintermorgentraum“ einmal halb erfroren auf einem Feld in England aufwacht und sich fragt: „Stonehenge? Was habe ich in Stonehenge verloren?“ Eine Frage, die heutzutage viel zu selten gestellt wird – in Zeiten, in denen es eigentlich egal ist, welche Stadt gerade den Hintergrund für das Selfie abgibt und Unterwegssein primär aus der Beschäftigung mit Bordingzeiten, Bewertungsportalen oder offline zu benutzenden Navigationsapps besteht, statt mit den Eindrücken, denen man sich aussetzt.

Corto Maltese ist der Gegenentwurf, ein Flaneur, dem seine Stadt zu klein wurde. Nachdem sein Erfinder ihn durch die Südsee, Lateinamerika und die Karibik hat treiben lassen, verschlägt es ihn in dem Band „Die Kelten“, in dem auch die eingangs erwähnte Kurzgeschichte zu finden ist, nach Europa, genauer gesagt Venedig, Nordfrankreich, Südengland, Dublin. Der Erste Weltkrieg tobt, Maltese balanciert zwischen den Fronten, der Leser begegnet Hemingway und Richthofen, der IRA und deutschen U-Booten, aber das ist stets nur die Bühne, auf der das eigentliche Thema verhandelt wird. „Corto Maltese“-Geschichten erzählen im Kern vom Fernweh. Halb wirkliche Welt, halb Wunschtraum sind sie nicht unähnlich den Werken von Conrad, Melville, Karl May. Oder in den Worten von Umberto Eco: „Pratt macht aus seiner Sehnsucht Literatur und aus unserer Sehnsucht das Thema einer Abenteuergeschichte.“

Sie zu lesen stärkt den Glauben, dass es noch eine Welt zu entdecken gibt hinter der, die wir auf Google Street View sehen können. Pratt liefert eine Anleitung, Reisen wieder als Erfahrung zu betrachten, nicht als Event und die uns warnt, nie zu lange an einem Ort zu verharren: „Diese Stadt ist zu schön, ich würde ihrem Zauber verfallen und träge werden“, sagt Corto Maltese an einer Stelle. „Venedig wäre mein Ende.“ Dann geht sein Schiff. Mal sehen, wohin es uns trägt.

Fermor hatte wenig zu verlieren, aber eine Welt zu gewinnen

Corto Maltese. Hugo Pratt, Schreiber & Leser, 143 Seiten, 29,80 Euro.
Corto Maltese. Hugo Pratt, Schreiber & Leser, 143 Seiten, 29,80 Euro.

© Cover: promo

DIE ZET DER GABEN, PATRICK LEIGH FERMOR

Die Reise begann, als er 18 war, und für seine Leser blieb sie unvollendet, da Sir Patrick Leigh Fermor 2011 im Alter von 96 Jahren starb. Nur als Fragment erschien kurz nach seinem Tod „Die unterbrochene Reise“, das letzte von insgesamt drei Büchern, in denen der Brite seine Wanderungen im Europa der Vorkriegszeit schilderte. Auch die ersten beiden Teile brachte Fermor lange nach der eigentlichen Reise zu Papier, und genau das macht „Die Zeit der Gaben“ (1977) und „Zwischen Wäldern und Wasser“ (1986) so reizvoll: Was er mit dem Erlebnishunger des noch ganz jungen Mannes aufsog und jahrzehntelang im Herzen bewegte, schrieb Fermor als gereifter Autor in einer stilistischen Meisterschaft nieder, die ihn zum Genreklassiker des britischen „travel writing“ machte.

Mit 18 bestieg Fermor 1933 ein Schiff nach Holland, um quer durch Europa bis nach Konstantinopel zu wandern, und sein Rucksack enthielt nicht viel mehr als ein paar Notizbücher und einen Band Horaz. Kurz zuvor war er von der Schule geflogen, sein letztes Zeugnis charakterisierte ihn als eine „gefährliche Mischung aus Fein- und Leichtsinn“. Ideale Reisebedingungen also: Fermor hatte wenig zu verlieren, aber eine Welt zu gewinnen. Eine Welt zudem, die bald im Feuersturm des Zweiten Weltkriegs untergehen würde, weshalb der Kontinent, den Fermor beschreibt, aus heutiger Sicht wie ein verlorenes Märchenreich wirkt. Insbesondere Deutschland ist in seiner Schilderung kaum wiederzuerkennen. Studenten schmettern hier in dunklen Bierkellern romantische Lieder, empfindsame Aristokraten deklamieren die Dichtung des klassischen Altertums, und hinter jedem dichten Eichenwald taucht ein neues Märchenschloss auf, in dem der junge Wanderer Obdach, Gespräch und Gesellschaft findet. Dass Hitler seit einem Jahr an der Macht ist, wird gelegentlich spürbar, aber noch ist das wundersame Provinzreich jener Jahre eine aus heutiger Sicht so gänzlich fremde Welt, dass deutsche Leser „Die Zeit der Gaben“ nur mit ungläubigem Staunen lesen können.

Büscher ist von Berlin nach Moskau gelaufen

Die Zeit der Gaben. Patrick Leigh Fermor, S. Fischer Verlage, 419 Seiten. 9,95 Euro.
Die Zeit der Gaben. Patrick Leigh Fermor, S. Fischer Verlage, 419 Seiten. 9,95 Euro.

© Cover: promo

BERLIN - MOSKAU, WOLFGANG BÜSCHER

Wer geht, kommt voran. Und kommt weiter. Viel weiter, als man mit Auto, Schiff, Zug oder Flugzeug käme. Wer geht, sieht mehr, und weil die Qual des Gehens verdrängt wird durch die Entdeckung der Langsamkeit, ist die Qual keine Qual mehr, sondern Stolz.

Vor ein paar Jahren ist Wolfgang Büscher an einem frühen Sommermorgen losgegangen, von Berlin aus, „so geradeaus wie möglich nach Osten.“ Nach 2500 Kilometern, hat er angehalten. Man darf wohl sagen, dass einer, der 2500 Kilometer am Stück zu Fuß geht durch Europa eine Menge Europa gesehen hat. Von den vielen Besonderheiten, die dieses Buch ausmachen, ist die erste die Route. Nach Süden, der Sonne, der Wärme, dem Licht und dem Lachen entgegen gehen, kann jeder. Aber Büscher ist von Berlin nach Moskau gelaufen. In etwa den Weg, den Deutsche ein paar Jahrzehnte zuvor in Scharen marodierend und mordend durchpflügt haben: die Heeresgruppe Mitte. Ein Canossa-Gang also, diese Wanderung Büschers, ein Bußgang für das Verzeihen, für die Wiedergutmachung? Nein, eher nicht, auch wenn Büscher seinem toten Großvater auf seiner Reise begegnet, über ihn geht, durch ihn hindurch, auch wenn er – was nicht anders sein kann, wenn man durch Polen, Weißrusssland und Russland vor Moskau läuft – auch die Vergangenheit einholt und nacherzählt. Aber das kommt nicht volksschulmäßig, nicht missionarisch, nicht schuldbeladen daher, sondern im Wortes- und bestem Sinne fabelhaft. Der Bericht hat, außer einem erfüllten literarischen, keinen Anspruch. Die Motivation dieser gewaltigen Tortur ist die Reise selbst, ist das Erleben, sind die Begegnungen und Empfindungen. Damit steht es dann gleichberechtigt etwa neben Michael Holzachs „Deutschland umsonst“ oder Bruce Chatwins „Traumpfade“ als Klassiker der Reiseliteratur.

Wir sind ja zurzeit berechtigterweise nicht sonderlich gut zu sprechen auf Russland. Schon klar, dass es noch mehr gibt als Putin im Osten. Büscher hat das andere durchlaufen. Und wir können mitgehen.

Ein Engländer fährt mit der Eisenbahn durch Italien

Berlin - Moskau. Wolfgang Büscher, Rowohlt Verlag, 237 Seiten, 9,99 Euro.
Berlin - Moskau. Wolfgang Büscher, Rowohlt Verlag, 237 Seiten, 9,99 Euro.

© Cover: promo

ITALIEN IN VOLLEN ZÜGEN, TIM PARKS

Ein echter Italienliebhaber nimmt den Zug. Das behauptet jedenfalls Tim Parks. Denn nur so sehe der Reisende auch die letzten Winkel des Landes.

Der englische Schriftsteller fährt seit Jahren mit der Eisenbahn durch seine Wahlheimat, er ist nicht nur ein Experte, welcher Zug wann am besten ist, welcher Stand am Mailänder Bahnhof die leckerste Piadana hat, nein, er ist ein leidenschaftlicher Schienen-Fan. Seitdem ihn ein Interrail-Ticket 1974 zum ersten Mal ins Land gebracht hat, lässt ihn trenitalia nicht los. Und so sind seine Waggon-und-Schalter-Erinnerungen nichts weniger als eine Gesellschaftsstudie.

Parks porträtiert das Land über die Begegnungen mit Schaffnern und Passagieren, pignoli, die pingelig auf das Gesetz pochen, und furbi, die schlau jede Regelung interpretieren. Gern hätte er manchmal mehr Muße im Abteil zum Hinaussehen und Lesen. Doch wie soll man das einer mobilfunkabhängigen Gesellschaft erklären, die Pläne für Ruheabteile mit dem Argument abwehrt: „Was ist, wenn ich im Ruhewaggon sitze und mein Telefon klingelt?“

Ein schön altmodischer Bericht, der nur manchmal übertreibt, wenn Tim Parks jede kleine Verspätung zum großen Italienbild aufbauscht.

Italien in vollen Zügen. Tim Parks, Verlag Antje Kunstmann, 336 Seiten, 19,95 Euro.
Italien in vollen Zügen. Tim Parks, Verlag Antje Kunstmann, 336 Seiten, 19,95 Euro.

© Cover: promo

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